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nichtsdesto-TROTZ LXXXIII

Tagesmail vom 15.10.2021

nichtsdesto-TROTZ LXXXIII,

„Am Montag nach der Bundestagswahl bin ich in den ICE nach Dortmund eingestiegen, und als ich auf meinem Platz saß, war ich so verzweifelt und leer, dass ich fast geweint hätte. Obwohl wir am 24. September mit „Fridays for Future“ mehr als eine halbe Million Menschen in ganz Deutschland auf die Straße gebracht haben und obwohl der Klimawandel der Mehrheit der Bevölkerung bewusst ist, passiert quasi nichts. Immer noch hat keine Partei einen Plan, um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, und es werden immer noch Parteien gewählt, die die Klimakrise wie ein beliebiges Thema behandeln. Das ist frustrierend, und in meinen Kopf schwebt seit der Bundestagswahl immer wieder der Gedanke des Aufgebens, sich der Angst hinzugeben und einfach mein Leben zu leben. Dieser Gedanke, der Gedanke an meine Zukunft erdrückt mich fast. Wie einfach es wäre, sich politisch nicht mehr zu engagieren und sich dem Lauf der Dinge zu ergeben. Um dieser scheinbar so einfachen Lösung zu entkommen, brauchte es nicht viel, außer einem Gespräch mit einer sehr guten Freundin, Helena. Auch sie hatte diese Gedankengänge schon, aber für sie war auch klar: Wir dürfen nicht aufgeben.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Die Stimme der Jugend. Wer sich ihr verschließen kann, wird sich allem verschließen, was die Denkungsart der Menschen verändern könnte.

Wer aber will die Veränderung der Denkungsart? Die Wachen wollen die Dinge verändern – das wäre schon sehr viel. Von jenen gar nicht zu reden, die alles lassen wollen, wie es ist. Denn sie sind, was sie anderen verbieten: sie sind zufrieden. Genügt es aber, nur Dinge und mechanische Abläufe verändern zu wollen?

Zufriedenheit ist eine moderne Hauptsünde. Denn sie will nicht mehr ins Grenzenlose fortschreiten. Sie begnügt sich mit dem, was sie erreicht hat. Obwohl sie keineswegs angekommen ist. Das Rätsel des Glücks, auf Erden zu leben, als ob man lebenssatt und friedlich sterben könnte: das hat sie nicht gelöst.

Ihre Zufriedenheit beruht auf einem Vergleich. Sie schaut auf andere und sieht – nicht ohne Selbstgefälligkeit –, dass jene es nicht so weit gebracht haben wie sie. Den Deutschen geht es nur um Vergleichszufriedenheit. Schneiden sie beim Vergleich besser ab als andere, reiben sie sich wohlgefällig die Hände.

Umgekehrt nicht anders. Nur wenn es ihnen vergleichsweise schlechter geht, sind sie bereit, ihre Zufriedenheit aufzugeben und die Nation zur Raison zu rufen. Das BER-Debakel wäre belanglos, wenn es den Chinesen nicht gelungen wäre, ein ähnliches Projekt in kürzester Zeit aus dem Boden zu stampfen.

Der Vergleich macht‘s, nicht die Substanz. Sind die Dinge aber nicht erst dann gut, wenn sie an sich gut sind? Solche „tiefen“ Denkerfragen nerven die Deutschen, die, oh Wunder, sonst stolz sind auf ihre Denker und Dichter.

Keine einzige Quizfrage der Milliarden Fragen in deutschen TV-Kanälen fragt nach Kants ewigem Frieden oder dem Verhältnis von Nietzsche und dem Dritten Reich. So wenig, wie man im Lande Luthers nach Gründen des Antisemitismus im Neuen Testament fragt. Oder was das 1000-jährige Reich mit der Erlöserreligion zu tun habe?

Diese selbstverschuldete Dummheit ist das Ergebnis eines Haben-Syndroms. Was man hat, braucht man sich nicht immer wieder erarbeiten. Man kann es in blasierte Dunkelheit abgleiten lassen.

Ein weiterer Grund kommt hinzu. Auf seine Denker kann man stolz sein, solange sie in Stummheit vermodern. Wer braucht schon ihr tiefsinniges Raunen, wenn man in der Welt nur durch Machen, Erfinden, Geld und Macht scheffeln zu Meistern des Universums aufsteigen kann?

Denken wird heute nicht mehr gebraucht. Im Gegenteil: es ist nur hinderlich beim Funktionieren. Risikofreundlichkeit und Wagemut hingegen sind heute die entscheidenden Kardinaltugenden. Bedenkenträger und Angsthasen bitte hinten anstellen und die Klappe halten.

Da der Zeitgeist das Denken ausrangiert hat, können gravierende Denk- und Wahrnehmungsfehler nicht mehr aufgespürt werden. Etwa die mangelhafte Verträglichkeit gemachter Dinge mit der Natur oder dem Wohlbefinden des Menschen oder die Unverträglichkeit klaftertiefer Widersprüche.

Was Widersprüche sind, ist dem Zeitgeist schnuppe, solange sie dem Machen nicht im Wege stehen. Der Langmut der Natur aber, die diese Widersprüche jahrtausendelang weggesteckt hat, ist heute an das Ende ihrer Geduld gekommen. Sie kann und will nicht mehr alles auf ihre Kappe nehmen.

Innerhalb kürzester Zeit ist sie dazu übergangen, die dreiste Überheblichkeit der Menschen mit Katastrophen zu beantworten. Die Natur schlägt zurück. Man könnte ihr den Vorwurf machen, die Aggressionen ihrer Sprösslinge in engelgleicher Geduld viel zu lange erduldet zu haben. Warum hat sie nicht früher die Zuchtrute benutzt? Vielleicht wären wir früher zur Einsicht gekommen.

Solche Spekulationen sind müßig, solange wir uns der dringenden Aufgabe widmen müssen, den anschwellenden Katastrophen durch Veränderung unseres Verhaltens zu widerstehen.

Tun ist Frucht des Denkens und Fühlens. Wollen wir es verändern, müssen wir unsere Denkungsart ändern. Dass wir unsre Taten verändern müssen (lieber heute als morgen), darüber herrscht allmählich ein wachsender Konsens. Was zeigt, dass der Mensch kein stumpfsinniges Geschöpf der Evolution sein kann.

Dennoch fehlt das Wichtigste: was sind die Ursachen der Naturverschandelung des homo sapiens, dessen Vernünftigkeit offenbar nicht ausreicht, um sich klug und weise in der Natur einzurichten. Warum läuft er selbstmörderischen Amok?

Denkerische Ursachen sind die Gründe des Handelns. Wenn wir in ein ausbalanciertes Verhältnis mit der Natur kommen wollen, müssen wir denkend und forschend unser Denken ergründen. Die Ursachen müssen in der Vergangenheit liegen, weshalb wir uns mit unserer Geschichte beschäftigen müssen. Nicht nur im Konstatieren von Fakten und Tatsachen, sondern im Überprüfen unseres Denkens, das sich in der Vergangenheit entwickelt hat.

Was erforderlich ist, wäre eine Selbstbesinnung, an der sich die ganze Gattung beteiligte. Nein, keine Variante der globalen Wirtschaft, sondern eine völkerumspannende Erinnerungsarbeit.

Wo immer Philosophie entstand, stand sie unter dem bewussten oder unbewussten Motto: Mensch, erkenne dich selbst. Heute müsste das Motto lauten: Menschheit, erkenne dich selbst, von Ost bis West, von Süd bis Nord. Hör auf mit deinem schädlichen Wirtschaftskonkurrieren, deinem idiotischen Aufrüsten, deinem Fortschrittswahn, der deine Existenz ruiniert. Ändere deine Denkungsart. Wie das geht? Fragen wir einen Meister des Denkens:

„Die Denkungsart besteht in Maximen, dem Intellektuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht zu verschaffen. Durch eine Revolution der Denkungsart wird der Mensch gut.“

Sprach Meister Kant. Stimmen wir ihm zu? Nicht ganz. Denken ist keine Übermacht über Sinnlichkeit. Vernunft ist kein Freud‘sches Über-Ich, das über die andern Instanzen des Menschen die Macht der Zensur hätte. Auch Sinnlichkeit, Gefühle, Gemüt sind Methoden der Erkenntnis. Mit jeweiligen Vorteilen und Nachteilen. Von der Vernunft müssen sie ebenso überprüft werden, wie diese von jener. Denn Vernunft ist in der Gefahr, sich abstrakt zu verrennen, Gefühle setzen sich ihrerseits allzu leicht empfindungsmäßig absolut. Beide müssen ihre Schwächen ausgleichen, indem sie ihre jeweiligen Stärken anerkennen.

Wahre Vernunft ist die Einheit aller menschlichen Erkenntnisvermögen. Das gegeneinander Ausspielen von gefühlloser Vernunft und unvernünftigen Gefühlen war ein Hauptgrund der Spannungen zwischen den westlichen Staaten Frankreich/England auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite. Der Zwiespalt dieser beiden Denkweisen wurde so extrem, dass er zu einer Hauptursache des Ersten Weltkriegs wurde. Die Deutschen fühlten sich als Weltmeister im Denken, während der Westen nur aus Krämern und Händlern bestünde.

Die demokratischen Vernunftstaaten standen dem antidemokratischen Deutschland mit seinen irrationalen Lebensphilosophien gegenüber. Das bisschen Demokratie der Weimarer Republik war viel zu schwach, um diesen Zwiespalt zu überbrücken. Fast alle deutschen Gelehrten standen der Republik feindlich gegenüber. Ein Heidegger machte aus der deutschen Gemütssuppe eine Philosophie, die er in seinem Buch „Sein und Zeit“ beschrieb.

Was sie im Einzelnen bedeutet, zeigt ein Verdammungsurteil Heideggers über den neukantianischen Philosophen Hönigswald:

„Hönigswald kommt aus der Schule des Neukantianismus, der eine Philosophie vertreten hat, die dem Liberalismus auf den Leib zugeschnitten ist. Das Wesen des Menschen wurde da aufgelöst in ein freischwebendes Bewusstsein überhaupt und dieses schliesslich verdünnt zu einer allgemein logischen Weltvernunft. Auf diesem Weg wurde unter scheinbar streng wissenschaftlicher philosophischer Begründung der Blick abgelenkt vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlieferung seiner Herkunft aus Boden und Blut. Damit zusammen ging eine bewusste Zurückdrängung jedes metaphysischen Fragens, und der Mensch galt nur noch als Diener einer indifferenten, allgemeinen Weltkultur. Aus dieser Grundeinstellung sind die Schriften Hönigwalds erwachsen. Es kommt aber hinzu, dass nun gerade Hönigswald die Gedanken des Neukantianismus mit einem besonders gefährlichen Scharfsinn und einer leerlaufenden Dialektik verficht. Die Gefahr besteht vor allem darin, dass dieses Treiben den Eindruck höchster Sachlichkeit und strenger Wissenschaftlichkeit erweckt und bereits viele junge Menschen getäuscht und irregeführt hat.“ (wikipedia.de)

Scharfsinnige Logik, Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit auf der einen Seite, irrationales Verbundensein mit Blut, Boden und nationalen Erwählungsgefühlen auf der anderen. Noch heute spielen diese Kategorien eine nicht geringe Rolle, wenn auch in wechselnden Lagern.

Merkels Politikstil wird gerühmt, weil er sachlich und wissenschaftlich sei. Ihre esoterische Religion mit endlosen Widersprüchen hingegen wird ignoriert. Ihr Auftreten gilt als cool und frei von aller zickigen Gefühligkeit. Doch ihre bizarre Politik, der Verfall Deutschlands auf allen Gebieten, darf mit ihr nicht das Geringste zu tun haben.

Angelas madonnenhafte Unfehlbarkeit schwebt über allen Wassern. Anstatt die Kanzlerin als fromme Esoterikerin anzugreifen, prügeln ihre medialen Vasallen lieber wirre Straßendemonstranten als Esoteriker. Diese projektiven Schuldzuschreibungen nennen sie: berichten, was ist.

Der Mensch ist vernünftig, wenn all seine diversen Erkenntnisinstanzen zur Einheit gekommen sind. Kalte Vernunft misstraut nicht mehr den Sinnen, Gemüt hasst keine strenge Logik mehr. Was der Mensch fühlt, kann er bewusst benennen und logisch weiterentwickeln; was er denkt, kann er instinktiv als wahr empfinden.

Der Mensch gleicht einer internen Polis, in der alle unterschiedlichen Denk- und Fühlweisen zusammenkommen, um ihre Differenzen durchzustreiten. Weil dem so ist, muss Demokratie als die wahre menschliche Politgemeinschaft angesehen werden.

Deutschlands irrationale Wendung gegen die „westliche“ Vernunft gilt noch heute. Vernunft und Gefühle müssen noch immer verfeindet sein. Vernunft als Über-Ich spielt das Erbe der klerikalen Unfehlbarkeit – doch nur gelegentlich.

Noch öfter gelten irrationale Capricen als genial-göttliche Eingebungen. Vor allem in der Kunst, deren „Freiheit“ jeden unausgegorenen Unsinn als neueste Offenbarung präsentieren darf. Wobei sie zumeist unfähig und unwillens ist, ihre Inspirationen zu erklären, geschweige gegen Kritik zu rechtfertigen. Sie tut – und also ist es unangreifbar. Beispiel:

„Die Gefühllosigkeit, Gleichgültigkeit, Gottlosigkeit klagt Liddell an. Auch die Fridays-for-Future-Generation kriegt ihr Fett weg: „Eisig, scheinheilig, geizig und umweltbewusst würzen sie punktgenau ihren nachhaltigen Durchfall. Scheiß auf die Nachhaltigkeit.“ Liddell beschwört die Theokratie, die überrationalisierte Welt habe die Menschen zu Idioten gemacht. … Sondern weil Liddell das Loblied auf den Mann als solchen singt, dem sie bis in alle Ewigkeit die Füße küssen möchte – während sie alle Frauen verbannen will. Jenseits der 40 würden Frauen zu überheblichen „Männerhasserinnen“, die sagen: „Was früher kein Verbrechen war, ist heute eins.“ … Letztlich fordert die Künstlerin in „Scarlet Letter“ einmal mehr unbedingtes Begehren, das sich keine Regeln auferlegen lässt. Fraglich nur, ob es derzeit wirklich einen Abend braucht, der Patriarchat und Heterosexualität als das einzig Wahre feiert. Liddell ist und bleibt ein so furioses wie notwendiges Korrektiv für ein Theater, in dem sich die lauwarme Besserwisserkunst brav darauf zurückzieht, auf der moralisch und politisch richtigen Seite zu stehen.“ (TAZ.de)

Voila, das Konzentrat des deutschen Aufstands gegen alles Vernünftige, Religionskritische, Moralische, berechenbar Verlässliche und Nachhaltige einer rationalen, lebensfreudigen Philosophie und Politik. Früher war der Westen der Feind, heute ist Deutschland selbst gespalten in vernünftige und vernunftfeindliche Politik.

Das Rationale findet man eher bei politischen Journalisten, die irrationalen Genieanbeter eher in den Feuilletons. Deren Heiliger ist noch immer Karl Heinz Bohrer, der Ernst Jünger und seine heutigen Epigonen anhimmelte.

Merkels große Politik ist irrational und plätschert ambitionslos im Fatalistischen, ihre handwerkliche Methode hingegen sachlich und wissenschaftlich. Ihre Bewunderer schließen von ihrer handwerklichen Nüchternheit auf den jeder Vernunft entbehrenden politischen Inhalt.

Ähnliches gilt bei der medialen Bewertung ihrer Gesamtbilanz. Würde man rationale Kriterien wählen, müsste man zuerst die Frage beantworten: was ist überhaupt rationale Politik?

Antwort: rationale Politik ist der Versuch, das Leben einer Nation (oder der Menschheit) lebensfähig zu gestalten. Überleben und vitales Leben müssen eine Einheit bilden. In der heutigen Sprache nennt man dieses Vernunftziel Utopie oder Vision. Beide werden von den „nüchternen Pragmatikern“ als idealistische Träumerei oder gar als zwangsbeglückender Platonismus diffamiert.

Dies wiederum bedeutet: Vernunftkriterien zur Beurteilung der Politik gibt es nicht. Jede Politik müsste daraufhin überprüft werden, ob sie rationale Ziele hatte und in welchem Maße es ihr gelungen ist, diese Ziele zu erreichen. Merkel (in Konkordanz mit ihren Edelschreibern) lehnt jedes rationale Sollen (oder Vision) als Fata Morgana ab. Was bleibt übrig von rationalem Denken, Wollen, Tun und selbstkritischem Prüfen? Nichts.

Wie Merkel sind auch ihre treuen Schreiber unausgesprochene Gegner der Aufklärung. Selbstbewusste Aufklärer schrieben kompromisslose Bücher, mit deren Schärfe sie dem Ungeist ihrer Zeit ins Angesicht widerstanden. Ihre Meinung hielten sie nicht „objektiv“ hinterm Berg, mit der absurden Begründung, sie wollten die Bevölkerung nicht „besserwisserisch“ bevormunden. Viel zu sehr waren sie von der Vernunft der Menschen überzeugt, die sehr wohl in der Lage wäre, fremde Meinungen unter die Lupe zu nehmen. Wurden sie überzeugt, hatten sie autonom dazugelernt; waren sie nicht überzeugt, hatten sie sich selbstbewusst mit ihnen auseinandergesetzt.

Heutige Edelschreiber sind Duckmäuser, die ihre Meinungen mit der Begründung verleugnen, dass sie unmündige Leser nicht überwältigen wollten. Die blanke Hybris.

Heute ist das Unerwartete geschehen. Ulrike Herrmann von der TAZ legte klar, dass sie frank und frei ihre Meinung sagen und ihre politische Position offenlegen würde: ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der Aufklärung in einer immer religiöser werdenden Demo-Theokratie.

„Die LeserInnen sollen wissen, dass ich nicht neutral bin. Denn Neutralität gibt es nicht. Wenn eine objektive Wahrheit existieren würde, wären Kommentare und Meinungsartikel genauso sinnlos wie verschiedene Zeitungen, die auf unterschiedliche Lesergruppen zielen. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Welt oder die FAZ eine völlig andere Weltsicht haben als die taz und ihre GenossInnen.“ (TAZ.de)

Was Merkels langfristiges Ziel ihrer Politik war, enthüllt sich auf ihrer momentanen Abschiedstournee, wo sie in fast schamloser Weise Preise und Auszeichnungen als Vordenkerin Europas einkassiert, obwohl sie die europäische Solidarität lange genug in hemmungsloser „no bail-out“ Politik untergraben hat. Alle Bemühungen Macrons zur Stabilisierung der europäischen Einheit hat sie kühl ins Leere laufen lassen.

Besonders ein Besuch zeigte unverhüllt ihre wirklichen Ambitionen:

„Freudig geht der alte Herr ihr entgegen, es ist schon ihr fünftes Treffen. Sie lächeln das gelöste Lächeln zweier Christen, die hart geschuftet haben – sie, um die CDU, er, um die Kirche in die Zukunft zu führen. Beide haben zwar bella figura gemacht in den Weltkrisen, doch zu Hause wurden sie von den eigenen Leuten bekriegt. Beide reagierten beherzt auf die Not der Flüchtlinge und machten sich damit Feinde zuhauf. Beider Arbeitsstil lässt sich mit einem Lieblingsspruch von Franziskus beschreiben: „Die wahre Macht ist der Dienst.“ Damit das Gespräch mit Franziskus wirklich vertraulich bleibt, hat sie ihren eigenen Übersetzer mitgebracht. Denn dies ist ein Familientreffen.“ (ZEIT.de)

Ein ökumenisches Familientreffen zweier Christen, die in der Flüchtlingspolitik versagt haben. Bei Merkel mit einer einzigen Ausnahme, die für das restliche Totalversagen stets als Alibi herhalten muss. Der Papst tut ohnehin nichts anderes, als fromme Sprüche abzusondern. Bella figura: das allerdings haben sie beide perfekt inszeniert. Der Schein muss genügen, wenn die Substanz vollständig fehlt.

Europa versagt auf der ganzen Linie. Nicht nur bei Flüchtlingen, sondern bei der ungeheuren Zahl der Verhungernden in der ganzen Welt.

„811 Millionen Menschen auf der Welt hungern, 41 Millionen stehen am Rande einer Hungersnot. Sie stehen auf mit leerem Magen, legen sich hin mit leerem Magen, jeden Tag ein bisschen schwächer. Oft müssen sie zusehen, wie ihre Kinder zu schwach werden, um zu leben. Sie schreiben einen andauernden Menschheitsskandal fort, ihren größten vielleicht – dass Zehntausende täglich zugrunde gehen, obwohl inzwischen die Kapazitäten da wären, dies zu verhindern. Erneut ist die deprimierende Erkenntnis bestätigt, dass ganz sicher nichts wird aus dem globalen UN-Ziel, bis zum Jahr 2030 den Hunger besiegt zu haben.“ (Sueddeutsche.de)

Der fromme Spruch: „Die wahre Macht ist der Dienst“ entlarvt tatsächlich das Geheimnis des Merkel‘schen Erfolgs: sie kann den schönen Schein erwecken, als ob sie diene. In Wirklichkeit ist das demütige Dienen der jesuanische Motor ihrer gewaltigen Macht. Nicht zufällig wird beim militärischen Zapfenstreich der preußische Choral intoniert: Ich bete an die Macht der Liebe.

Merkels Ziel war die europäische Vereinigung unter dem Motto der Romantik: zurück ins christliche Mittelalter, wo unter der Ägide von Thron und Altar die vereinigten europäischen Völker die segnende Hand ihres Gottes spürten:

„Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. – Eine zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohlthätige Macht zu befestigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost oder Hülfe, Schutz oder Rath bei ihm suchten, und gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehn und Gehör, und alle pflegten diese auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer, wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete.“ (Novalis, Die Christenheit oder Europa)

Bei diesem Segenswerk sollten die Deutschen die entscheidende Rolle spielen:

„Die deutsche Nation ist … durch ihre Lage im Mittelpunkte Europens, und noch mehr durch ihren edeln und großmütigen Charakter bestimmt, die erste Rolle in Europa zu spielen.“ (Madame de Staël)

Für Fichte, den Philosophen der Romantik, war Deutschland prädestiniert, die Welt mit seinem vorbildlichen Wesen zu missionieren. Peter Thiel aus dem Silicon Valley meinte nichts anderes, als er die Deutschen an ihre einstige geniale Führungsrolle erinnerte. Allerdings sprach er weniger philosophisch als technisch. Tatsächlich wurde Fichtes philosophische Grandiosität zur technischen Grandiosität der Programmierer.

Brauchen wir eine kantianische Revolution unserer Denkungsart? Nicht zum Zweck der Überwindung des radikal Bösen im Menschen. Das war ein bedauerliches Überbleibsel des jungen pietistischen Königsbergers.

Dennoch benötigen wir eine geistige Gesamt-Revolution: alles, was unser Leben vorder- und hintergründig bestimmt, muss auf den Tisch. Radikal und rückhaltlos.

Fortsetzung folgt.