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nichtsdesto-TROTZ LXXIX

Tagesmail vom 06.10.2021

nichtsdesto-TROTZ LXXIX,

wie geht Auseinandersetzung in Deutschland?

Dummköpfe hassen und prügeln sich, greifen zur Pistole. Hatten sie je die Gelegenheit, in ihren Schulen den „herrschaftsfreien Diskurs“ zu lernen? Herrschaftsfreier Diskurs ist der Begriff unseres führenden Aufklärers Habermas für eine uralte Sache, die in Athen erfunden wurde: für den sokratischen Dialog auf dem Marktplatz.

Da es für Denker von Rang würdelos ist, sich auf uralte Erkenntnisse zu beziehen, müssen sie für das Alte nagelneue Begriffe erfinden. Nur so kommt man in die Annalen der Wissenschaft.

Schule ist kein herrschaftsfreier Raum, so wenig wie Uni oder Arbeitsplatz. Überall wird geherrscht mit Zensuren, Karrierechancen oder wirtschaftlichen Abhängigkeiten. Nur im dunklen Tann bei den sieben Zwergen kann man seine Meinung frei in den Wind brüllen – wenn man denn seine Meinung nicht schon verdrängt hat.

Denn selbst im Innern des Menschen lauert die Herrschaft: in der Instanz des Über-Ichs, das alles in den Keller verbannt, was den Ansprüchen der hohen Herrschaft nicht genügt.

Bruder Habermas: was noch mal verstehst du unter herrschaftsfreiem Diskurs? Was aber, wenn es in unserer ehrenwerten Gesellschaft kein Fleckchen herrschaftsfreien Raums gäbe?

„Jürgen Habermas bezeichnet in seiner Theorie des kommunikativen Handelns den Diskurs als Prozess einer Aushandlung von individuellen Geltungsansprüchen der einzelnen Akteure (bei Habermas auch als „Aktoren“ bezeichnet). Ein Merkmal der Sprache ist dabei nach Habermas die ihr innewohnende Rationalität. Die Ergebnisse einer Kommunikation – wenn sie frei ist von Verzerrungen durch Macht oder Hierarchien – sind ihm zufolge zwangsläufig rational. Als Ideal, als beste Versicherung für wahrhaftige Erkenntnisse, sieht er somit den „herrschaftsfreien Diskurs“ – aufgebaut auf Diskursnormen (Prinzipielle Gleichheit der Teilnehmer, Prinzipielle Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen, Prinzipielle Unausgeschlossenheit des Publikums) und authentischen Gefühlen. Die dadurch erreichte kommunikative Realität soll das beste Argument zum Gewinn bringen – auf welches weiter aufgebaut werden kann.“ (Wiki)

Hmm: Aktoren! Schmeckt leckerer als ordinäre Akteure. Klingt nach mathematischen Vektoren. Womit erwiesen wäre, dass Geisteswissenschaftler sich nichts sehnlicher wünschen, als von der mathematischen Präzision der Naturwissenschaften adoptiert zu werden.

Zuerst spricht Habermas die Sprache selig, indem er ihr eine innewohnende Rationalität zuschreibt. Oh yes, Sprache ist vernünftig. Ist sie aber nur vernünftig? Wie kann es dann sein, dass sie den Rationalen wie den Irrationalen als Verständigungsmethode dient? Die schlimmsten Menschheitsverbrecher haben ihre Völker mit Sprache eingeseift. Wie war das möglich, wenn sie nur vernünftig gewesen wäre?

Jetzt kommen wir nicht mehr an der Sprachphilosophie vorbei, die seit mehr als 100 Jahren die Gehirne der Intellektuellen in den Bann schlägt.

Wenn Mathematik die Sprache der exakten Wissenschaft ist, wie kann da die Alltagssprache mithalten?

Wer mit den idealen Methoden der Naturwissenschaften mithalten will, braucht selbst eine ideale Sprache.

„Die Philosophie der idealen Sprache betrachtet die natürlichen Sprachen als defizitär, da diese aufgrund verschiedener Ungenauigkeiten nicht den strengen Ansprüchen der Logik genügten. Ziel dieses Zugangs ist die Revidierung oder gar Ersetzung der natürlichen Sprachen für Zwecke der Wissenschaften durch eine ideale, formale Sprache. Als Begründer der Philosophie der idealen Sprache gilt der Mathematiker, Logiker und Sprachphilosoph Gottlob Frege.“ (Wiki)

Es musste ein Mathematiker sein, der die verhunzte Normalsprache auf Vordermann bringen wollte, indem er sie in eine Formelsprache zwang. Noch einen Schritt weiter – und wir landen bei digitalen Algorithmen, die sich inzwischen die Herrschaft über die Welt errungen haben. Bald werden Maschinen die Menschen besser verstehen, als Menschen die Maschinen.

Alles, was Fortschritt bringt, muss ideal sein. Ideal ist ein ander Wort für utopisch. Wie merkwürdig: just jene, die nichts von politischen Utopien halten, beten utopische Errungenschaften des Fortschritts an. Ihre Utopie ist ent-politisiert und technifiziert. Dem entspricht die Politik, die sie betreiben: inhaltlich substanzlos und hohl, bestimmt von blinder Fortschrittsgläubigkeit.

Wohl haben sie utopische Ziele, doch politisch dürfen sie nicht sein. Sonst müssten sie durch gemeinsames Lernen und Zusammenarbeiten realisiert werden. Mächtige Menschen aber, so erfuhren wir, wollen nichts lernen, sondern mit der biologischen Geburt alles intus haben.

Das nannte man früher, verzeiht Geschwister, Rassismus. In den besten Kreisen gilt es als Beleidigung, wenn man jemandem erfolgreiches Lernen attestiert. Dem entspricht der zunehmende Hang bestimmter Medien, Wunderkinder oder biologische Kindergenies zu präsentieren. Erziehung? Überflüssig und altmodisch. Wir brauchen ideale Naturware – und sollte es die nicht in perfekter Ausstattung geben, erfinden wir sie selber: als Intelligenzmaschinen. Endlich sind wir den Menschen, diese jämmerliche Missgeburt, los.

Was erleben wir? Die Enthumanisierung der Sprache und die Entwertung des Menschen zu einem biologischen Rohrkrepierer, der endlich überwunden werden muss!

Wussten frühere Zeiten nichts von der Gebrechlichkeit der Sprache? Natürlich wussten sie. Es wurde die vornehmste Pflicht der Philosophie, zwischen gutem und betrügerischem Gebrauch zu unterscheiden. Dort entstand der Begriff Liebe zur Weisheit oder Philosophie.

Liebe zur Weisheit war die Kunst des Unterscheidens zwischen einer Sprache, die zur Entdeckung der Wahrheit dient – und dem Bekämpfen einer menschenhassenden, die die Mitmenschen übers Ohr haut und betrügt. Da es viele subjektive Wahrheiten gab, kam es zum Wettstreit um die objektive Wahrheit, die dem Zusammenleben am nützlichsten ist.

Liebe zur Wahrheit brachte die Menschen auf den Pfad des Glücks, Rhetorik oder Überredungskunst führte die einen zur Macht, die anderen in den Zustand der Unmündigkeit.

Rhetorik oder die „Meister in der Überredung“ vermittelte die Fähigkeit, nicht die Wahrheit am höchsten einzuschätzen, sondern die List, „durch die Kraft des Wortes das Kleine groß und das Große klein erscheinen zu lassen.“

Diese Betrachtungsweise führte Gorgias zu seiner „Lehre von der berechtigten Täuschung.“ Für Gorgias dienten Dichtkunst, Schauspielkunst, Malerei und Plastik nicht der Wahrheit, sondern der trügerischen Lust und Macht.

Mittels Täuschung imaginieren sie eine Realität, die es nicht gibt. „Die Wirkung, die die Poesie durch ihre Art der „Seelenlenkung“ erzielt, ist die künstlerische Illusion. Hesiod ließ die Musen sagen: „Wir wissen viele Lügen zu erzählen, die der Wirklichkeit ähnlich sind.“ Vollends die Schauspielkunst war eine Kunst der „berechtigten Täuschung“.

Über solche Einschätzungen würde man heute nur lachen. Kunst darf alles, das ist die Rechtfertigung aller Illusionen, die gar nicht daran denken, ihre Gaukelkünste zu erklären. Von den Künsten kommen keine Anregungen mehr, wie man die Probleme der Welt verstehen oder kurieren könnte. Je bunter, irrealer und phantastischer, desto unverbindlicher.

Welche Auswirkungen hatte das Auseinanderdriften von Wahrheit und Täuschung? Es führte zur Theorie der beiden Naturrechte; dem Naturrecht der Starken und dem der Schwachen.

Das erstere lautete, dass „nicht das Starke von dem Schwachen aufgehalten, sondern das Schwache vom Starken beherrscht und geführt wird: das Starke geht voran, das Schwache folgt.“

Das zweite: „Gott hat alle Menschen freigelassen, die Natur hat niemand zum Sklaven gemacht.“

Gorgias formulierte die Lehre vom Willen zur Macht, die Nietzsche 2000 Jahre später als seine eigene Sensation präsentierte.

Demokratie ist kein Kinderspiel. Freiheit regt die Menschen an, unbekannte Gedanken zu präsentieren. Erst durch Freiheit werden alle guten und verderblichen Gedanken dazu verleitet, ins Bewusstsein vorzudringen, damit die Menschen sich mit ihnen auseinandersetzen können. Freiheit ist ein Vergrößerungsglas des Vorhandenen. Sie ähnelt einer Therapie, in der verschüttete Qualitäten ans Licht kommen, um auf demokratische Qualitäten überprüft zu werden. Das Menschenfeindliche muss überwunden, das Humane verstärkt werden.

Nehmen wir die Adligen. Solange es für sie selbstverständlich war, die Starken zu sein, standen sie unter keiner Nötigung, ihr Vorrecht zu begründen. Gab es doch niemanden, der ihnen dieses Privileg bestritten hätte.

Wenn aber die aufkommende Macht des Pöbels seine neuen Mitspracherechte verteidigt, indem er an den Privilegien der Adligen rüttelt, beginnen auch sie, ihre bedrohte Überlegenheit theoretisch zu untermauern. Das klingt etwa so:

„Wir sehen, dass die ganze Staatsverfassung auf den Vorteil der „schlechten Leute“ eingestellt ist, die die besoldeten Ämter für sich in Anspruch nehmen und sich auf Kosten der „rechten Leute“ – die ihnen geistig überlegen sind – amüsieren.“ Das ging so weit, dass es geradezu zum Schwur der Oligarchen kam: „Ich will dem Volke gesinnt feindlich gesinnt sein und so viel ich kann, zu seinem Schaden beitragen.“

Kurz: wenn sich die Verhältnisse ändern, wird der Kampf immer erbitterter. Wenn nicht mit Gewalt, dann mit immer polemischeren und gehässigeren Ideologien.

Suche nach der Wahrheit war die Urdisziplin der Demokratie. Denn zur Wahrheit gehörte die humane Einsicht, dass alle Menschen frei und von gleicher Würde sind.

Sind ethische Wahrheiten begründbar oder muss man an sie glauben, wie Fromme an ihren Gott glauben? Kann man mit rationalen Argumenten das Gute stringent herleiten und das Böse verwerfen?

Das ist eine der Grundfragen der Gegenwart, die aber nie klar debattiert, sondern mit Fußtritten unterm Tisch in gehässiger Weise ausgetragen werden. Haben die Deutschen den herrschaftsfreien Diskurs verinnerlicht? Auf keinen Fall. Je mehr der Mammon die Regie übernahm, je weniger wiegen Gedanken und dialogische Fähigkeiten.

Die Reichen meiden den Streit, da die Gefahr besteht, dass die Macht ihres Geldes durch die Macht der Wahrheit beschädigt werden könnte. Seit Dekaden gibt es im Wirtschaftswunderland keine erkenntnisleitenden Gespräche mehr, sondern nur noch rhetorisches Bluffen und endlose Monologe.

Werft alle Talkshows ins Archiv, sie sind bodenloses Fingerhakeln. Arrogante Wortartisten beweisen, wie sie den Politaktivisten im Schwatzen haushoch überlegen sind. Sie sind Angehörige einer Zunft, die in einer intakten Polis undenkbar wäre. Denn im Gemeinwesen kommt es darauf an, alles zu prüfen – und sich selbst überprüfen zu lassen. Wer andere von oben her kritisiert, sich selbst aber jeder Kritik entzieht, spielt die Rolle unfehlbarer Priester. Medien, die sich der Beurteilung durch Verschweigen der eigenen Meinung entziehen, sind satisfaktionsunfähig. Ihr klerikales Getue, das sich für demokratie-relevant hält, hat keine Zukunft mehr. Wer seine eigene Position nicht vertreten kann, kann andere Positionen nicht beurteilen.

Gottlob gibt es immer mehr Abweichler von dieser Doppelmoral. Eine Grundsatzdebatte aber über ihre Zunft wäre unerlässlich. Wir alle müssen uns ändern. Ändern heißt, sich nicht auf Fakten auszuruhen, wie sie sind, sondern die überlebensfähigen ausbauen und die tödlichen eliminieren.

In der Polis gab es nur logische Argumente und Hinweise auf Erfahrungen, um die beste Moral zu ermitteln. In der Moderne änderte sich die Debatte.

Nicht zufällig beginnt sie in der Zeit des beginnenden Fortschritts und des frühen Kapitalismus. Beides ereignete sich in England, während Deutschland noch im Dämmerschlaf lag.

Für Francis Bacon war der Erkenntnisgewinn der Naturwissenschaften eine fundamentale neue Möglichkeit, den ewigen Streit um Moralwahrheiten für immer zu beenden. Für ihn wurde Wissen zur Macht – die identisch wurde mit der einzig richtigen Moral. Bacon verachtete die machtlose Moral der Antike.

Die neue Macht der Wissenschaften, mit denen Europa allen heidnischen Völkern überlegen war, ersetzte alles Klügeln um die wahre Moral. Als überlegene Macht war sie zugleich die überlegene Moral.

Hier beginnt, was die Moderne prägen wird: wer die Macht besitzt, braucht sich um Moral nicht mehr zu kümmern. Nietzsches Willen zur Macht war keine Sondermeinung im deutschen Winkel, sondern Inbegriff der abendländischen Überlegenheit über die Welt.

Für Adam Smith war der Kapitalismus ein Beweis, dass erfolgreiches Wirtschaften auf Moralpredigen verzichten konnte. Wenn jeder für sich am besten da ist, ist er auch am besten für die Gesellschaft da. Geradliniger Egoismus wurde identisch mit dem finalen Wohl der Gesellschaft.

David Hume, Freund von Smith, hatte der Ent-moralisierung gründlich vorgearbeitet. Das bewunderte Kausalgesetz der Natur wurde von ihm zu einem bloßen Gefühl degradiert. Ohne kausale Ableitung aber kann keine überlegene Moral bewiesen werden. Alles wird zu Schall und Rauch:

„Nach Hume ist die Vernunft kein Vermögen moralischer Zielsetzung. Gegenstand der Moral sind Wertschätzungen, die weder wahr noch falsch sein können und deshalb nicht unmittelbar einleuchten. Aus logischen Gründen sind Sollensforderungen rational nicht ableitbar.“ (Pascher, Einführung in den Neukantianismus)

Das war ein Schlag in die Magengrube der Geisteswissenschaften, die, im Sog der neuen Naturwissenschaften, gehofft hatten, ihnen nahezukommen. Sie stürzten ab in die unwissenschaftliche Gefühlsliga.

Dann kam Kant, der sich mit Emotionen und subjektiver Willkür nicht zufrieden geben wollte. Vernunft war für ihn die Instanz einer kategorisch-objektiven Moral. Doch um dies zu beweisen, musste er zuerst die wissenschaftliche Fähigkeit der Vernunft beweisen.

Die Vernunft musste er, bevor er sich ihr anvertrauen konnte, zuerst einer scharfen Kritik unterziehen. Das war die Kritik der reinen Vernunft. Genauer: wer die Erkenntnisfähigkeit der Vernunft beweisen wollte, musste zuerst ihre streng-logischen Fundamente nachweisen. Das war die Erfindung seines Apriori oder Vonvornehereins.

Okay, die Natur, dieses Ding an sich, ist nicht erkennbar, soweit stimmte er Hume noch zu. Doch jetzt kam seine Kritik. Dennoch könne man sie insofern erkennen, insofern das Ich der Natur a priori jene Kausalität verleihen kann, die ihre Erkennbarkeit begründet. Der Mensch macht die Natur erkennbar, indem er ihr die Erkennbarkeit erst ermöglicht.

Insofern ist er ein partieller Schöpfer der Natur, die insoweit erkennbar wird, sofern er ihr diese Erkennbarkeit erst einflößt. Ich erkenne die Natur, weil ich sie selbst erkennbar mache. Mit anderen Worten: das Erkennbare an der Natur wurde ihr vom Menschen erst verliehen. Das ist die Fortbildung der These Vicos, dass der Mensch nur erkennt, was er selber hergestellt hat.

Fichte wird diese partielle Schöpfungslehre ausweiten zur grandiosen Lehre: das Ich setzt die Welt. Das war – fast – die christliche Schöpfungslehre in griechischen Erkenntnisvokabeln.

Was danach folgte, war die Übersetzung dieser Omnipotenz-Variationen in unendlichen Fortschritt. Wir sind die großartigste Gattung der Evolution und werden dies auch beweisen. Und wenn wir dabei verrecken, so ein WELT-Artikel, der den Ökologen sinnloses, apokalyptisches Getue vorwirft. Tatsächlich würden wir ohnehin alle in Milliarden von Jahren verrecken, weil die Natur selbst mit uns Schluss machen wird.

„Eine neue Generation von Klimaaktivisten ist überzeugt, dass die Welt bald untergeht – und predigt eine karge Existenz voller Angst und Verzicht. Das aber ist ein gigantisches Missverständnis über die Rolle der Menschheit – wie ein Blick in die Universalgeschichte zeigt. Nichts ist falsch daran, die Klimakrise zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass immer mehr Menschen immer länger leben können. Wir werden das Leben immer wieder neu erfinden und es immer interessanter machen. Aber am Ende wird das so egal sein, wie wir selbst es immer waren. Spätestens in fünf bis sieben Milliarden Jahren.“ (WELT.de)

Hauen wir auf die Pauke, denn morgen sind wir alle tot. Eine treffliche Botschaft, vor allem für unsere Jugend: ein Glanzstück eines verantwortlichen Journalismus.

Es war ein Irrweg, Moral durch scheinbar naturwissenschaftliche Präzision beweisen zu wollen. Kausale Gesetze beziehen sich auf Natur, auf das, was sich immer gleich bleibt. Moral aber bezieht sich auf die Freiheit des Menschen. Der Mensch ist fähig, aus dem Bestehenden eine Hölle oder eine humane Weltgemeinschaft zu bereiten. Moral zeigt sich an ihren Früchten. Der Mensch ist keine kausale Maschine der Natur, sondern ein autonomer Gestalter seines Schicksals. Somatisch hängt er hochgradig von der Natur ab, sein politisches Schicksal hingegen bestimmt er selbst.

Zu diesem Zweck muss die Sprache auf Wahr und Unwahr untersucht werden. Eine ideale Sprache mit mathematischer Präzision ist die Illusion digitaler Algorithmen. Wittgenstein erkannte die Sackgasse der utopischen Sprachphilosophen, die er in seiner berühmten Sentenz formulierte: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

Was geschah? Auf der elitären Seite brach das große Schweigen aus, das durch politische Phrasen nur übertönt wurde. Auf der anderen Seite schwoll der Lärm der Menschheit zur gefährlichen Dauer-Attacke gegen die Natur an.

Habermas‘ Bedingungen für einen herrschaftsfreien Diskurs werden von niemandem angestrebt. Eine Kommunikation ohne Verzerrung durch Macht und Hierarchien wäre ein Schlaraffenland, das kein Politiker für möglich hält.

Merkels Diskursqualitäten sind erschreckend. Der Professor, den sie wegen seines Begriffs „Ballast“ angegriffen hatte, meldete sich heute zu Wort:

„Er habe geschrieben, dass Merkel „mit dem Ballast ihrer DDR-Biografie als 35-Jährige“ gekommen sei, so Brechenmacher. „Das Wort Ballast bezieht sich aber natürlich nicht auf ihre gesamte Ostbiografie. Der Ballast ist das, was sie beschwert und abwerfen will, um den neuen Weg zu gehen.“ Er habe dabei auch auf eigene Erzählungen von ihr zurückgegriffen, in denen sie die Stimmung in der Wendezeit beschrieben habe.“ (Berliner-Zeitung.de)

Unfähig, den Professor anzurufen und zum Disput einzuladen (sonst lädt sie alle Eliten zu Kassler ins Kanzleramt), wartet sie auf eine pompöse Staatsfeier, um den Bösewicht in der Pose des leidenden Opfers ex cathedra zu bestrafen. Streitgespräche scheint sie zu fürchten wie den Gottseibeiuns.

Scheinbar unberührt schaltet sie bei Angriffen immer ab, schluckt und schweigt. Im unerwarteten Moment aber schlägt sie knallhart zu, weil ihr christogenes Pokerface sie überfordert hat. Und ihre Paladine? Zeigen sich erfreut über die ungewöhnlich persönliche Abschiedsrede.

Fortsetzung folgt.