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nichtsdesto-TROTZ XCVII

Tagesmail vom 17.11.2021

nichtsdesto-TROTZ XCVII,

„Den Zaun zu öffnen, wäre moralisch gut. Aber nicht die richtige Entscheidung.“ (SPIEGEL.de)

Nikolaus Blome muss ein schneidiger Mann sein. Der Dauerheuchelei einer pathetischen Moralbeschwörung mit amoralischen Folgen will er energisch ein Ende bereiten:

Moral ist gut, aber falsch.

Warum? Aus Gründen der Staatsraison. Blome spricht klar ein Problem Deutschlands an (und aller westlichen Staaten, die sich auf die Menschenrechte berufen), das gewöhnlich vertuscht wird: den unvereinbaren Widerspruch zwischen Staatsraison und Moral.

Unser Land ruht auf christlich-abendländischen Werten – so das Ritual der Staatsfeiern –, die als Inbegriff der Moral gelten. Doch diese Moral hat sich zu beschränken auf den privaten Bereich. In der Politik gilt als oberste Maxime das, was Moral bekämpft: die egoistische Macht oder die Staatsraison.

Kein „wohlverstandener“ Egoismus, der das eigene Wohl mit dem Wohl der anderen verbindet, sondern ein „solipsistischer“ Egoismus (von solus = allein, ipse = selbst), dem fremdes Wohl gleichgültig ist, ja der das Wohl anderer beliebig zerstören darf.

Dieser fremdenhassende Egoismus bedarf einer überlegenen Macht, die der geringeren Macht der Schwachen überlegen ist. Eigensüchtiger Egoismus ist ein rücksichtsloses Streben nach Macht über alle anderen und gehört zum antiken Naturrecht der Starken, das von den sokratischen Schulen mit dem Naturrecht der Schwachen bekämpft wurde: nicht mit der Macht des Geldes oder Schwertes, sondern mit Argumenten und vorbildlich-moralischem Lebenswandel.

Diesem Verhalten verdankte die Demokratie ihre Vitalität, die immer mehr verfiel, je mehr die Moral durch solipsistische Interessenpolitik zersetzt wurde. Aus der Entfaltung der Polis-Moral zu einer universellen Ethik entstanden die Menschenrechte, die zur Basis der modernen Demokratien und des UN-Völkerparlaments wurden.

Der moderne Kapitalismus wurde zum führenden Element der Demokratien, indem er eine unheilvolle Mixtur aus wohlverstandenem und eigensüchtigem Egoismus schuf. Adam Smith hatte wohl einen wohlverstandenen Egoismus im Auge, doch er schaffte es nicht, ihn als autonome Moral zu durchdenken. Die finale Harmonie disparater Interessen überließ er dem Eingriff einer göttlichen Hand, die er als unsichtbare bezeichnete.

Nicht der Einzelne sollte das allgemeine Wohl in seinem Tun mit bedenken. Das Wohl sollte er einer Macht überlassen, an die man glauben musste. Adam Smith nahm die Lenkung des Kapitalismus – damit der Demokratie – aus den Händen selbstverantwortlicher BürgerInnen und übergab sie einer anonymen Glaubensmacht. Die in der Aufklärung gewonnene Autonomie des Menschen wird einer übermenschlichen Macht geopfert.

Die Enteignung der Selbstverantwortung wird der Marxismus vervollständigen zu einem Glauben an eine materielle Heilsgeschichte, der sich der Mensch komplett unterwerfen muss.

Nicht verwunderlich, dass aus dieser seltsamen Konstruktion sich schnell das System des heutigen Kapitalismus – oder Neoliberalismus – entwickelte: jeder Kapitalist soll unbedenklich seinen eigenen Interessen folgen, die als Nebenfolgen – ohne jede Mitwirkung unsichtbarer Hände – auch den Interessen der Schwachen dienen würden.

Arbeitsplätze werden geschaffen, Konsumgüter zu erschwinglichen Preisen hergestellt: der Wohlstand einer Nation dient ihrer Reputation in aller Welt. Wirtschaftskompetenz wird zum Kriegsersatz, der die Naturschätze unterlegener Nationen mit nicht-militanten, aber räuberischen Methoden erbeuten und ausbeuten kann.

Expandierender Kapitalismus ist ein ständig agierender Virus, der die Regeln einer Demokratie unterhöhlt und die Herrschaft des Volkes in eine Hegemonie der Reichen verwandelt. Kapitalismus war eine Erfindung der antiken Urdemokratie, die nichts unterließ, um diese zu überrumpeln oder abzuschaffen. Nicht mehr lange und er wird sein Ziel erreicht haben. Demokratien verwandeln sich immer mehr in Meritokratien (Herrschaft der Erfolgreichen) oder Oligarchien (Herrschaft der Wenigen).

Urheber des Neoliberalismus sehen den Siegeszug des Kapitals völlig anders: als Sieg der Freiheit.

„Das ist die Freiheit im äußeren Leben des Menschen, dass er unabhängig ist vom Wohlwollen der Mitmenschen. Diese Freiheit hat es im Urzustande nicht gegeben. Ihre volle Ausbildung ist ein Werk des entwickelten Kapitalismus. Der vorkapitalistische Mensch hatte über sich einen gnädigen Herrn, um dessen Gunst er werben musste. Kapitalismus kennt keine Gnade und keine Ungnade, er unterscheidet nicht mehr zwischen gestrengen Herrn und gehorsamen Knechten, alle Beziehungen sind sachlich, unpersönlich, rechenbar und vertretbar. Mit der Rechenhaftigkeit der kapitalistischen Geldwirtschaft steigt die Freiheit aus dem Reich der Träume in das der Wirklichkeit herunter.“ (Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft, 1932)

Nicht Revolutionen der Proleten, nicht der Freiheitswille der Mündigen haben das Reich der Freiheit erobert, sondern der Wille zur überlegenen Leistung, die sich losreißt von allen Herren. Die Polis als Geflecht überwiegend persönlicher Beziehungen unter allgemeinen Regeln wird zu einem Unterdrückungssystem, aus dem nur ein rabiater Leistungs- und Erfolgswille herausführen kann. Dass die Erfolgreichen nun ihrerseits zu Herren der weniger Erfolgreichen werden, hat Ludwig von Mises nicht sehen wollen.

Sein Reich der Freiheit ist „sachlich, unpersönlich, rechenbar und vertretbar.“ Mit anderen Worten: der Mensch als einmalige Persönlichkeit ist abgeschafft, an seine Stelle tritt der unpersönliche Sachwalter des Rechenbaren. Die Ökonomie betrachtet sich als Naturwissenschaft, in der sich keine Herren und Knechte gegenüberstehen, sondern berechen- und messbare Leistungsmaschinen.

Moral als Gestalterin persönlicher Beziehungen ist gestrichen, weil überflüssig. An die Stelle ihrer logisch und naturwissenschaftlich nicht begründbaren, von Volk zu Volk verschiedenen, unter sich immer zerstrittenen, willkürlich erscheinenden Grundsätze tritt das für jeden nachrechenbare und messbare Rang-ermittlungs-verfahren durch den erworbenen Mammon. Jeder Mensch ist so viel wert, wie sein Konto aussagt. Das Ich denke, also bin ich, wird zum: Ich verdiene mehr, also bin ich mehr.

Das Berechenbare der Ökonomie hat jede willkürliche Bewertung des Menschen durch Moral befreit. Nicht anders als die Naturwissenschaften, die die Gesetze der Natur erforschen, aber nicht moralisch bewerten können.

Max Born, Physik-Nobelpreisträger, schrieb in einem Essay über „Die Zerstörung der Ethik durch die Naturwissenschaft“ die Sätze:

„Die politischen und militärischen Schrecken sowie der vollständige Zusammenbruch der Ethik, deren Zeuge ich während meines Lebens gewesen bin, sind kein Symptom einer vorübergehenden sozialen Schwäche, sondern eine notwendige Folge des naturwissenschaftlichen Aufstiegs – der an sich eine der größten intellektuellen Leistungen der Menschheit ist. Wenn dem so ist, dann ist der Mensch als freies verantwortliches Wesen am Ende. Die wissenschaftliche Haltung ist geeignet, Zweifel und Skeptizismus zu erzeugen gegenüber natürlichen, unverfälschten Handlungsweisen, von denen die menschliche Gesellschaft abhängt. Niemand hat bis jetzt ein Mittel erfunden, um die Gesellschaft ohne überlieferte ethische Prinzipien zusammenzuhalten oder um diese durch die in der Naturwissenschaft angewendeten rationalen Methoden abzuleiten.“ ( In C. Snow, Die zwei Kulturen)

Das war der erste Massenmord an der Ethik in der Neuzeit – durch Wissenschaften, die nur erforschen wollten, was ist. Was sein soll, erfuhren sie in keinem Experiment, in keiner noch so komplizierten mathematischen Formel. Ergo wurde das Soll begraben. Auf diesem amoralischen Niveau stehen die Medien noch immer.

Der zweite Massenmord geschah viele Jahrhunderte vorher durch die Erfindung der „christlichen Ethik“, die keine war, sondern ein Wegweiser ins Himmelreich:

„Gerade der Umstand, dass Jesus kein Sozialreformer war, dass seine Lehren frei von jeder für das irdische Leben anwendbaren Moral sind, dass alles, was er seinen Jüngern empfiehlt, nur Sinn hat, wenn man mit umgürteten Lenden und brennenden Lichtern den Herrn erwartet, um ihm alsbald zu öffnen, wenn er anklopft, hat das Christentum befähigt, den Siegeslauf durch die Welt anzutreten. Nur weil es vollkommen asozial und amoralisch ist, konnte es durch Jahrhunderte schreiten, ohne von den gewaltigen Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens vernichtet zu werden. Nur so konnte es die Religion römischer Kaiser, angelsächsischer Unternehmer, europäischer Germanen, mittelalterlicher Feudalherrn und moderner Industriearbeiter sein. Weil es nichts enthält, was an eine bestimmte Sozialordnung gebunden hätte, weil es zeitlos und parteilos ist, konnten jede Zeit und jede Partei daraus das verwerten, was sie wollten.“ (Mises)

Wer sich an den christlichen Glauben hält, kann alles tun, was ihm beliebt, denn die “Rechtfertigung allein durch Glauben ohne des Gesetzes Werke“ ist eine Vernichtung der hellenisch-autonomen Moral. Wer keine ethischen Taten, sondern nur folgenlosen Glauben präsentieren muss, darf weiter machen wie bisher – oder ein fröhlicher Sünder bleiben.

Das bestätigt auch Heribert Prantl, der eine Hoffnung propagiert, die er – mit Bezug auf die Nachfolgerin von Bedford-Strohm – so beschreibt:

„Hoffnung ist nicht allein etwas Inneres, etwas Geistiges. Hoffnung zeigt sich auch in der Sprache, die man spricht. Apokalyptische Szenarien, Panikmache und Diffamierungen sind hoffnungslos, weil sie Beziehungen vergiften und den Willen zur Zukunft brechen; sie sind hoffnungslos gefährlich. Hoffnung ist eine Haltung der Offenheit. Annette Kurschus hat sie so ausgedrückt: „Wir haben keine Lösungen parat. Wir wissen es nicht besser als andere. Aber: Wir blicken anders in die Welt. Von einer Verheißung getragen. Auf Hoffnung hin. Die gilt es stark zu machen in der Welt.“ (Sueddeutsche.de)

Man könnte sagen: das ist die neue ökumenische Lehre von der „Rechtfertigung allein durch Hoffnung ohne des Gesetzes Werke“.

Sie wissen es nicht besser als wer? Als die Wissenschaftler? Als die engagierten Klimaschützer? Ohne jede Debatte, ohne jeden Versuch des Verstehens? Müssen sie etwas besser wissen als andere, um sich zuständig zu fühlen? Wo bleibt der demokratische Diskurs?

Sie geben sich bescheiden und ignorant, um ihre politische Verantwortungslosigkeit zu rechtfertigen. Sie wollen nicht länger behelligt werden durch Katastrophenmeldungen, als hätten nicht sie die Apokalypse in die Geschichte gebracht. Als seien die Meldungen sadistisch erfunden, um sie aus dem Schlaf zu rütteln. Die Frommen, vom Kanzleramt bis zum einfältigen Schäfchen, lassen sich vom Welttrubel nicht aus der Ruhe ihrer begnadeten Seelen bringen. Soll sich doch die Welt zerreißen in der Rettung ihrer civitas terrena – sie beten!

Wissenschaft ist eine wunderbare Erfindung der menschlichen ratio, doch welche Politik die Wissenschaftler aus ihr folgerten, war in hohem Maße irrational bis gemeingefährlich. Zu welch ungeheuren Risiken sie bereit waren, zeigte ihr Verhalten bei der Zündung der ersten Atombombe in der Wüste von Nevada. Hatten doch einige von ihnen erhebliche Angst vor einer möglichen Kettenreaktion, die den ganzen Erdball in Schutt und Asche hätte legen können. Sie erlitten schreckliche Minuten nach der Zündung, bis sie erleichtert durchatmen konnten: doch kein Untergang der Welt. Um ihrer Erfolge willen, waren die Genies bereit, die Erde in die Luft zu jagen. Sie sind wie ihr Schöpfer: Creatoren aus Nichts und Destruktoren ins Nichts.

In Deutschland werden sie noch immer als Entdecker sensationeller Naturphänomene bestaunt. Eine Kritik an ihrem – für die Existenz der Menschheit – oft sinnlosen Tun ist verpönt und gilt als Wissenschaftsfeindlichkeit.

Dabei ist es umgekehrt: wer Wissenschaft für notwendig hält, sollte sie ermahnen, von ihrem hohen Ross abzusteigen und sich demokratisch zu betätigen. Die Konstanz und Verlässlichkeit ihrer strengen Gesetze hat mit der Welt irrtumsfähiger Menschen nichts zu tun.

Die Querelen um die Impfpflicht entlarven einen Freiheitsbegriff, der auf dem Mist des Neoliberalismus gewachsen ist.

Freiheit in der Demokratie muss wohl die Freiheit von Göttern sein, die keine Grenzen ihrer Freiheit akzeptieren. Ergo eine Freiheit, die niemanden zu nichts verpflichtet. Eine deutsche Gespensterdebatte.

„Freiheit heißt, dass der einzelne seine eigenen Ziele verfolgen darf. Wer frei ist, ist in Friedenszeiten nicht länger an die konkreten Ziele seines Gemeinwesens gebunden.“ (Hayek, Die verhängnisvolle Anmaßung)

Das ist das Menschenbild von Luther und Hobbes: jeder Mensch ist einsam vor Gott oder den Menschen. Doch während das Leben des Menschen bei Hobbes „armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ ist, wird es bei Hayek, Mises & Co zum Sieg über alle Konkurrenten, die er ignorieren, bekämpfen und erniedrigen darf.

Das ist die spätere Freiheit des Willens zur Macht, der nur seine eigenen Interessen kennt und die aller anderen in den Staub treten kann.

Bin ich frei, wenn ich tun kann, was ich will?

Nein, ich bin frei, wenn ich tun kann, was ich für richtig halte. Das moralisch Gute ist kein Befehl von Oben, dem ich folgen muss. Ich folge mir selbst, denn Moral ist die Stimme meiner Vernunft. Das wird bestätigt durch die Praxis der Demokratie, in der das Gesetz nicht die Stimme autoritärer Regierungen sein darf, sondern die Stimme der vom Volk Gewählten, die den Willen des Volkes in Politik zu realisieren haben. Und wenn nicht, müssen sie vom Volk abberufen werden.

Der mündige Mensch ist keinem Gesetz untertan, das er nicht unterschreiben könnte, keiner Moral, die er nicht geprüft und für gut befunden hätte. Seneca hat es klassisch formuliert:

„Ich gehorche Gott nicht, ich stimme ihm aus Einsicht zu.“

„Gehorsam gegenüber der Gottheit ist kein Willensakt. Erkenntnis führt den Menschen dahin, frei und uneingeschränkt dem zuzustimmen, was Gott oder die Natur ihm zu tun aufgetragen hat. Das kommt daher, dass Gott oder Natur für eine vernünftige Ordnung stehen, die jede Willkür ausschließt.“ (Diehle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike)

Wenn ich der Impfplicht nachkomme, gehorche ich niemandem – außer mir selbst. Ich folge der Stimme meiner eigenen Überzeugung. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse muss ich nicht für absolut sicher halten, aber so sicher, dass sie die besten Möglichkeiten bieten, Schaden von mir und meinen Mitmenschen fernzuhalten. Grundloses Misstrauen ist rational nicht vertretbar.

Weshalb man aber nicht alle Impfgegner gleich verteufeln muss. Besser wäre, sie zu verstehen. In ihnen wabern jahrhundertealte Ressentiments gegen die kalten Naturwissenschaften, die nur auf Zahlen und Figuren setzen. Nicht in allen Dingen ist die Kritik an ihnen unberechtigt.

Schließlich haben sich die Naturwissenschaften tatsächlich eine arrogante Besserwisserei zugelegt, die weder berechtigt ist, noch die Seelenstimmung einfacher Leute ernst genommen hätte. Hat es denn bei uns eine gründliche Aufklärung des Staates über alle Aspekte des Impfens gegeben? Im Gegenteil: ständige Widersprüche, Falschmeldungen und Warnungsorgien ohne Hinweise, was am besten zu tun wäre.

Dann das übliche Schwanken deutscher Behörden zwischen fahrlässigem Laissez-faire und abrupt wechselndem Zuschlagen. Man lässt die Bevölkerung zuerst ihres Weges gehen, auch wenn alles unsicher und gefährlich scheint, um sie über Nacht mit überharten Maßnahmen zu bestrafen, die nirgendwo klar begründet werden.

Freiheit ist nicht die einzige Tugend einer Demokratie. Sie ist eine unter vielen, die alle notwendig und unersetzbar sind und miteinander kompatibel sein müssen.

Zur Freiheit gehört Gerechtigkeit, ein Begriff, der für Neoliberale gar nicht zu existieren scheint. Für sie ist Gerechtigkeit eine Chimäre, eine Erfindung sozialistischer Stalinisten.

Zur Freiheit und Gerechtigkeit gehören Freundschaft, Rücksichtnahme, politisches Engagement, soziale Empathie, eingebettet in scharfe Kritikfähigkeit staatlicher Fehlleistungen. Kritik und Kooperation gehören zusammen. Eine Demokratie ist keine Maschine, in der der Einzelne isoliert an Rädchen dreht. Er ist Teil eines lebendigen Gewebes, das mit Vernunft und Gefühl, Verstand und Einfühlung, nehmt alles in allem: mit Verantwortung für sich und das Ganze agiert.

Ich bin frei, wenn ich tun kann, was ich will? Kein Sokrates hätte diesen Satz verstanden. Für ihn war Tugend das Tun jenes Guten, das man selbst als gut befunden hatte. Einsicht war nötig für tugendhaftes Verhalten, aber kein Wille, der sich lange und künstlich überlegen muss, was er denn wollen soll.

Sokrates kannte noch keinen Willen, sondern Denken und Tun, was man selbst für richtig befunden hatte. Erst bei Aristoteles beginnt die Entstehung des Willens. Es war bereits ein Zeichen demokratischer Zerrüttung, dass Einsicht die Regie über den Menschen verloren hatte und ersetzt werden musste durch künstliches Ausdenken irgendwelcher Willensakte. Im Abendland erschien der Wille in jenem Moment, als Gott seiner Vernunft nicht mehr untertan sein wollte, sondern aus Gründen seiner Omnipotenz tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Der göttliche Wille wurde zur pädagogischen Geißel seiner Frommen, die er heute lieben und morgen in die Hölle schicken durfte.

Über Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung mündete die Entwicklung in den Willen zur Macht, jenem Willen, der der Welt die Apokalypse in realo zeigte. Willkürliche Willensakte sind Hinweise für die verloren gegangene Einsichtsfähigkeit der Demokratien. Wer ständig mit seinen voluntaristischen Muskeln spielt, dem scheint es an Gehirnmasse zu fehlen.

Blome hat dem Moralischen endgültig die rote Karte gezeigt. Etwas mag so gut sein, wie es will – wenn es mit der Staatsraison in Konflikt gerät, muss es weichen.

Machiavellis Sieg über die Moral ist vollständig. Staatsraison, die Vernunft des Staates, ist eine Beleidigung der Vernunft, denn sie wird zur Vertreterin bloßer Macht degradiert. Machiavelli hatte nichts gegen Moral, solange sie die Ausübung der Macht nicht behinderte. Tat sie es, musste sie rücksichtslos dem Verfolgen der Machtinteressen weichen.

Das mag eine bestimmte Berechtigung gehabt haben, als Europa in Nationen zerfiel, die alle mit Mord und Totschlag um den Titel der wahren Auserwählten kämpften.

Heute ist die Welt zu einem globalen Dorf zusammengewachsen, wo es keine Nötigung mehr zum gnadenlosen Egoismus der Nationen gibt. Machiavelli muss vom Thron geholt werden, an seine Stelle müssen internationale Solidarität, Zusammenarbeit und Gemeinschaftssinn treten.

Die Zeit drängt, die Aufgaben sind gewaltig. Wenn wir untergehen, gehen wir nicht in nationalen Sondereinheiten unter.

Blome wollte der Staatsheuchelei ein Ende bereiten, indem er – für das Falsche und Amoralische die Stimme erhebt. Er muss ein mutiger Mann sein, der die Doppelmoral der Nation attackiert, aber leider nicht mutig genug, um seine geliebte Kanzlerin in seine Angriffe mit einzubeziehen.

Das Symbol der versteinerten Staatsheuchelei wird die Titanic – als nationale Heilige verlassen.

Fortsetzung folgt.