Kategorien
Tagesmail

nichtsdesto-Trotz XVII

Tagesmail vom 14.05.2021

nichtsdesto-Trotz XVII,

„Ich habe wiederholt zum Ausdruck gebracht und sage es auch hier: Deutschland tritt entschieden für die Vision von zwei Staaten in sicheren Grenzen und in Frieden ein, für das jüdische Volk in Israel und das palästinensische in Palästina. Ich weiß sehr wohl: Sie brauchen keine ungebetenen Ratschläge von außen und schon gar nicht von oben herab. Für mich steht außer Frage: Israel und Deutschland, Israel und Europa sind solche Partner. Verbunden durch gemeinsame Werte, verbunden durch gemeinsame Herausforderungen und verbunden durch gemeinsame Interessen. Der Zivilisationsbruch durch die Shoah ist beispiellos.“ [Merkel vor der Knesset] (WELT.de)

Wo ist Merkels Vision von den zwei Staaten geblieben?

Haben Deutschland und die Netanjahu-Regierung gemeinsame Werte, wenn letztere unerbittlich gegen Menschen- und Völkerrechte verstößt?

Hat die Täternation auch in diesem Fall die Pflicht, solidarisch an der Seite Israels zu stehen?

Unbedingt – aber nicht bedingungslos. Solidarität stellt Bedingungen, die für alle Demokratien gelten: die bedingungslose Anerkennung der UN-Charta:

„Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren …“ (Präambel der UN-Charta)

Verstößt ein verbündeter Staat gegen diese zeitlosen Grundsätze: muss er dann nicht in unmissverständlicher Klarheit und freundschaftlicher Verbundenheit auf diese Mängel hingewiesen werden? Gehört gegenseitige Kritik nicht zum humanen Repertoire jeder Demokratie?

Was hingegen bedeuten die Sätze: „Sie brauchen keine ungebetenen Ratschläge von außen und schon gar nicht von oben herab?“

Kritik kommt weder von Oben noch von Unten. Sie ist kein Bündel ungebetener Ratschläge, sondern notwendiger Bestandteil jeder Beziehung, die sich der Humanität verpflichtet fühlt.

War die Shoa ein Zivilisationsbruch? Ein Bruch mit der Aufklärungskultur der westlichen Nachbarstaaten Deutschlands allemal. Kein Bruch aber mit der deutschen Entwicklung, die das Böse als Ferment des Fortschritts der deutschen Nation anbetete. Für sie war Shoa die satanisch-triumphale Vollendung dieser Entwicklung. Alles Leben, das den Herren der Welt als vernichtungswert galt, musste vernichtet werden.

Nietzsche war die Krönung dieser Idolisierung des Inhumanen:

„Die Grausamkeit gehört zu den höchsten Festfreuden der Menschheit.“ „Wer ein Schöpfer sein muß im Guten und Bösen: wahrlich, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. Also gehört das höchste Böse zur höchsten Güte: diese aber ist die schöpferische.“ „Unsere ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los.“ (Nietzsche)

Merkels Rede war ein Verrat an Grund-Prinzipien der Demokratie, eine gefühllose Nichtbeachtung inner-israelischer Probleme – und ein Akt blinder Unterwerfung. Vor allem war sie ein Schlag gegen alle Lehren, die aus dem Holocaust folgen sollten:

„Israel behauptet stets, es handle im Namen aller Juden auf der ganzen Welt, und nutzt das moralische Erbe des Holocaust aus, um seine Verbrechen zu rechtfertigen. Israels Eliten (und ihren Parteigängern in den USA) ist an der Darstellung, die Palästinenser seien von grundlosem und unauslöschlichem Antisemitismus getrieben, sehr gelegen. Die Palästinenser haben das Recht, gewaltsam Widerstand gegen israelische Soldaten und Siedler zu leisten.“ (Norman G. Finkelstein, „Palästina“)

Israelkritische Stimmen wie die von Finkelstein (und vielen anderen) sind aus der deutschen Öffentlichkeit verbannt. In der momentanen Debatte kommt keine einzige Stimme dieser „Selbsthasser“ zu Wort.

Die Bigotterie der offiziellen Israelpolitik duldet keine kritischen Juden. Wie gnädig sich die deutschen Eliten herunterbeugen auf den neuen Staat der Juden, um sich des moralisch minderwertigen Imperialismus zu erbarmen! Mit Moral sollte man doch nicht übertreiben! Also kam es zum großen Ablasshandel mit dem apokryphen Deal: Billigung der Menschenrechtsverbrechen gegen Nachlass der Holocaustschuld. Welche Gazetten attackieren am heftigsten die erbärmliche Amoral der Israelkritiker? Die Springerpresse, die sonst jede moralische Haltung verhöhnt und verspottet.

Die Lehre lautet: Nie wieder Holocaust. Mit welchen Mitteln? Mit strikter Einhaltung der Menschen- und Völkerrechte.

Die gesamte deutsche Politik hat diesen zeitlosen Standard entweder nicht verstanden – oder sie verstößt gegen ihn in schamloser Weise.

Unterstützt wird die Regierung von einem Großteil der Presse unter der lärmenden Führung des Springerverlags und ihres Chefs Mathias Döpfner, der zugleich die Nummer Eins des deutschen Journalismus ist.

Er lässt es zu und fördert es, dass BILD in trumpartigen Attacken alles niedermacht, was nicht der allerheiligsten Linie des Verlages entspricht. Döpfner umgibt sich gern mit der Aura erfolgreicher Genies aus Silicon Valley, die absurde technische Visionen entwerfen, um ihre geplante Flucht ins Universum zu rechtfertigen – und die Erde in ihren überbordenden Problemen verkommen zu lassen..

Hier wäre Helmut Schmidts Spott am Platz: Hast du eine Mars-Vision, geh zum Arzt und lass dich therapieren.

Mit Menschenrechtlern, Ökologen, Vertretern unterdrückter Minderheiten, Kämpfern gegen Tyrannen auf aller Welt: mit solchen Gutmenschen gibt sich ein Medienführer nicht ab, der sich mit keiner Sache gemein macht – außer mit einer lebensfeindlichen, die sich als Spitze des Fortschritts darstellt.

Döpfner will das untadelige Vorbild aller deutschen Edelschreiber sein:

„Das Prinzip „Audiatur et altera pars“ ist nicht veraltet. Es ist und bleibt die Grundlage unserer Glaubwürdigkeit.“ (WELT.de)

Audiatur et altera pars: auch die andere Seite muss gehört werden. Eine oberste Norm jeder Stellungnahme, die, nein, nicht unparteiisch, aber objektiv sein will.

BILD verstößt permanent gegen diesen Grundsatz. Die palästinensische Seite kommt nicht zu Wort, ihre Gründe zum militanten Widerstand bleiben im Dunkeln, ja es gibt überhaupt keine Gründe. Nur die Opferseite der Israelis wird beschrieben, ihre militärische Überlegenheit bewundert, die desolate Realität der palästinensischen Bevölkerung negiert.

Die seit Jahrzehnten unterdrückten Palästinenser werden zu Untermenschen degradiert. Ursachenlos werden sie zu Terroristen erklärt. Aussichtslos wehren sie sich gegen den nie endenden Landraub der übermächtigen Nachbarn, chancenlos bemühen sie sich um Unterstützung der Welt.

Das ganze heilige Land gehöre seit Urzeiten den Juden, behaupten die Ultraorthodoxen, was man im Alten Testament nachlesen könne. Die Juden holten sich nur zurück, was böse Heiden ihnen weggenommen hätten.

Diese Logik entspräche den Forderungen amerikanischer Ureinwohner, sich den ganzen Kontinent wieder zurückholen zu wollen, den die weißen Imperialisten unrechtmäßig geraubt hätten.

Wenn Israel heute Araber aus ihren Wohnungen in Ost-Jerusalem vertriebe, behauptet die WELT, würden die Juden sich nur zurückholen, was ihnen laut Jahwe schon immer zugestanden hätte. Vor Gott und Posener sind 1000 Jahre wie ein Tag.

Was sich nach Vertreibung der Juden aus dem heiligen Land durch die Römer getan hat, scheint nicht existent zu sein. Wenn wenige Juden während der ganzen Interimszeit anwesend waren, so muss das als Zeichen des Himmels gewertet werden, dass Jerusalem immer in Händen der Juden war. Jetzt fordern sie zurück, was in Gottes Grundbüchern als ihr Eigentum verzeichnet war.

„Seit 2000 Jahren lebten Juden im Stadtteil Schimon HaTzadik. Ende des 19. Jahrhunderts, als Jerusalem zum Osmanischen Reich gehörte und die Bevölkerungsmehrheit jüdisch war, siedelten hier viele jemenitische Juden. Als Palästina nach 1918 einen Aufschwung erlebte, setzte eine starke arabische Zuwanderung ein. Aufgestachelt vom Hitler-Anhänger und Großmufti al-Husseini, griffen zwischen 1936 und 1939 Araber aus dem benachbarten Stadtteil Scheich Dscharrah die Juden in Schimon HaTzadik an.“ (WELT.de)

 Wiki muss außer Rand und Band sein, dass es die Geschichte ganz anders sieht:

„Im Zuge der islamischen Expansion geriet das Gebiet 636 unter arabische Herrschaft. Seit dieser Zeit wurde Palästina mehrheitlich von Arabern bewohnt. Die Kreuzfahrer beherrschten von 1099 bis 1291 das von ihnen so bezeichnete „Lateinische Königreich Jerusalem“. Es folgten die Mamluken von 1291 bis 1517 und dann die osmanische Herrschaft von 1517 bis 1918.“ (Wikipedia.org)

Tatsachen hin oder her: die Palästinenser sind an allem schuld. Kant würde sagen: a priori.

„Die Aggression in der jüngsten Runde des Nahostkonflikts ging von der Hamas aus – nicht von Israel. Was das für die Palästinenser bedeutet, ist den Islamisten egal.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Nun wird klar, warum die deutsche Presse die Kategorie Schuld grundsätzlich abschaffen will. Nicht nur, um die lästige Kritik der Demonstranten an der Regierung zu verleumden, sondern um die Sieger der Geschichte rein und schuldlos zu erhalten.

Das betrifft nicht nur Israel, das betrifft alle Erfolgreichen dieser Welt, die die Schwachen und Armen benötigen, um alle Missgeschicke des Systems auf sie abzuwälzen. Als Gerhard Schröder das Hartz4-System einführte, attackierte er die Armen, sie seien selbst schuld an ihrer prekären Lage. Seit Einführung des Frühkapitalismus gehörte es zur Doktrin der Reichen, den Armen alle Schuld an ihrem Zustand selbst zuzuweisen.

Man kann den ganzen Komplex auch anders sehen:

„Auch aus Ramla, Jaffa, Akko und Nazareth werden gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern gemeldet. Beide Seiten sind, wohlgemerkt, Israelis. Das einigermaßen friedliche Zusammenleben droht gerade zu kippen. Das ist nicht zuletzt der in den vergangenen Jahren immer rassistischeren, antiarabischen Politik und Propaganda des Premiers und seiner Partner zu verdanken. Doch sollte Lapid scheitern, dürfte es wohl mit ziemlicher Sicherheit zu einer fünften Wahl innerhalb von zweieinhalb Jahren kommen. Und dann könnte sich Netanjahu möglicherweise als Retter der Nation präsentieren, wenn er in diesem nun begonnenen kriegerischen Konflikt der Hamas tatsächlich „eine Lektion“ erteilen kann, wie er es verspricht. Israel ist mit seiner politischen Weisheit, was Gaza betrifft, längst am Ende. Beide Seiten würden dann erst einmal wieder aufrüsten, vor allem die Hamas. Die Menschen in Gaza müssten weiter leiden und darben. Und irgendwann gäbe es die nächste Runde in dieser ewigen Konfrontation. So viel ist klar: Solange Netanjahu an der Macht bleibt, wird sich dieses Szenario kaum verändern. Er hat im vergangenen Jahrzehnt bewiesen, dass er lediglich daran interessiert ist, die Situation zu managen – nicht daran, sie zu lösen oder es wenigstens zu versuchen.“ (ZEIT.de)

Warum auch sind Palästinenser keine Pazifisten, fragen deutsche Bellizisten? Das wäre doch das Mindeste, was man von Losern erwarten könnte – oddr? Die angestaute Wut der Unterdrückten wollen freie Deutsche nicht verstehen. Was nicht bedeuten muss, dass man Gewalt billigt.

„Nach internationalem Recht dürfen keine Menschen aus besetzten Gebieten zwangsumgesiedelt werden. Einzelne Palästinenser hatten davor bereits orthodoxe Juden in Jerusalem angegriffen, als eine Gruppe rechtsextremer Israelis durch Ostjerusalem marschierte und »Tod den Arabern« skandierte. Auch Zugangsbeschränkungen zum Gelände der Aksa-Moschee während des Ramadan trugen zum Zorn der Palästinenser bei. Für weiteren Unmut sorgen die wirtschaftlichen Folgen der Coronapandemie und die Absage palästinensischer Wahlen durch Präsident Mahmoud Abbas, der seit 15 Jahren an seinem Amt festhält.“ (SPIEGEL.de)

Der FREITAG gehört zu den wenigen Gazetten, die sich ihre faktengestützte Schuldzuweisung an die Besatzer nicht nehmen lassen:

„Die deutsche Außenpolitik hat weitgehend widerspruchslos hingenommen, was Israel an völkerrechtswidriger Politik betreibt, vom täglichen Siedlungsbau bis zu den ebenfalls täglichen Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten. Wie sehr hätte das unter anderen Vorzeichen und andernorts für eine resolute Sanktionspolitik gesorgt. Wenn Außenminister Maas die Hamas für Raketenangriffe und die dabei verursachten zivilen Opfer verurteilt, fehlt das adäquate Verdikt gegenüber Israel. Bei grünen Spitzenpolitikern übrigens auch.“ (der-Freitag.de)

Der Schuldkomplex der Deutschen kostümiert seinen ganz und gar nicht bewältigten Antisemitismus als fanatischen Philosemitismus. Es handelt sich um einen paradox larvierten Judenhass – der von seinen religiösen Wurzeln nichts wissen will. Da Religion hierzulande nicht kritisiert werden darf, kann die Ursache des Antisemitismus nicht bearbeitet werden.

Indirekt werden die Juden von BILD mit abstoßenden Charaktereigenschaften dargestellt. Wer solch eine abstoßende Politik betreibt, muss selbst abstoßend sein. Es war ein israelischer Psychoanalytiker, der den Verdacht äußerte, der Antisemitismus der deutschen Selbstgerechten habe sich als Philosemitismus getarnt. Scheinbar schuldlos könnten sie die Sünden der Juden dämonisieren und ihre Hände dennoch in Unschuld waschen.

Welche suggestiven Assoziationsketten werden stimuliert?

Juden haben immer Recht, geben sich als Auserwählte Gottes, treten auf wie die Erlöser der Welt, sind genial wie Einstein und können sich alle Verletzungen der Menschenrechte erlauben, weil sie Gottes Recht auf ihrer Seite wissen.

Die deutsche Bekämpfung des Antisemitismus ist längst zur Farce geworden. Mangels inhaltlicher Analysen begnügt man sich der Feststellung: Antisemitismus liegt vor, wenn es zu gewalttätigen Aktionen kommt. Dann dürfen Entsetzen und Empörung geäußert werden. Die Bekämpfung des Antisemitismus wird zur polizeilichen Maßnahme. Die sublime Entstehung der Judenfeindschaft in christlichen Köpfen spielt keine Rolle mehr. Für geistige Dinge sind unsere Mächtigen nicht mehr zu haben. Mit ihren Reaktionen warten sie, bis sie legitim schäumen dürfen. Ursachenanalysen, prophylaktische Maßnahmen zur Verhinderung des Judenhasses? Alles Fehlanzeige!

In den TV-Nachrichten wurden gewalttätige Aktionen vor Synagogen gezeigt. Kam ein Experte, der mit untrüglicher Ferndiagnose konstatierte: das war keine Kritik an der israelischen Politik, das war Judenhass par excellence.

Theoretisch nicht ganz ausgeschlossen, doch wo blieben die konkreten Beweise? Was möglich ist, muss nicht wirklich sein. Da niemand weiß, wonach gesucht wird, muss der Verdacht genügen. Mittlerweilen ist die vollständige Verwandlung legitimer Kritik an der israelischen Politik in fluchwürdigen Antisemitismus geglückt. Netanjahu kann aufatmen.

Vor kurzer Zeit unterschied man noch zwischen einem traditionell-religiösen Antisemitismus und übermäßiger Kritik an der israelischen Politik. Inzwischen hat man die Religion ausgeschlossen. Übrig geblieben ist die Kritik an Jerusalem, die skrupellos als zeitgemäßer Antisemitismus diskreditiert werden darf..

Diagnosen per „antisemitisch konnotierter Wortassoziationsketten“ werden immer jesuitischer. Wer von Globalismus redet anstatt von Globalisierung, ist bereits verdächtig. Wer Beifall erhält von dubiosen Gruppen, ist schon überführt. Große Politiker indes halten sich mit solchem Kleinkram nicht auf. Sie donnern mit lutherischer Verdammungsstimme: Schluss mit … Mehr als polizeiliche Maßnahmen und Gesetzesverschärfung fallen ihnen nicht ein. Zur psychischen Entstehung der christlichen Seuche haben sie nichts beizutragen.

Die Gründe dieser Blindheit in der Politik und bei den Medien liegen auf der Hand:

a) Vergangenheit als Sphäre der Erinnerung wird gelöscht. Kein Edelschreiber weiß, was er gestern schrieb. Seine Spürnase dient nur dazu, die neuesten Zeitgeist-Begriffe zu erschnuppern. Medien beteiligen sich nicht an der Erfassung der Vergangenheit. Gegenwart ist für sie nicht das Endprodukt historischen Gewordenseins.

b) Philosophie als Werkstatt autonomen Denkens ist out. Was nicht gemessen und gezählt werden kann, ist Mystik von Eigenbrötlern und Querulanten. Endlich wird man die ewigen Nörgler los, wenn man sie zu Querdenkern degradieren kann. Echte Untertanen hingegen erkennt man an ihrem geschmeidigen Buckel.

Israel ist kaum noch handlungsfähig. Regierungsbildungen nach Wahlen missglücken, Netanjahu bleibt. In welchen mentalen Nöten die junge Demokratie steckt, wird von hiesigen Freunden des Landes nicht zur Kenntnis genommen.

Israelische Kritiker der zunehmenden religiösen Infizierung und Verrohung ihres Landes fühlen sich von Deutschland im Stich gelassen. Das interessiert weder Döpfner noch Reichelt. Sind denn jüdische Selbsthasser etwas anderes als verkappte Antisemiten?

Hier bahnt sich eine Tragödie an. Und wieder machen sich die Deutschen schuldig – diesmal mit reinem Gewissen. Sie haben alles getan, um das Land zu unterstützen. Der Rest liegt in Gottes Hand.

Zum guten Schluss lauter Zitate, aufgereiht an einem unsichtbaren roten Faden:

„Ich glaube, es braucht in Europa keinen Kurs, der Israel blind verteidigt und alles liebt, was es tut. Man sollte Israel als Land behandeln, das bewahrt werden muss, aber das auch Demokratie umsetzt – und das bedeutet volle Gleichberechtigung für alle, die im selben Gebiet leben.“
[Omri Boehm] (SPIEGEL.de)

„Erlittenes Unrecht kann für die Nachfolger der einst Verfolgten und Ermordeten kein Freibrief sein, andere Gesellschaften zu zerstören.“
[Alfred Grosser]

„Wann hat sich die BILD-Zeitung je darin hervorgetan, die Politik Israels zu kritisieren? Die mehr als 50 Jahre währende Besatzung mit all ihren menschen- und völkerrechtswidrigen Übertretungen und brutalen Verbrechen? Es gibt keinen neuen Antisemitismus. Es ist der alte, der Bodensatz in der Gesellschaft. Es ist in diesem Buch bereits die Rede davon gewesen, dass das heutige Israel nicht als Demokratie angesehen werden kann. Seit vielen Jahrzehnten ist keine israelische Regierungskoalition zustande gekommen, die einen ernst gemeinten Durchbruch im Teufelskreis des israelisch-palästinensischen Konflikts anvisiert hätte. Sollte sich etwa die abstrakte Solidarität mit einem völkerrechtlich-verkommenen und verbrecherischen Israel als eine psycho-ideologisch motivierte Entlastung der historischen Schuld der Deutschen erweisen?“
[Moshe Zuckermann]

„An die Stelle jüdischer Ohnmacht ist die jüdische Macht getreten. Da wir Juden kaum über unsere neue Macht reden, wird uns nicht bewusst, dass diese Macht auch missbraucht werden kann. Stattdessen reden wir uns ein, wir seien weiterhin die Opfer der Geschichte. Viele Herausforderungen, denen das Judentum sich heute stellen muss, entspringen nicht seiner Schwäche, sondern seiner Stärke. Amerikanische Juden neigen dazu, jegliche Kritik an Israel mit einem tief verwurzelten Hass auf die Juden zu erklären. Wenn die israelische Demokratie scheitert, scheitern alle Juden. Wo auch immer sie leben, sie werden ihr Leben damit verbringen, in den politischen, ethischen und theologischen Trümmern nach ihrer jüdischen Identität zu suchen.
[Peter Beinart]

„Ben Gurion: „Es spielt keine Rolle, was Nicht-Juden sagen; wichtig ist nur, was die Juden tun.“ Golda Meir ergänzte: „Grenzen verlaufen dort, wo Juden leben, nicht dort, wo es einen Strich auf der Landkarte gibt.“ Alle Juden, die es vorzogen zu schweigen, hatten an Israels Verbrechen passiven Anteil; denn ihr Schweigen führte dazu, dass Israel sich nicht zu rechtfertigen brauchte und als unanfechtbar galt.“
[in Norman G. Finkelstein: „Palästina“]

„Aus diesem Grund sollten wir der Tendenz widerstehen, Israel als einen gleichsam der Kritik enthobenen Staat zu behandeln, der nicht auf herkömmlicher, legitim zu hinterfragender und zu diskutierender Politik beruht, sondern auf einem quasi-sakralisierten Holocaust-Gedenken.“
[Omri Boehm]

„So lebe ich wie viele meiner Freunde zwischen der Hoffnung, dass Israel endlich der Stimme der Vernunft folgen wird – und der verzweifelten Feststellung, dass die nationalen Mythen schwer aus den Köpfen der Menschen herauszukriegen sind. Was aber sind diese Mythen, die das jüdische Volk charakterisieren? Der bedeutendste ist der vom auserwählten Volk.“
[Carlo Strenger]

Eindringliche, bittere Worte, die in Deutschland nicht gehört werden. In seinem verlogenen Philosemitismus lässt das einstige Volk der Täter die israelische Demokratie vor aller Augen verkümmern. Uri Avnery war einer der letzten Israelkritiker, die hier zu Worte kamen. Aber nur deshalb, weil er ein Schulfreund Rudolf Augsteins war.

Keine Kanzlerin vernimmt die Hilferufe eines Landes in höchsten Nöten. Die Intellektuellen schweigen, wie ihre Regierung schweigt. Nach Habermas sollte man sich als Deutscher nicht in inner-israelische Angelegenheiten einmischen. Welch aparte Selbstentmündigung in der Maske der Demut.

Sollen wir auf der Seite Israels stehen? Unbedingt – in kritischer Solidarität. Zugleich aber an der Seite der Palästinenser, die vor aller Welt ihrer Selbstbestimmung beraubt werden.

Es wäre dringend an der Zeit, dass Deutschlands Vergangenheitsbewältigung das unbestechliche Richtmaß universeller Rechte entdeckt. Um sich selbst zu überprüfen.

Der jüdische Aufklärer Moses Mendelssohn, ein Bewunderer des Sokrates, forderte in seinem Buch „Jerusalem oder religiöse Macht und Judentum“ „gleiche Grund- und Bürgerrechte für alle Menschen. Menschenrechte besitzen alle Menschen von Natur und Geburt aus. Sie werden nicht nach Belieben von der Obrigkeit verliehen oder entzogen. Sie sind unveränderlich, unverlierbar und unveräußerlich.“  (in C. Schulte, „Die jüdische Aufklärung“)

Fortsetzung folgt.