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nichtsdesto-TROTZ XV

Tagesmail vom 10.05.2021

nichtsdesto-TROTZ XV,

je dringender die realen Probleme, je mehr verlagert sich die Erregung auf die Sprache – die sich von den Realien abkoppelt. Ungeklärte Wörter und Begriffe schwimmen in den Alltagsreden wie Plastikmassen in den Meeren, an denen die Fische krepieren.

Die Dinge zur Sprache bringen? War einmal.

Die Realität zum Reden zu bringen? Vorbei.

Die Abendländer beweisen ihre Gottähnlichkeit durch endlose Verwirrung der Sprache:

„Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“

Teile und herrsche. Der Allmächtige hat es nötig, seine Geschöpfe durch viele Sprachen zu verwirren, gegeneinander aufzuhetzen und über die ganze Erde zu zerstreuen.

Das gelingt ihm immer besser, je dringender die Menschen es nötig hätten, sich zu verständigen, um gemeinsam ihre Probleme zu lösen.

Die Verwirrung der Sprache wird überwunden durch die allesverstehende Erleuchtungssprache des Heiligen Geistes an Pfingsten, die nur Gläubigen zuteil wird:

„Sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.“

Wie klingt es, wenn Menschen sich verstehen? Als ob sie besoffen wären. Nüchtern sein, heißt, Andern zu misstrauen und aneinander vorbei zu reden.

Griechen brauchten keine Götter, um ins Gespräch zu kommen. Im Gegensatz zu Heraklit und den Pythagoräern waren sprachliche Bezeichnungen für Demokrit nicht naturnotwendig, sondern konventionell. Dennoch waren Menschen fähig, sich mit dieser konventionellen Sprache zu verständigen und in einen klärenden Dialog zu kommen.

Der Dialog konnte die subjektiven Unterschiede der Begriffe durch Erinnerung an eine gemeinsame Ursprache erforschen und beseitigen, die Meinungsverschiedenheiten durch Argumente überwinden. Voraussetzung war der Glaube an eine gemeinsame, von der Natur gegebene Vernunft.

Heute sind das alles Träumereien. Gemeinsame Vernunft, objektive Wahrheit, überzeugende Argumente, logisches Denken: all das hat sich ins Gegenteil verkehrt. Jeder hat seine eigene Vernunft und Wahrheit, objektive Argumente gibt es nicht, Logik ist lächerliche Schulmeisterei, dialektische Vertuschung der Widersprüche garantiert todsicher Versöhnung und Harmonie.

Wer sich an diesem Kompromisstheater nicht beteiligt, wird aussortiert. Was die Ausgießung des Geistes für Fromme, ist die Dialektik für Philosophen, die zum Kompromiss-Kult der Deutschen wurde. Man ist sich einig, dass man Einigkeit der Sprache und Vernunft nicht benötigt, um an den Problemen der Welt – zu scheitern. Wie man keine Moral benötigt, um die Moral seiner Amoral als Überlegenheit zu propagieren. Wer die Welt in Hell und Dunkel einteilt, wird von denen ins Dunkel verstoßen, die diesen Unterschied für diabolisch halten.

Die deutsche Sprache ist eine Mischung aus griechischen und christlichen Elementen, die sich widersprechen, aber von der dialektischen Kompromisskunst zur Uniformität gezwungen werden.

Hell und Dunkel ist für die Ratio nichts anderes als Wahrheit und Irrtum, für die Frommen Göttliches und Satanisches.

Gut und Böse ist für die Ratio humane Moral und Moral der Machtgierigen, für die Frommen Gehorsam gegen Gott und satanische Verruchtheit.

Schuld ist für die Frommen eine angeborene Erbsünde, für die Weltlichen die Ursache einer fehlerhaften Tat.

Nie werden wir mit dieser babylonischen Sprachverwirrung Dialoge und Gespräche führen können. Wir müssen die beiden Sprachen separieren und ihre Eigenart herausarbeiten.

Die Sprache der Ratio ist übersetzbar in alle Sprachen dieser Welt, sie entspricht der gemeinsamen Vernunft aller Menschen. Die Sprache des Heiligen Geistes ist nur Erleuchteten zugänglich, sie trennt die Erwählten von den Verworfenen für immer.

Die postmoderne Leugnung der irdischen Wahrheit ist eine Bestätigung der himmlischen, die auf Erden keine autonome Wahrheit zulässt.

Postmoderne Denker kennen keine Logik, verabscheuen den dialogischen Wettbewerb im Suchen der Wahrheit und rümpfen die Nase über die Widerlegungskraft von Argumenten. Sie kennen nur subjektive Geschichten, die sie sich erzählen können, ohne sie letztlich zu verstehen. Denn verstehen setzt eine gemeinsame Wahrheit voraus.

Echte Gespräche dienen dem Erkenntnisgewinn. Der Zugewinn an Erkenntnis muss im Wettkampf der Geister erarbeitet werden. Das überlegene Argument siegt – vorläufig. Bis ein noch besseres erscheint, um es zu widerlegen. Bleibt dem Widerlegten nichts als die „Schande des Verlierers“?

„Der Poststrukturalist Roland Barthes wendet sich im Rahmen seiner Kritik am Logozentrismus auch gegen die sokratische Mäeutik; er sieht in der Vorgehensweise des Sokrates das Bestreben, »den anderen zur äußersten Schande zu treiben: sich zu widersprechen«.“

Was ist Logozentrismus?

„Der Begriff Logozentrismus wurde erstmals von Ludwig Klages gebildet, der damit die neuzeitliche Betonung der Rationalität als losgelöst von der Wirklichkeit des Lebens kritisierte und dieser Weltsicht ein „biozentrisches“ Konzept entgegenstellte, in dem das eigentliche Leben als Einheit von Körper und Seele betrachtet wird. Als Logozentrismus bezeichnen in der Folge vor allem poststrukturalistische Theorien die vernunftzentrierte Metaphysik und die abendländische Rationalität. Logozentrisches Denken wird hier als herrschender Diskurs bzw. als herrschende „Denkform“ betrachtet.“

Logozentrismus ist die polemische Formel gegen die „Herrschaft des Logos“ – oder die Dominanz der Aufklärung. Ludwig Klages gehört zu jener Linie der deutschen Philosophie, die ab Eckhart, dem mittelalterlichen Mystiker, über den Lausitzer Schuster Böhme, Görres, Hegel, Schelling, die Romantiker, Nietzsche, Klages bis zu den Philosophen des Dritten Reiches die „westliche“ und sokratische Vernunft vehement ablehnt und das rassische Leben der individuellen, nicht vergleichbaren Völker in irrationalen Formeln zu erfassen sucht.

Obgleich die Deutschen seit der Sturm und Drangbewegung das westliche Aufklärungsdenken ablehnten – und sehr wohl einen Sonderweg einschlugen (was heute bestritten wird, um das Unheil der Deutschen auf zwölf Jahre zu beschränken) –, kam es nach dem Krieg zu einer deutschen Bewunderung der französischen Postmoderne.

Die Nachkriegs-Franzosen widersetzten sich dem Geist ihrer frühen Aufklärer und degradierten alle Vernunfterklärungen zu „großen Erzählungen“. Jegliche Überprüfung anhand logischer Argumente lehnten sie ab. Eine „kaltherzige und arrogante“ Widerlegung der eigenen subjektiven Erzählung fanden sie unerträglich.

Beim Widersprechen ertappt zu werden, empfanden die Sensibelchen der unwiderlegbaren Erzählungen als Schande. Ein widerlegender Sokrates auf einem Pariser Marktplatz wäre für die französische Nachkriegszeit unerträglich gewesen.

Was war geschehen? Die theologische Verdammnis der gottlosen Vernunft übertrugen die Postmodernen auf die Streitkultur der weltlichen Philosophen. Wie es nach der Französischen Revolution eine abrupte Regression ins Katholische gab (de Maistre), so flüchteten die Vernunft-Gegner ins unfehlbar Subjektive, das sich von keinem „weltlichen Logos“ widerlegen ließ. Wer die Prüfinstanz der Vernunft ablehnt und sich vergräbt in der Unangreifbarkeit subjektiver Geschichten, ist zu einer paradoxen Form des Katholizismus zurückgekehrt.

Das Subjektive erhob sich zum Objektiven, das von niemandem widerlegt werden konnte. War es die „Schande“, während der deutschen Besatzung nicht in dem Maße Mitglieder der resistance gewesen zu sein, wie die Franzosen es gern gewesen wären, die sie in die unbesiegbare Höhle ihres Ichs trieb? Gab es nicht viele Faschisten im besetzten Land, die mit den Nationalsozialisten gekungelt hatten? Das waren kollektive Wunden, die vor jeder Kritik geschützt werden wollten.

Die Aversion gegen den „Gesichtsverlust“ des Überprüft- und Widerlegtwerdens übertrugen die Deutschen auf ihre Abneigung gegen „Besserwisserei“ und moralische „Überlegenheit“. Das führte zur Schizophrenie deutscher Medien, in denen sich die Schlechterwisser im Dauerkampf gegen Besserwisser selbst als Allerbestenwisser entpuppten.

Spätestens an dieser Stelle war jeder fruchtbare Boden für Vernunftgespräche abgetragen. Hinzu kam der Siegeszug des Neoliberalismus, der gegen jedes nicht-quantitative Geschwätz allergisch war. Bei ihm gab es nur eine Überlegenheit in wirtschaftlichen Zahlen.

Postmoderne und Neoliberalismus, beide erbitterte Feinde der Aufklärung, waren die Paten der heute grassierenden Erregungswut, die von Erkenntnissen nichts mehr wissen will.

Die grassierende Logoserblindung wurde flankiert von einer Politik, die jedwede rationale Zielorientierung ablehnte und sich passiv der Selbstbewegung des Immerweiterso überließ. Eine Kanzlerin überließ sich ganz und gar der Hand ihres geschichtlichen Gottes. Weder erkannte sie die wesentlichen Kräfte der Vergangenheit, die zur Gegenwart führten, noch entwarf sie humane Ziele der Zukunft, die man ansteuern sollte. Sie versank in der Dumpfheit einer Magd Gottes, die nur ein Ziel kannte: politische Macht erringen in der Maske der Demütigen.

Auch in Athen hatte es nicht nur reine Wahrheitssucher gegeben. Es gab die Schule der Rhetorik, die nur eins im Kopf hatte: per Überredung die Mehrheiten für sich gewinnen.

Hier lernte man nur das Eine: „die Wahrscheinlichkeit höher zu schätzen als die Wahrheit und durch die Kraft des Wortes das Kleine groß und das Große klein erscheinen zu lassen“. „Rhetorik wurde zur Meisterin der Überredung.“ (Nestle)

Im Kampf der Meinungen wurde Rhetorik zur Kunst der Mächtigen, die Mehrheiten mit allen Listen der Überredung auf ihre Seite zu bringen. In der Verfallszeit der römischen Republik regredierte die stoische Philosophie in apolitische Innerlichkeit; die Rhetorik – die im Machtpoker der Gewaltigen nicht mehr gebraucht wurde – flüchtete in „die Hörsäle der Schule, wo sie keine praktische Wirkung mehr anstrebte. Statt der großen Fragen des realen Lebens wurden fiktive Fälle aus der subjektiven Phantasiewelt behandelt. Auf den Beifall der sensationslüsternen Hörer durfte am sichersten rechnen, wer sich am weitesten von der Wirklichkeit entfernte. Es bildete sich ein neuer Stil, bei dem der Unnatur des Stoffes die Gekünsteltheit der pointenhaschenden Form entsprach. Es war eine Treibhauskultur, die nur dadurch möglich war, das die Wachstumsbedingungen für eine große Beredsamkeit unterbunden waren. Der Kult der Form blieb, aber das Leben des Menschen konnte die Redekunst nicht mehr ausfüllen.“ (Pohlenz, Die Stoa)

Das ist etwa die Atmosphäre unserer Gegenwart. Mit einem Unterschied: die rhetorischen Floskeln flüchten heute nicht nur in geschlossene Räume der Hintergrundgespräche, sondern sind zum Repertoire öffentlicher Reden geworden, denen niemand mehr zuhören kann.

Erhalten die Politiker eine gewaltige Rüge vom Obersten Gericht, reagieren sie nach dem erwartbaren Schema: „Wir haben vieles richtig gemacht, gewiss sind uns auch Fehler unterlaufen. Es hat aber keinen Sinn, jetzt nach hinten zu schauen und Vergangenheit aufzuarbeiten. Wir müssen nach vorne schauen.“

Mit glatten Worten nichts zu sagen, das ist die Kunst heutiger Politreden, die jedwede „Schuldzuweisung “ ablehnen. In dieser permanenten Flucht vor der Ursachenanalyse und der Weigerung, jene dingfest zu machen, die vor der Öffentlichkeit die Verantwortung übernehmen müssten, zeigen sich die Langzeitwirkungen einer sinnfreien Palliativ-Rhetorik.

Und die kritischen Medien sind auf ihrer Seite:

„Schuld. Was für ein kurzes, hässliches Wort. So hässlich und kurz wie all die Verkürzungen, die mit dieser archaischen Idee einhergehen. Natürlich hat das Schuldprinzip in manchen Lebensbereichen eine Berechtigung, im Gerichtssaal etwa. Allerdings greift offenkundig das Denken um sich, dass so ziemlich alle Missstände durch Schuldzuweisungen aufzulösen seien, so als bestünde die Welt nur aus Schuldigen und Unschuldigen, aus Schuldsprüchen und unentschuldbaren Fehltritten, aus Schuldnern und Umschuldungen.“ (SPIEGEL.de)

Der Artikel kann nicht unterscheiden zwischen theologischer Schuld und rationaler Ursachenforschung, ohne die keine lebendige Demokratie auskommen kann. Schuldige suchen und in der Öffentlichkeit zur Rede zu stellen, ist überlebensnotwendig für eine Herrschaft des Volkes. Nach Popper ist das Wichtigste in jeder Demokratie, dass man jene abwählen kann, die man für unfähig hält, den Willen des Volkes zu realisieren. Es kann nicht um willkürliches Schuldzuweisen gehen, sondern um den Nachweis penibel begründeter Ursachenketten.

In der Tat: alle Missstände wurden von Menschen verursacht, kein Teufel hat im Verborgenen gewütet. Dass unsere Demokratie in freiem Fall ist, liegt an der Weigerung, die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen auf sich zu nehmen. Übernimmt niemand mehr die Verantwortung für sein Tun, erhalten wir, was wir inzwischen zur Genüge kennen: eine verantwortungslose Gesellschaft, in der alles möglich ist. Selbst die Mächtigsten setzen ein unschuldiges Gesicht auf.

Man muss das theologisch anrüchige Wort Schuld nicht benutzen, man kann von Fehler, Irrtum, Versäumnis, Nachlässigkeit, falschem Denken reden. Was immer klar sein muss: Schuldzuweisen ist lebensnotwendige Fremd- oder Selbstkritik.  

Es geht nicht darum, den Gewählten ihre Macht vorzuwerfen, es geht um den Vorwurf, dass sie weitreichende Fehlleistungen begingen. Sich mit den Entscheidungsträgern zu überidentifizieren, ist nichts anderes, als die Mächtigen blind schalten und walten zu lassen:

„»Die da oben« sind in unserem politischen System schließlich keine Usurpatoren, die sich an die Macht geputscht haben. Sondern Volksvertreterinnen und Volksvertreter, Leute aus unseren Dörfern und Stadtvierteln, aus unseren Parteien und Wählervereinigungen. Wir haben sie gewählt, damit sie für uns streiten und entscheiden. Das sind unsere Leute. Das sind wir.“

Diese Eiapopeia-Denkweise, die keinen Unterschied macht zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, ist der Grund für die unflätigen Shitstorms, in denen die Ohnmächtigen ihren Zorn loswerden müssen, weil ihrer Kritik nicht zugehört wird. Gegen die betonierte Verschlossenheit der Macht-Rhetorik helfen – so das Gefühl des Plebs – nur noch Presslufthämmer.

Natürlich sind strukturelle Probleme mit Rücktritten nicht gelöst. Aber die Neuen werden ja mit der Hoffnung in ihr neues Amt gewählt, dass sie diese uralten Probleme endlich mit frischer Kraft angehen. Dass es sich um überkomplexe und unlösbare Probleme handeln soll: solche Phrasen sind der Untergang jeder Demokratie.

Schuldzuweisung oder öffentliche Kritik ist die ultima ratio jeder Situation, in der endlose Debatten nichts mehr nützen, weil sie nur in Hohl-Sprech absolviert werden. Was hätten wir für eine vitale Demokratie, wenn die Mächtigen sich in Bürgerparlamenten erklären und auf Debatten mit der Basis einlassen würden. Wie weit muss die Vierte Gewalt gesunken sein, wenn sie berechtigte Kritik als Zanken niedermachen muss?

Rationale Gespräche dienen der Erkenntnisgewinnung. Nicht so die Talk-Shows in den Öffentlich-Rechtlichen. Sie dienen der rhetorischen Desavouierung aller politischen Aktivisten seitens standpunktloser Logen-Beobachter. Sie stellen Fragen, die keine sind, haben Meinungen, die sie nie äußern dürfen, tarnen ihre Meinungen als Fragen Abwesender. Indem sie die Mächtigen nicht anders als deren Kritiker abfertigen, stärken sie paradoxerweise die bestehende Macht, indem sie die Oppositionellen mit dem gleichen Spott und Hohn überziehen. Der verborgene Selbsthass derer, die sich mit nichts gemein machen dürfen, verwandelt sich in das zwanghafte Bedürfnis, alle, die es dürfen, als Wichtigtuer und Aufschneider abzustempeln.

„Die Talkmasterin stellt den Grill sofort auf volle Kraft: „Erweist es sich als Fehler, dass die Union mit Ihnen und nicht mit Markus Söder antritt?“ fragt sie nach einem Einspieler über die aktuelle Zustimmung zu Parteien und Bewerbern. „Es ist im Moment so, dass Markus Söder als der Aussichtsreichere begriffen wird. Und außerdem als der Kandidat der Basis gilt, Sie aber im Gegensatz dazu als Kandidat des sogenannten Hinterzimmers gelten …Werden Sie missverstanden?“ fragt die Talkmasterin spitz.“ (BILD.de)

Fragen, die Behauptungen enthalten, die keine sein dürfen. Coole Beobachter haben keine Meinung. Von einem Streitgespräch kann keine Rede sein, denn dazu gehörten eigene Standpunkte. Sie wollen kess sein, doch ihre ganze Kessheit verbirgt sich hinter „neutralen Fragen“. Talk-Entertainer wollen nur eins: dem Publikum zeigen, dass niemand es mit ihrer rhetorischen Cleverness aufnehmen kann. Sie sind die gewieftesten Rabulistiker der Nation.

Wurden jemals Untersuchungen gemacht mit der Frage: Welche neuen Erkenntnisse haben Sie der Talkshow XY zu verdanken? Sind Ihnen bestimmte Problemstellungen klarer geworden?

Ein Schauspiel, ach ein Schauspiel nur. Und ganz bestimmt kein lehrreiches. Talkshows als Veranstaltungen medialer Eitelkeit – die jedes echte Gespräch mit wenigen Teilnehmern, logischen Nachfragen und knallharten Rückmeldungen zunichtemachen. Der Zirkus ersetzt den urdemokratischen Marktplatz.

Den Künstlern warfen sie Hohn und Spott vor. Ihren eigenen Spott verkaufen sie als seriöse Beiträge zur Meinungsbildung.

Anstatt seriöse Kritik mit eigener Meinung zu begründen – schulmeistern sie in allwissender Gebärde:

„Scholz redet über alles mögliche, über Klima, Digitalisierung, Corona und über eine »Gesellschaft des Respekts«. Es ist eine neue Chiffre für ein uraltes sozialdemokratisches Thema: soziale Gerechtigkeit. In Wahrheit aber geht es um etwas ganz anderes. Konzentrierte digitale Langeweile über mehrere Stunden, das wackere Abarbeiten von Spiegelstrichen und Unterpunkten eines Parteiprogramms, das niemand lesen wird und am Ende die Erkenntnis, dass es an diesem Tag nicht um Inhalte geht, sondern um Scholz. Und sonst niemanden.“ (SPIEGEL.de)

Das ist keine Kritik, sondern Anmaßung. Dahinter steckt die überlegene Attitüde, es von vorneherein besser zu wissen als diese verschlagenen Politiker. Beweise für solche Sätze sucht man vergeblich. Es sind Vermutungen und subjektive Einschätzungen, die als unzweifelhafte Erkenntnisse auftreten.

Politiker, die sich um ein Amt bewerben, können nur sagen, was sie vorhaben. Welche Kompromisse sie zukünftig schließen müssen, wüssten sie nur, wenn sie in die Zukunft blicken könnten. Politiker kann man nur bewerten, wenn man ihre Worte mit ihren Taten vergleicht. Liegen keine Taten vor, ist jedwede Prophetie-Kritik so seriös wie die Aussage, dass der Herr vor der Türe steht.

Ein erheblicher Teil der medialen Kritik ist nichts als Kasperle-Theater für Erwachsene.

Begriffe werden nicht geklärt, philosophische Voraussetzungen der Begriffe nicht entschlüsselt, logische Gegenbegriffe ignoriert.

Die Menschheit steht vor gewaltigen Veränderungen. Sie müsste ihre geballte Vernunft aufbieten, um sich Überlebenschancen zu erarbeiten. Dazu gehörte eine mediale Kritik, die ihre pubertären Spielchen einstellte – und endlich zur Sache käme.

Fortsetzung folgt.