Kategorien
Tagesmail

nichtsdesto-TROTZ VI

Tagesmail vom 19.04.2021

nichtsdesto-TROTZ VI,

die deutsche Parteienlandschaft, zur homogenen Masse erstarrt, beginnt, auseinanderzubrechen.

Kein Grund zur Traurigkeit. Im Gegenteil. Wer gesunden will, braucht scharfe Diagnosen, keine Eiapopeia-Sprüche, die als Versöhnung daherkommen, aber nichts als faule Kompromisse sind.

In echter Versöhnung werden Unterschiede zum Vorteil aller Streitparteien ausgeräumt. Doch der theologische Begriff Versöhnung ist hier unangebracht, es geht nicht um Schuld vor höheren Instanzen. Es geht um Verständigung in einem Lernprozess mit unterschiedlichen Meinungen, die ihre Differenzen theoretisch und praktisch beilegen können.

Bei faulen Kompromissen – dem Alltag deutscher Politik – werden Unterschiede verharmlost und verleugnet. Faule Kompromisse gehen stets zu Lasten der Schwächeren, die sich, um des inneren Friedens willen, zufrieden geben müssen, obwohl sie innerlich empört sind. Empörter denn je zuvor. Denn der Stachel des Protests ist ihnen durch faulen Kompromiss äußerlich gezogen, innerlich schmerzt er umso mehr. Warum nur haben die Verlierer das Gefühl, Übermächtige hätten sie mit List und Tücke über den Tisch gezogen?

Philosophischer Urheber der faulen Kompromisse ist Hegel, dessen Versöhnung von allem mit allem am Ende der Geschichte zur Wirklichkeit wird. Die ganze Weltgeschichte lärmt vom Streit der Gegensätze, der auf allen Ebenen des Seins durchfochten werden muss. Der Widerstreit zwischen These und Antithese wird sich erst auflösen in der Schlussversöhnung einer finalen Synthese – oder dem Ende der Geschichte.

Hegels fauler Kompromiss, aufgeputzt als theologische Versöhnung des Guten mit dem Bösen, ist dabei, die deutsche Demokratie in einen gefühlten Gottesstaat zu verwandeln – unter der Leitung einer segnenden Pastorentochter, die nie verstanden hat, was eine streitbare Herrschaft des Volkes ist. Sie will keine irdischen Probleme lösen, die sie für unlösbar hält, sondern das störrische Volk durch die Gebrechen der Zeit geleiten.

Demokratie ist der Versuch, durch gemeinsames Bemühen die Probleme der Menschen peu à peu zu lösen. Der Versuch ist eine ununterbrochene Lerngeschichte, in der es ohne Fehler nicht geht, die aber durch gemeinsames Nachdenken revidiert werden können.

Für religiöse Menschen gibt es kein Lernen als Überwindung des Schlechten. Ergo gibt es keine Utopie als Ziel des Lernens. Poppers Begriff der Stückwerktechnologie ist zur Hälfte verunglückt. Lernen durch Versuch und Irrtum kann man Stückwerk-Lernen nennen. Lernen selbst ist keine Technologie, sondern gemeinsames Bemühen der Demokraten. Da Popper alle Utopien als himmlische Visionen ablehnt, kennt er kein Ziel seiner Stückwerk-Bemühungen. Das Volk irrt desorientiert und ziellos im Nebel herum.

Ziele sind Projektionen des Lernens in die Zukunft. Auch sie müssen, im Licht fortschreitender Lernerfahrungen, überprüft und neu konkretisiert werden.

Hegels theologische Allversöhnung, die er zur Philosophie verklärt, wird zum faulen Dauerkompromiss. Probleme der Welt will er nicht durch menschliche Verständigung lösen, sondern durch die Macht des göttlichen Wortes ungeschehen machen.

„Gott hat sich mit der Welt versöhnt.“ Das ist seine Grundüberzeugung. Da Gott Schöpfer der Welt ist, hat sie keine Chance, beim Akt der Versöhnung mitzureden. Den Spruch des Allmächtigen hat sie passiv hinzunehmen. In einem solchen Machtgefälle kann jede Versöhnung nur eine von Oben diktierte sein, denn Streit und Verständigung auf gleichberechtigter Ebene kann es nicht geben. Theologische Versöhnung wird zum Urmodell des faulen Kompromisses.

Von Hegel bis zum Dritten Reich verlief die deutsche Geschichte als zunehmende Hegelianisierung – oder wachsende Versöhnung Gottes mit der Welt. Was bedeutete das?

„In den Entwicklungsstufen des Weltgeistes sah er das Recht eines Volkes zur Vollstreckung des Weltgeistes als „absolutes Recht“: ihm gegenüber sind die Geister der anderen Völker rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte. Die Vollendung dieses Prozesses und damit der Weltgeschichte übertrug er dem „germanischen Reich.“ (in Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland)

Im Geiste Hegels machte sich Ernst Moritz Arndt zum Sprecher des Weltgerichts und konstatierte: „Ich behaupte eben mit der richtenden Weltgeschichte vorweg: die Polen und überhaupt der ganze slawonische Stamm sind geringhaltiger als die Deutschen.“ (ebenda)

Das blieb nicht bei der Überlegenheit über die Slawen. Bei Fichte wurden die Deutschen zum messianischen Volk der ganzen Welt. Die Versöhnung mit der Welt wurde zur Vernichtung aller Welt, die sich den Deutschen nicht unterwerfen wollte. Zwangsversöhnung wurde zur kompromisslosen Intoleranz.

Wie kommt es, dass – mit Ausnahme der Grünen – die deutschen Parteien sich selbst zum Kollaps bringen oder hohl und kraftlos wirken?

Die Christen wissen nicht mehr, was christliche Politik ist, SPD und die Linke wissen nicht mehr, was linke Politik ist.

Seit ihren Anfängen hat die CDU ihre WählerInnen mit christlichen Gefühlen gewonnen. Ihre Inhalte waren konservativ. Konservieren heißt etwas bewahren. Was wollen Christen bewahren? Ist die Welt nicht sündig und böse, dass man sie eher zertrümmern als erhalten müsste? War das Christentum durch seine Idolisierung des Führers als johanneischer Sohn der Vorsehung nicht schon bis auf die Knochen kompromittiert?

Aus biblischen und machiavellistischen Gründen hatten die Amerikaner den Deutschen das Christentum als grundlegende Ideologie verordnet – wenn die Kirchen zuvor ein öffentliches Schuldbekenntnis ablegen und sich durch ökumenische Verbindung an die Kette legen lassen würden.

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ (Stuttgarter Schuldbekenntnis)

Eine schreckliche Lüge mitten im heiligen Schuldbekenntnis: selbst die Bekennende Kirche, die am meisten Abstand hatte, war keine fundamentale Opposition zum Nationalsozialismus. Die Mehrheit der Frommen, geführt von Bischöfen und Theologen, waren glühende Anhänger der Versöhnung Gottes mit der Welt, identisch mit ihrer Zwangsbeglückung durch Vernichtung aller Feinde Gottes.

Und welch ungeheure Fehlleistung mitten im Beteuern der Schuld:

„Wir klagen uns an, daß wir nicht – brennender geliebt haben.“

Und wie sie brennend geliebt haben! Sie hatten keinerlei Skrupel, die Feuer der Hölle vorwegzunehmen.

Doch die Scheindemut siegte. Die Kirchen wurden zu Hauptstützen der Besatzungsmächte, um das Volk der Sünder wieder zurückzubringen in die Zivilisation, um Deutschland fit zu machen als Bollwerk gegen den drohenden Stalinismus.

Und das war das neue Programm: Umerziehung zur Demokratie, wirtschaftliche Genesung, um die militärische Frontstellung gegen die Sowjetunion zu finanzieren. Das genuine Christentum interessierte niemanden. Theologische Streitigkeiten als Begleiterscheinungen der 68er-Bewegung fanden nur außerhalb der Christenpartei statt. Aber auch nicht lange. Spätestens, als Militärgeistliche vereidigt wurden, war das Christentum zur festen Scheininstanz geworden.

Wie verträgt sich, Herr Schäuble, der Satz der Bergpredigt: Selig sind die Friedfertigen! mit dem Aufbau des neuen Heeres? (So die Frage einer Bürgerin in einer TV-Sendung.) Antwortete der gläubige Badenser: Solche Sätze sind nicht wörtlich zu verstehen.

Spätestens jetzt war die Willkür-Hermeneutik der Theologen zum Denkmodell der C-Parteien geworden. Spätestens hier begannen die Begriffe zu erodieren. Welch eine Erleichterung bei allen deutschen Intellektuellen, als französische Philosophen die Aushöhlung der Begriffe durch ihre Sprachphilosophie unterstützten. Begriffe haben nichts Objektives an sich. Jeder erfindet mit der Sprache jene Wörter, deren Bedeutung er allein und subjektiv festlegt. Deutschland und Frankreich Seit an Seit, um durch Sprachreinigung ihre dubiosen Vergangenheiten zu bereinigen.

Die Stärke der CDU bestand in der Schwäche ihrer Konkurrenten. Die SPD wusste nicht, wo sie zwischen Marx und Bernstein stand, so wenig wie die FDP, die noch nicht identisch war mit den Interessen der Industrie. Zwar gab es erste Grundsatzpapiere, doch schnell überholte die Realität die Deklamationen der Partei-Äußerungen.

Der Einbruch des Neoliberalismus zertrümmerte die oberflächliche Einheit der SPD. Aus einer Gerechtigkeitspartei durch soziale Marktwirtschaft wurde eine Aufsteigerpartei, die keine Skrupel kannte, sich per Ansage aus den traditionellen Revieren der Proleten zu lösen, um in die höheren Etagen abzuschwirren. Aus einer Gerechtigkeitspartei wurde eine Partei der Nutznießer und Mitläufer, die sich auf den Etagen der Erfolgreichen ungeniert als Emporkömmlinge feierten.

Solange sie an der Macht waren, hatten die Christen nichts zu verlieren. Ihre dogmatischen Grundsätze wurden in den Hintergrund gedrängt. Solange die Konkurrenzparteien ständig mit sich ins Gericht gingen, konnten sie selbst unbeschwert die amerikanischen Befreier bewundern und sklavisch nachahmen.

Langweiliges und bedeutungsloses Gerangel zwischen Laschet und Söder, maßlos von den Medien aufgebauscht, damit sie die ach so politfreie Coronazeit mit reißerischen Schlagzeilen überbrücken können.

An dem Gerangel sieht man deutlich: es gibt keinen Kampf um unterschiedliche Politprinzipien, es geht allein um Macht. Wer hat warum die größten Erfolgsaussichten? Das war‘s. Die CDU hat keine Ideen mehr, anhand derer man sie wählen könnte oder nicht. Was ergo steht im Mittelpunkt der Berichterstattung? Das Maß der ausgeteilten Watschen, die Anzahl der Sticheleien und Unverschämtheiten. Hinzu kommt die Leidenschaft derer, die schreiben, was ist: am liebsten gehen sie unter die Propheten und spekulieren über das, was kommen wird: über die Erfolgsaussichten der Kandidaten. Nicht, was ist, sondern was sein wird, ist die Lieblingsbeschäftigung der Beobachter.

Jetzt aber kommt das Machtmodell der Christen an ihr Ende. Dank Corona. Die Machtkünste der Parteimutter führen nicht mehr weiter. Denn in einer nationalen Krise wären zum ersten Mal rationale Methoden gefragt, verbunden mit allpräsenten Aufklärungsmethoden.

Spätestens hier zeigt sich die demokratische Inkompetenz der Kanzlerin, die bislang nur machtgestützte Mitläufermethoden zeigte. Wer physikalische Formeln berechnen kann, mag eine gute Expertin sein, doch mit Politik hat das Ganze nichts zu tun.

Viel zu spät entlarvt sich die Blindheit eines Volkes, das über keine klaren Kriterien der Politik verfügt. Solange der Rubel rollt, Wirtschaftsrekorde purzeln, Konkurrenten überflügelt und die Betrugsmethoden der VW- und Mercedesfabriken nicht aufgeklärt werden, solange bleibt das Ich-Bewusstsein der Deutschen auf unschlagbarem Niveau.

„Nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel ist die CDU kaputtregiert. Inhaltlich wurde das christsoziale, liberale und konservative Profil der Partei geschleift. Übrig bleibt ein ­entkernter Kanzlerwahlverein, der Regierungsmacht garantieren soll. Dazu kommt: Einen Nachfolger hat Merkel nie aufgebaut. In diese Lücke stößt CSU-Chef Markus Söder – ohne Rücksicht auf Verluste.“ (BILD.de)

Die CDU weiß nicht mehr wohin, die SPD schon lang nicht mehr, wo ihr der Kopf steht, die Linke trudelt im Wind. Allein die Grünen scheinen stabil. Geräuschlos haben sie ihre Kanzler-Kandidatin gekürt, eine frische Erscheinung, die durchaus fähig wäre, der FFF-Jugend Auftrieb zu geben – wenn Corona endlich ein Einsehen hätte.

Den Grünen Vorwürfe zu machen, sie hätten ihr ursprüngliches Profil verloren, ist Unsinn. Erste Gedanken sind brodelnde Gewässer, die sich erst im Verlauf pragmatischer Erfahrungen beruhigen können. Natürlich müssen sie ihre Kompromissfähigkeit unter Beweis stellen. Anders bräuchten sie gar nicht erst anzutreten.

Gleichwohl kann man ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass sie Prinzipien und Kompromisse nicht streng unterschieden haben. Alle Parteien machen den Fehler, ihre pragmatisch erforderlichen Kompromisse als theoretische Prinzipien zu verkaufen. Dieser philosophische Gedankenverlust aus Gründen der Anpassung an eine machtorientierte Realität ist die Erbsünde der deutschen Nachkriegsdemokratie.

In jedem Wahlkampf müssten die Parteien zurückkehren zum Fundus ihrer theoretischen Grundgedanken und sie streng unterscheiden von jenen Kompromissbildungen, zu denen sie bereit wären, um ein Optimum ihrer Herzensüberzeugungen gegen alle Widerstände hindurch zu retten.

Kompromisslose Wahlversprechen sind nicht heuchlerisch, wenn man hinzufügt: noch können wir nicht wissen, zu welchen Kompromissen wir eines fernen Tages gezwungen sein könnten. Was wir dennoch versprechen können, ist, dass wir mit unseren WählerInnen im Gespräch bleiben, um die jeweils erforderlichen Abweichungen von unseren Grundsätzen – die wir auf keinen Fall opfern werden – zu debattieren.

Eine Demokratie ist nur überlebensfähig, wenn sie sich zwei Pole gestattet: den Pol kompromissfähiger Pragmatiker (die ihre Kompromisse nie als Grundüberzeugungen verkaufen dürfen) und den Pol kompromissloser philosophischer Prinzipien.

Die beiden Pole sind keine Heucheleien – solange sie sich ihrer Spannung bewusst bleiben. Es ist wie bei „idealistischen“ Moralisten, die nicht dadurch heucheln, dass sie eine utopische Menschenrechtsmoral fordern. Zur Heuchelei wird das Moralisieren erst, wenn die Kluft zwischen Norm und Realität geleugnet wird. Wir brauchen klare Zielvorstellungen, auch wenn wir noch nicht fähig sind, sie adäquat in die Tat umzusetzen. Zielvorstellungen sind Orientierungsmarken, an denen wir uns ständig messen lassen müssen.

Den Grünen ist nicht vorzuwerfen, dass sie ihre Grundgedanken verrieten, sondern dass sie keine hatten. Wer Natur retten will, braucht eine Naturphilosophie, in deren Rahmen er wissenschaftliche Einzelerkenntnisse integrieren kann. Diese Leistung haben sie bis heute nicht erbracht.

In ihrer kleinen Broschüre „Philosophie der Grünen“ aus dem Jahre 1982 schrieb Manon Maren-Grisebach:

„Politik ist ein von Macht durchfurchtes Gebiet. Wer sich dahinein begibt, muss mit einer mehr oder weniger deutlichen Form von Macht umgehen. Grüne aber wollen keine Macht. Und doch wollen sie politisch etwas bewirken, hier und jetzt etwas verändern, deshalb müssen sie an diesem Machttrieb teilnehmen, auch wenn sie ihn fürchten wie der Teufel das Weihwasser oder besser: wie der Engel das Sündigen. Ebenso suspekt ist den Grünen jegliche Hierarchie. Schon das Wort „regieren“ löst bei manchen Grünen Skrupel aus, weil es etwas mit Macht und Hierarchie zu tun hat.“

Hier sehen wir die empfindsame Kehrseite der Grünen, konträr zu den Konservativen, die nach Kriegsende ihre Vergangenheit verleugneten und ungerührt in die neuen Machtpositionen stürmten. Alles, was nach Machtpolitik roch, wurde von den Grünen ängstlich und befremdlich abgelehnt. Noch heute glaubt man, die Skrupulosität derer, die schwer unter den Sünden ihrer Eltern gelitten haben, auch den heutigen Grünen anzumerken. Es waren schwere Lernprozesse, angefangen von den Fundis über die Realos bis zu den heute fast geräuschlos wirkenden Macht-Grünen, die zum ersten Mal die Hände nach dem Kanzleramt ausstrecken. Und dies zu Recht.

Was man ihnen aber entgegenhalten muss, sind folgende Fragen: Auf welche Naturphilosophie bezieht ihr euch? Nie hört man von euch klare Hinweise auf jene Denker, mit denen ihr euch auseinandergesetzt habt. Stattdessen seid ihr ganz schnell den Theologen auf den Leim gegangen mit eurem absurden Motto: Schöpfung bewahren. Wie kann man eine Schöpfung bewahren, deren Schöpfer mitgeteilt hat, dass er das Alte (die jetzige Schöpfung) eliminieren wird, um das Neue (die paradiesische Neuschöpfung) an dessen Stelle zu setzen. Solche unverdauten Biblizismen zeigen die Groko-Ähnlichkeit der Grünen. Die wahre Religion vereint sie letztlich alle. Selbst die ehemals gottlosen Linken scheinen sich dem Sog des nationalen Opiums immer weniger entziehen zu können.

Dieser geistlose Einheitsbrei ist des Teufels und verwischt alle Grundsatzdifferenzen, deren Prinzipien längst im Orkus versunken sind.

Wir brauchen eine philosophische Runderneuerung, die die festgefrorenen Groko-Kompromisse unter die Lupe nimmt. Ist es Zufall, dass die unverbrauchtesten Kritiker der Republik, die FFF-Jugend, außerhalb aller Parteizugehörigkeit das Licht der Welt erblickten?

Sahra Wagenknecht hat mit ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ einen Versuch der Revitalisierung ihrer Partei unternommen. Der Versuch ist misslungen. (Wird an anderer Stelle genauer begründet.) Hier nur einige Grundsätze.

Sind die Linken noch marxistisch? In welchem Maße berufen sie sich immer noch auf Marx – oder haben sie sich von ihm endlich abgenabelt? Wird die wechselhafte Geschichte der Linken aufgearbeitet – zwischen Revolution, die an den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird, und Bernsteins demokratie-kompatibler Reform, die die marxistische Angst vor der autonomen Moral überwunden hat? (Der Name Marx erscheint nur einmal im ganzen Buch.)

Die philosophischen Quellen, aus denen sie die linke Bewegung ableiten will, sind abwegig.

Die proletarische Bewegung begreift Wagenknecht als Teil der Aufklärung. Auch Hegel und Kant bezeichnet sie als Aufklärer. Kant unbedingt, aber Hegel? Der Schwabe ist das Gegenteil von Kant. Als junger Mann wurde er zwar von Aufklärungsgedanken geprägt, wandelte sich aber später zum heftigen Kritiker der reinen Vernunft. Während Kant die Religion in ihre Grenzen verwies, versöhnt Hegel Philosophie und Religion:

„Die Aufklärung, diese Eitelkeit des Verstandes, ist die heftigste Gegnerin der Philosophie; sie nimmt es übel, wenn diese die Vernunft in der christlichen Religion aufzeigt, wenn sie zeigt, dass das Zeugnis des Geistes, der Wahrheit in der Religion niedergelegt ist, ist es einzig nur darum zu tun, die Vernunft der Religion zu zeigen.“ (Vorlesungen über die Philosophie der Religionen)

Auch die marxistischen Proletarier waren keine Aufklärer, sondern eine chiliastische Bewegung, die auf das Ende der Geschichte hoffte. Erst dann würde der Mensch vom Kapitalismus befreit werden. Parallel zur augustinischen Politik der Kanzlerin, die das Reich des Bösen nicht ändern kann, müssen die Revolutionäre stille halten, bis der brillante Kapitalismus seine Wunderwerke getan haben wird. Erst dann darf er ins Grab sinken, erst dann darf das Proletariat seine Früchte ernten. Bis dahin aber heißt es pietistisch: leidet und harret der Dinge.

Fast alle Apologeten des Marxismus beschäftigen sich nur mit ökonomischen Fragen. Dass Marx ein hegelianisch-romantischer Philosoph war, wird heute nicht zur Kenntnis genommen. Seine Religionskritik hielt ihn nicht davon ab, seine revolutionäre Hoffnung auf eine ferne Heilszeit zu setzen. Ernst Bloch war ein schwärmerischer Freund dieser Hoffnung auf eine ungewisse Zukunft.

Aufklärer setzen auf selbstbestimmte Moral. Proletarier müssen auf die Entfaltung der Geschichte hoffen. Wie die Kanzlerin nur Trittbrettfahrerin der neoliberalen Wirtschaft, so sind Proleten Trittbrettfahrer der ökonomischen Heilsgeschichte. Von Autonomie keine Rede.

Nicht nur Christen verharren in demütiger Außenlenkung durch den Himmel, auch die Gottlosen bleiben der ökonomischen Heilsgeschichte untertan. Deutschlands politische Landschaft ist unmündig von links bis rechts.

Besonders den Lifestyle-Linken wirft Wagenknecht vor, sie beschäftigten sich nicht mehr mit sozialen Problemen und Verteilungsfragen, sondern mit Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten, der moralischen Haltung.

Wie hätte Kant Aufklärer sein können, wenn er kein kategorischer Moralist gewesen wäre? Wagenknechts Begriffs-Wirrwarr ist kein Einzelfall. Das Land der Denker ist verkommen zum Land der Blinden und Begriffsstutzigen.

Lassen wir Engels zu Worte kommen, der mit seinem Freund ein Herz und eine Seele war:

„Engels weist deshalb jede Zumutung zurück, „uns irgend welche Moral-Dogmatik als ewiges, endgültiges, fernerhin unwandelbares Sittengesetz aufzudrängen, unter dem Vorwand, auch die moralische Welt habe ihre bleibenden Prinzipien, die über der Geschichte und den Völkerverschiedenheiten stehen.“ (in Woltmann, Der historische Materialismus)

Fernlenkende Geschichte – oder selbstlenkende Moral? Wagenknecht wütet gegen die Selbst-Gerechten. Doch wer Aufklärung will, muss selbst-gemachte Gerechtigkeit wollen. Sie wäre das Geheimnis aufgeklärter Autonomie.

Fortsetzung folgt.