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nichtsdesto-TROTZ LXXVIII

Tagesmail vom 04.10.2021

nichtsdesto-TROTZ LXXVIII,

„Solange ich nicht sehe, dass man eines der vornehmsten Gebote des Christentums, seinen Feind zu lieben, nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Christen sind, die sich dafür ausgeben.“ (Lessing, 1749)

Was bedeutet der Satz Lessings zur Beurteilung der christlichen Demokratie von 2021?

Dass wir in Sachen Aufklärung kontra Christentum um drei Jahrhunderte zurückgefallen sind.

Unsere heutige Demokratie, dem totalitären Regime der Kleriker in vielen Jahrhunderten unter Kämpfen und Opfern abgetrotzt, hat sich seit Kriegsende erneut in einen christlichen Schutzmantel geflüchtet. Das demokratische Gerippe, so die Begründung, sei ohne religiöse Umhüllung nicht lebensfähig.

Der Klerus beider Religionen mit seinen theologischen Ministranten arbeitet unermüdlich an zwei Projekten:

1) am Nachweis, dass Demokratie zu Unrecht als Frucht heidnischer Griechen ausgegeben wird. Tatsächlich entstamme sie dem Geiste der Bergpredigt

2) an der Behauptung: sollte die Polis dennoch aus Athen stammen, wäre sie nicht überlebensfähig ohne den Lebenshauch jesuanischer Predigt.

Die politische Idee der Griechen mag ja gut gemeint gewesen sein: doch ohne Absicherung durch eine christliche Schutzhülle sei sie nicht existenzfähig. Der katholische Publizist Heribert Prantl nennt das Böckenförde-Diktum die Einsteinformel der Staatsrechtslehre:

„Zum 80. Geburtstag nannte ihn diese Zeitung den „Einstein des Staatsrechts“ – weil er einen Satz prägte, der das ewige Leben hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Man nennt diesen Satz das „Böckenförde-Diktum“. Es ist das E = mc² der Staatsrechtslehre.“

Der uralte Streit zwischen irdischem und überirdischem Reich geht ununterbrochen weiter, in Deutschland mit klarem Vorrang der Kirche über den Staat.

Keine staatliche Feier von Rang ohne Schutz von Kirchen und Domen. Die Reden der Politiker müssen eingerahmt werden von priesterlichen Worten und Riten. Und dies, obwohl immer mehr Gläubige die Kirchen verlassen.

„Auftakt der Einheitsfeierlichkeiten im sachsen-anhaltischen Halle war ein ökumenischer Gottesdienst in der Pauluskirche, der von den leitenden Geistlichen der christlichen Kirchen in Sachsen-Anhalt, einem Rabbiner und einem Vertreter des Dachverbandes islamischer Gemeinden gestaltet wurde. Bischof Gerhard Feige sagte in dem Gottesdienst, den Christen, Juden und Muslime gemeinsam feierten, populistischen Kräften müsse man kritisch und widerständig begegnen. Komplizierte Probleme ließen sich nicht mit „hohlen Phrasen oder markigen Parolen“ lösen.“ (ZEIT.de)

Aus taktischen Gründen haben sich alle drei Erlöserreligionen verbündet – die einst um Sein oder Nichtsein gegeneinander wüteten –, um ihre einflussreichen Rollen im Staat nicht zu riskieren.

Früher behandelten sie alle Gottlosen oder Andersgläubige als minderwertige, fluchwürdige Wesen. Lessings phänomenales Drama „Nathan der Weise“ – heute in der Versenkung verschwunden – hatte gegen die Menschenfeindschaft der drei Religionen energisch Stellung bezogen:

„Sind Christ und Jude eher Christ und Jude – als Mensch?“ – Der Klosterbruder ruft dem Juden Nathan zu: „Nathan, Ihr seid ein Christ, ein bessrer Christ war nie.“ Und Nathan wendet sich an den Tempelherrn:

„Ach, wenn ich einen mehr in Euch gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch zu heißen.“

Lessing benutzt das Wort Demokratie nicht, doch sein Nathan war Urbild eines demokratisch toleranten, von aller Religion unabhängigen Menschen. Ein wahrer Mensch zeigt sich in seinen Taten, nicht in seinen Glaubensbekenntnissen – die Andersgläubige in die Hölle zu verfluchen pflegen.

Die säkularen Gesetze der Demokratie werden sich hüten (wie lange noch?), Gläubigen einen höheren Status zu verleihen als Nichtgläubigen. Gleichwohl ist es den Kirchen gelungen, einen unsichtbaren Cordon um den Staat herum zu legen, der das Gefühl verbreiten soll: ohne Gottes Präsenz keine legitime Demokratie.

So fand die diesjährige Einheitsfeier in der Pauluskirche Halle statt. Zwar war der real existierende Sozialismus in Ossiland atheistisch gewesen. Doch wen juckt‘s? Umso triumphierender die ökumenische Gemeinschaft der Religionen, denen es gelungen war, die Mächtigsten des Staates zu versammeln.

Gemäß dem jesuanischen Wort: die Ersten werden die Ersten sein und die Letzten beißen die Hunde, saßen die führenden Männer und Frauen der Republik ganz vorne, dem Altar am nächsten. Vom Volk nichts zu sehen. Was haben staatliche Feiern mit dem Volk zu tun?

Ein Bischof jener Kirche, die sich nur noch mit pädophilen Priesterverbrechen auszeichnet, ohne jede demokratische Legitimation, erhält das Privileg, seine esoterische Meinung als Stimme des Staates zu verkündigen.

„Populistischen Kräften müsse man kritisch und widerständig begegnen. Komplizierte Probleme ließen sich nicht mit „hohlen Phrasen oder markigen Parolen“ lösen.“

Womit er meinte, Worte der autonomen Vernunft und kategorischen Moral seien nichts als hohle Phrasen und markige Parolen. Mitten in einer demokratischen Zentralfeier, in Anwesenheit der höchsten Repräsentanten der Legislative, Exekutive und Judikative, werden Grundprinzipien der mündigen Gesellschaft mit angemaßter himmlischer Autorität zersiebt.

Die Botschaft der priesterlichen Erlöser war unmissverständlich. Was sind die Gründe der jetzigen Krisen und des Verfalls der Demokratie? Der schwindende Glaube, die nachlassende Religiosität der Bevölkerung.

Was folgt daraus? Die Macht der Religionen muss vergrößert, ihr Einfluss auf die Massen wieder verstärkt werden, um die Demokratie vor dem Verfall zu retten.

Mit anderen Worten: Deutschland muss dem amerikanischen Vorbild folgen. Dort schaffte es die Religion, sich als fundamentalen Bestandteil der Demokratie einzunisten.

„Amerikas Zivilreligion als Teil einer neuen, weltweiten Zivilreligion – könnte als Erfüllung, nicht als Negation der amerikanischen Tradition angesehen werden – denn diese universale eschatologische Perspektive sei von Anfang an in der amerikanischen Zivilreligion enthalten gewesen.“ (Kodalle, Gott und Politik in USA)

Die Regression des Westens in mittelalterliche Theokratien würde durch Deutschlands Unterstützung der Religion verschärft werden. Deutschland verliert auf schleichenden Sohlen seine säkulare Basis und verwandelt seine republikanische Substanz in ein Gebilde, das ohne unsichtbaren religiösen Cordon in den Abgrund führt.

Zum ersten Mal seit ewigen Zeiten haben die christlichen Parteien die Wahlen verloren. Wer optimistisch sein möchte, könnte dies als hoffnungsvolles Zeichen betrachten, dass die Deutschen von Weihrauchschwaden die Nasen gestrichen voll haben.

Doch selbst, wenn es so wäre – die Massen wüssten nichts davon. Zur Neujustierung eines autonomen Bewusstseins aber würde eine bloß instinktive Abwehr des Heiligen nicht ausreichen. Sagen wir es optimistisch: Alles ist offen, nichts kann ausgeschlossen werden. Wer die deutsche Demokratie zukunftstauglich und naturverträglich mitgestalten will, darf das Thema Religion nicht vernachlässigen.

Dies wäre zugleich ein Kampf gegen die Eliten, die aus Kalkül die Religion als opiates Beruhigungsmittel zu schätzen wissen. Religion dient dazu, die Unterschichten zu still funktionierenden Maschinisten abzurichten.

Deutschland entwickelt sich zu einem Gebilde mit zwei monströsen Köpfen, die immer weiter auseinanderdriften. Der eine wirft sich in hektische Arbeit, um die Konkurrenten in aller Welt in Schach zu halten, der andere dämmert bewusstseinslos und mutterhörig vor sich hin, um seine Nichtigkeit mit Luxus und Allotria zu beschwichtigen.

Merkel hat zum Tag der Einheit eine Rede gehalten. Vielleicht die Abschiedsrede ihrer Kanzlerzeit.

Und schon beginnt der Reigen medialer Hymnen: es sei eine sehr persönliche Rede gewesen, schreibt Johann Stephanowitz in der ZEIT.

Trägt das sehr Persönliche dazu bei, die unpersönliche Politik tiefgründiger zu beschreiben? Was hat das Persönliche in einer unpersönlichen Politik zu suchen?

In Athen war Politik die Kunst des Allgemeinen, in dem alles Persönliche zu sich kommen konnte. Die Bindekräfte der Polis hatten die Aufgabe, das Auseinanderdriften von Besonderem und Allgemeinem auf ein erträgliches Maß zu zügeln. Nur wenn diese Aufgabe gelingt, kann Demokratie florieren.

Ich komme auf meine Kosten, wenn du auf deine Kosten kommst. Nein, das ist nicht Adam Smith, bei dem jeder seinen Egoismus auf Teufel komm raus realisieren muss, weil er darauf vertraut, dass die vielen Egoismen durch eine unsichtbare Hand zusammengeführt werden.

Das war der Denkfehler des Stoikers Smith, der an die Harmonie des Kosmos glaubte, hier aber einen Rückfall in die christliche Religion erlebte. Ein Gott musste her, um die fehlende Harmonie des Kosmos auszugleichen.

Bei den Griechen war der Mensch ein Teil der Natur, in der nichts so exorbitant war, dass es aus der Ordnung der Natur fiele. Ganz anders in der christlichen Moderne, in der jedes Individuum nur partiell ein Teil der Natur ist, im Grunde aber ein einmalig-isoliertes Geschöpf, für das der Herr eine ganz persönliche Berufung – oder Verwerfung – bereithält.

Gott erlässt keine allgemeinen Regeln für die Menschen, sondern behandelt jeden singulär und situativ anders. Jeder Mensch muss auf die persönliche Botschaft seines Gottes im wechselnden Hier und Jetzt achten. Alles hängt ab vom Kairos, der rechten Zeit, die der Fromme als Stimme Gottes erbitten muss.

Merkel ist ein Geschöpf der DDR. Eine sehr persönliche Ansprache von ihr wäre sinnvoll, wenn ihre Biographie typisch für die Entwicklung der DDR gewesen wäre. An ihrem privaten Schicksal hätte sie das Überprivate des real existierenden Sozialismus illustrieren können. Tat sie aber nicht.

Streng genommen sprach sie nicht über sich. Sonst hätte sie berichten müssen, wie eine lutherische Pastorentochter im atheistischen Sozialismus aufwachsen konnte. Hätte sie nicht benachteiligt sein müssen, wenn wahr gewesen wäre, dass Christen ein hartes Schicksal in der DDR zu erdulden hatten? Hätte sie nicht ins Grübeln kommen müssen, wie Marx und Christus zusammenpassen? War sie nicht ein Mitglied der privilegierten Gemeinde ihres Vaters?

Fast alle Probleme, die noch heute zwischen Ost und West herumschwirren, betrafen sie nicht. Was war die DDR? Ein totalitärer Unrechtsstaat – oder nur die schlechte Variante eines Rechtsstaates? War die Vereinigung der beiden deutschen Staaten kein kalter Sprung des Ostens in die Freiheit des Westens?

Die Beurteilung des Westens war: die DDR ist ein Unrechtsstaat, eine sozialistische Diktatur, ja eine totalitäre Variante des Stalinismus, nichts als eine sowjetrussische Kolonie ohne jede Möglichkeit, sich selbständig zu entwickeln.

Erst, als in Polen die Arbeiter zu rebellieren, in Moskau ein Gorbatschow den Stalinismus zu beseitigen begann, konnte der Funken auch in die DDR überspringen, um dort die Freiheitsbewegung zu entzünden.

War Merkel ein Teil dieser Bewegung? Nicht im Geringsten.

„Ihr Senkrechtstart in die gesamtdeutsche Geschichte beginnt mit einem Tarnkappenflug beiderseits der Mauer. Stumm, fast inkognito saß sie in Versammlungen – und schwieg.“ (Höhler, Die Patin)

Wenn sie nicht „schweigend und skeptisch in der Ecke saß“, schloss sie Computer an, statt Reden zu halten oder klar ihre Meinung zu sagen. Hatte sie keine Probleme mit dem diktatorischen System? „Am meisten störe sie an der DDR, dass es keinen anständigen Joghurt gebe“, vertraute sie einer Wessi-Frau an. Ihr Motto schien zu sein: sich niemals verraten durch Gefühlsausbrüche. Immer schweigen und bedeckt halten! Keine Bekenntnisse, nicht berechenbar werden.

Sind das demokratische Fähigkeiten? In der Rede ermahnt sie: „Demokratie ist nicht einfach da, sondern wir müssen immer wieder für sie miteinander arbeiten, jeden Tag.“ (Berliner-Zeitung.de)

Doch wie immer: es bleibt bei Andeutungen. Wie wird Demokratie täglich erarbeitet? Welche Fähigkeiten müssen wir lernen? Was müssen wir können? Keine Antwort. War die Pastorentochter ein Vorbild, um in geschwisterlicher Auseinandersetzung mit dem Westen demokratische Verhältnisse herzustellen? Tat sie nicht das Gegenteil? Nämlich schweigen, nicht standhaft kämpfen, keine klärenden Gespräche führen?

Was tat sie stattdessen? Still und heimlich schlug sie den Pfad zur Macht ein. Eine persönliche Karriere war ihr wichtiger als alles andere. Anpassung wurde zu ihrem Losungswort.

Anpassung aber ist Unterordnung unter herrschende Verhältnisse. Niemand würde ihr verübeln, dass sie längere Zeit benötigte, um die Melodien der Demokratie zu verinnerlichen. Sie müsste es nur frank und frei bekennen. Tut sie nicht. Da drängt sich die Deutung auf: kann es sein, dass sie sich – wider allen Augenschein – ihrer Machtkarriere schämt, weil diese ohne Substanz blieb?

Was sie am besten konnte, war Macht. Das Erhalten und Stabilisieren von Einfluss und Bedeutung mittels gekonnter Posen eines christlichen Understatements, die im Westen immer dem Augenschein nach beurteilt wurden.

Die demütige Magd mit den sachlichen Fähigkeiten, den alltäglichen Kleinkram zu bewältigen. Aber ohne jeden Ehrgeiz, die Humanisierung Deutschlands und der Welt voranzubringen. Ganz augustinisch begnügte sie sich damit, den Saustall der civitas terrena nicht völlig verkommen zu lassen, aber auch nicht „utopisch“ aufbessern zu wollen.

Über ihren lutherischen Glauben verlor sie kein einziges Wort. Womit sie die religiöse Taubheit ihrer Untertanen nur bestärkte. Eine Pflicht, die Öffentlichkeit in sachlichen Fragen aufzuklären, dass sie sich selbst ein Urteil – etwa über Impfen – bilden kann, kennt sie nicht. Stattdessen setzt sie auf Anordnungen und Erlasse, deren Rigidität sie mit sanften Beschwichtigungsformeln entschärfen will.

Kein einziges Problem des Ossi-Wessi-Konflikts erwähnte sie, um bessere Lösungen vorzuschlagen. Etwa die umstrittene Frage: entsprach das totalitäre Erbe der DDR nicht dem totalitären Erbe der NS-Zeit im Westen? Hätten die Ossis nicht dieselbe Pflicht, ihre sozialistische Vergangenheit zu bearbeiten, wie der Westen seine nationalsozialistische?

Für keine Seite gäbe es einen Grund sich über die andere erhaben zu fühlen. Die Probleme sind symmetrisch. Jede Seite hätte genug zu tun, vor der eigenen Tür zu kehren. Woher die bornierte Überheblichkeit des Westens über seine „Brüdern und Schwestern“, die die Erblast des Weltkriegs noch länger zu tragen hatten?

Wer sich allerdings einbildet, sich mit keiner Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen: dem kann und sollte man mit Fug und Recht den Spiegel vor die Nase halten. Wer vor seiner Vergangenheit flieht, der hat keine Chancen, sich eine rationale Zukunft aufzubauen.

Statt solche brisanten Fragen aufzunehmen und zu klären, erzählt Merkel die sehr persönliche Geschichte einer Beleidigung durch einen Wessi-Journalisten, der über sie die Sätze geschrieben hatte:

„»Sie, die als Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein ‚von der Pike auf’ sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung sein.«
Die DDR-Biografie, also eine persönliche Lebensgeschichte von in meinem Fall 35 Jahren in einem Staat der Diktatur und Repression – „Ballast“? Dem Duden nach also eine „schwere Last, die“ – in der Regel – „als Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt wird“ oder als „unnütze Last, überflüssige Bürde“ abgeworfen werden kann.
Ich möchte es vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die Deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben – und zwar als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich. Ballast eben, bestenfalls zum Gewichtsausgleich tauglich, im Grunde aber als unnütze Last abzuwerfen. Ganz gleich, welche guten und schlechten Erfahrungen man mitbrachte: Ballast.“ (ebenda)

Eine glatte Fehldeutung der lamentierenden Art. Unter Ballast können, sofern der Journalist nicht von allen guten Geistern verlassen war, keine „ganz persönlichen“ Erfahrungen gemeint sein. Nein, es kann nur die Last der Diktatur gemeint sein, unter der alle leiden mussten.

Wenn Fremde sich begegnen, hat jeder das Recht, seine Geschichte zu erzählen, um sich dem Anderen verständlich zu machen. Gleichermaßen hat er sich die Geschichte des Fremden anzuhören, um dessen Biographie zu verstehen.

Lag es nicht an der Stummheit der Kanzlerin, dass der Eindruck entstehen konnte, ihre DDR-Vergangenheit sei nichts als eine Last gewesen? Hatte sie je über ihre Vergangenheit so erzählt, dass der Westen die Chance gehabt hätte, sie zu verstehen?

Auch in der Einheitsrede spricht sie nicht wirklich über sich. Selbstmitleidig erzählt sie eine Nichtigkeit, um das Große und Ganze vergessen zu machen. Eine Methode, die sie überall anwendet. Eine gute Flüchtlingstat, doch viele Flüchtlinge müssen verderben.

Es ist das Grundgesetz des Christentums: Bei Gott zählt nur das Erwählte, Extraordinaire, für die 99 verlorenen Schafe gibt es keinerlei Hoffnung.

Dann noch eine Kränkung. Offenbar musste Merkel viel Erniedrigendes und Demütigendes im Westen erfahren haben. Wer sich Respekt mit bloßer Macht erkämpfen muss, der wird unfähig, das ohne Macht daherkommende Beglückende auf sich wirken zu lassen:

„»Und sie tat etwas, was keiner ihrer Amtsvorgänger je getan hatte: Sie distanzierte sich einen Atemzug lang von der Republik, deren zweite Dienerin sie doch war. Sie sagte: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in der Flüchtlingskrise ein freundliches Gesicht gezeigt zu haben, ‚dann ist das nicht mein Land’. Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist.«
Keine geborene, sondern angelernte Bundesdeutsche? Keine geborene, sondern angelernte Europäerin? Gibt es zwei Sorten von Bundesdeutschen und Europäern – das Original und die Angelernten, die ihre Zugehörigkeit jeden Tag aufs Neue beweisen müssen und mit einem Satz wie dem in der Pressekonferenz durch die Prüfung fallen können?“ (ebenda)

Natürlich war sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche. Freiheit muss man täglich lernen, in Unfreiheit kann sie niemand einüben.

Weshalb es keine Diskriminierung bedeuten kann, die Ossis mit dieser Erfahrung zu konfrontieren. Wie der Westen nach Kriegsende die geschenkte Demokratie erst buchstabieren lernen musste, so muss der Osten nach dem Fall der Mauer freie Selbstbestimmung einüben. Dies zu erwähnen, ist so wenig eine Brüskierung wie die Forderung an die Wessis, ihre schreckliche Vergangenheit immer genauer aufzuarbeiten.

Welch ein Groll, vom Westen vorgeführt zu werden, muss in Merkel geherrscht haben – den sie mit unberührbarem Pokerface überspielen musste?

Was folgt aus all ihren Worten?

„Unser Land gilt es natürlich weiter zu gestalten. Wie genau – darüber lässt sich auch künftig trefflich streiten. Aber wir wissen, dass die Antwort darauf in unseren eigenen Händen liegt, dass wir einander zuhören und miteinander sprechen müssen, dass wir Unterschiede, aber vor allem auch Gemeinsames entdecken werden.“

Die Spezialistin des Persönlichen und Besonderen schwelgt in allgemeinen Plattitüden. Sie stellt Fragen, gibt aber keine Antworten. Ihre inhaltslosen Reden beschränken sich auf Selbstbeschreibungen: Ich habe mich bemüht, ich habe mein Bestes gegeben, ich habe meinen Teil beigetragen.

Ihre Analyse der Gegenwart bleibt erkenntnislos, übrig bleiben die Selbstbeschreibungen eines ängstlich-überforderten Kindes – das die geniale Fähigkeit besaß, zur mächtigsten Frau der Welt aufzusteigen.

Dialogische Fähigkeiten, historische Anamnesen, Verstehen anderer Völker, kritische Sicht des Neoliberalismus und technischen Fortschritts? Nichts davon.

Wäre Merkel die Leiterin einer Kantine, könnte sie mühelos die richtige Anzahl der Obst- und Gemüsekisten und jener vielen Dinge, die dort benötigt werden, bestellen, die Köche organisieren, für ihre pünktliche Bezahlung sorgen etc. Wo sie hingegen völlig überfordert wäre: sie hätte nicht die geringste Vorstellungskraft, aus den Gaben der Natur etwas Köstliches zu kochen.

Die existenzbedrohenden Konflikte der Gegenwart zu bewältigen und eine humane Zukunft zu erkämpfen, übersteigt die Fähigkeiten der Pastorentochter. Sie bleibt die getreue Magd des Herrn und die demütige Hüterin sündiger Fakten. Leb wohl, Angela!

Fortsetzung folgt.

Nachtrag.

Die letzte Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl erzählt in der Berliner Zeitung „warum Merkels Einheitsrede sie überrascht hat“:

„Aber wir wollen unsere Lebensleistung nicht im Mülleimer der Geschichte wiederfinden. Meine Kinder sind in der DDR geboren und konfirmiert worden. Ich lasse mir dieses Leben nicht schlechtreden. Wenn ein Staat untergeht, müssen nicht alle Menschen dort negativ bewertet werden, man muss immer die einzelnen Lebenswege betrachten. Eine politische Pauschalisierung des Lebens in Ostdeutschland ist nicht gerechtfertigt. Als Angela schon Bundeskanzlerin war, habe ich mal in einem Gespräch zu ihr gesagt: Ich weiß gar nicht, wie du das alles aushältst. Sie hat gesagt: Ich kann sehr gut abschalten.“ (Berliner-Zeitung.de)

Bergmann-Pohl hat Recht: kein Mensch darf negativ bewertet werden, weil er Negatives erleiden musste. Dennoch bedeutet es keine Pauschalisierung, wenn man die allgemeinen Strukturen des DDR-Systems erwähnt. Wer die Kraft hatte, sich dem System zu widersetzen, der hatte die Fähigkeit, seine Individualität standhaft gegen das inhumane Allgemeine zu verteidigen.

Als Bergmann-Pohl die Kanzlerin einmal fragte, wie sie die Widerwärtigkeiten der Politik aushalte, antwortete jene: „Ich kann sehr gut abschalten“.

Das ist die Sprache einer Funktionierenden, die sich keine „emotionalen Schwächen“ erlauben darf, um sich nicht schwach zu zeigen. Die Ebene der Politik ist eine Ebene unwahrhaftiger Scheinstärke. Macht darf sich nicht schwach zeigen, sonst muss sie Niederlagen befürchten.

Ich kann sehr gut abschalten, bedeutet psychisch: ich muss verleugnen und verdrängen, was ich an Ungemach erleben muss. Der Verleugner muss etwas sein, was er nicht ist: der Große, Unberührbare. Seine wirklichen Gefühle darf er weder wahrnehmen noch zeigen. Sein Ich verdrängt das Unangenehme in den Untergrund, dessen unbewusste Macht das Individuum immer mehr dominiert. Aber auch die Kapazitäten des Unbewussten sind nur begrenzt. Irgendwann beginnt der Untergrund zu rebellieren. Dann entstehen psychosomatische Phänomene, die dem Menschen unbekannt und bedrohlich erscheinen.

Könnte es nicht sein, dass es zwischen Merkels Verdrängungszwängen und ihrem plötzlich auftretenden Zittern, ausgerechnet bei Staatsempfängen, gewisse kausale Beziehungen gibt? Sie hält sich für einen kontrollierten Menschen, kann aber nicht sehen, dass das jahrelange Verdrängen der Schwächen ihre Selbstkontrollfähigkeiten überschritten hat. Bei Putin zeigt sie Ängste vor einem Hund, bei Staatsbesuchen zittert sie, im Vogelpark verzerrt sich ihr Gesicht in panischen Ängsten, weil sie sich von Vögeln attackiert fühlt.

Wen wundert es, dass Merkel psychologische Deutungen verabscheut. Vermutlich nicht der geringste Grund, warum sie in Coronafragen knallharte Virologen als Berater bevorzugt und Psychologen fernhält. Hat man je von ihr empathische Worte zur Lage der Kinder gehört, die endlose Wochen von ihrem gewohnten Leben abgeschnitten werden?

Merkel wehrte sich auch gegen die Rede des Ostbeauftragten, „Ostdeutsche seien diktaturgeschädigt und nicht demokratiefähig“.

Alle Menschen sind demokratiefähig, niemand wird als Faschist geboren. Dass die Menschen im Osten aber nicht diktaturgeschädigt sein sollen: das ist kollektiver Realitätsverlust. Das entspräche dem Urteil, Deutsche der NS-Zeit wären keinen totalitären Erfahrungen ausgesetzt gewesen. Zur selbstkritischen Aufarbeitung der DDR hat Merkel nur Phrasen beigetragen. Die Gaben selbstkritischer Analyse ihres Innenlebens scheinen ihr nicht gegeben.

In der ZEIT können wir folgende Passage lesen:

„Merkel zitierte auch eine Textpassage des Welt-Herausgebers Thomas Schmid, in der dieser ihr ihren Satz »Dann ist das nicht mein Land« vorhielt: „Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist.“ Merkels Antwort in der Rede verdient es, eingerahmt und unterstrichen zu werden: „Wer entscheidet, wer die Werte und Interessen unseres Landes versteht und wer das nicht tut beziehungsweise eben nur (…) in ‚angelernter‘ Weise?“ (ZEIT.de)

Angeborenes soll besser sein als Erlerntes? Das ist ein Triumph der Biologie und die Niederlage aller Erziehung und philosophischen Nachdenkens und Lernens. Hier spricht eine Naturwissenschaftlerin, die vom selbstbestimmten Geist des Menschen noch nichts gehört haben kann. Vielleicht auch die Sozialistin, die in Marx-Seminaren lernen musste, Geist sei nichts als Überbau, Ideologie, Unoriginelles und Minderwertiges. Das objektive Sein bestimme das schwatzhafte Bewusstsein.

Was geschieht hier, mitten in einer Rede auf der Einheitsfeier? Merkel nutzt dieses Forum, um sich für eine persönliche Kränkung coram publico zu rächen. Warum wählte sie nicht eine TV-Debatte, um WELT-Herausgeber Thomas Schmid im Streitgespräch ihre Meinung zu sagen?

Ihre Frage: „Wer entscheidet, wer die Werte und Interessen unseres Landes versteht und wer das nicht tut beziehungsweise eben nur (…) in ‚angelernter‘ Weise?“ könnte ihr jeder Demokrat beantworten: jeder entscheidet selbst, was er denkt. Das gehört zur Autonomie eines selbstbestimmten Volkes.

Natürlich hat sich das eigene Denken der Auseinandersetzung auf dem Marktplatz zu stellen. Das sind Grundwerte der Demokratie. Sollte es möglich sein, dass sie einer deutschen Kanzlerin unbekannt sind?

Wie reagierte das Publikum auf Merkels Rede? Rauschender Beifall auf allen Plätzen. Das war die Selbstentlarvungs-Feier einer abschüssigen Demokratie.

Fortsetzung folgt.