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nichtsdesto-TROTZ LXXIV

Tagesmail vom 24.09.2021

nichtsdesto-TROTZ LXXIV,

Und wie war der Wahlkampf für Frau Merkel?

In Bildersprache enthüllte die scheidende Kanzlerin ihrem Volk, was sie vom Wahlkampf hielt: in ihrem Wahlkreis besuchte sie einen Vogelpark – und zeigte allen symbolisch den Vogel. Doch plötzlich wendete sich das Blatt. Die Natur schien sich an der Ökosünderin zu rächen. Die Vögel  gingen zur Attacke über und brachten die allseits Nüchterne und Gefasste in jene Stimmung, die Greta Thunberg allen Mächtigen an den Hals gewünscht hatte: in pure Panik.

Versteht sich, dass die treuen Kanzler-Medien das Bild der Panischen nicht zeigen durften. Nur der MERKUR aus dem weit entfernten München traute sich, den wahren Zustand einer Kanzlerin zu enthüllen, den sie der Öffentlichkeit in demütiger Selbstkontrolle stets verheimlicht hatte: außer sich vor Entsetzen. Der bajuwarisch-süffisante Kommentar: „Bilder für die Geschichtsbücher“. (Merkur.de)

Wäre dieses Bild am Anfang ihrer Karriere erschienen, hätte es eine Kanzlerin Merkel nie gegeben. In der Welt hatte sie Angst, doch siehe, ihre Schauspielkünste hatten diese Angst, nein, nicht überwunden, sondern klaftertief verdrängt.

Doch siehe, kurz vor ihrem Abschiednehmen explodierten die unterdrückten Ängste und räumten ihre Über-Ich-Kontrollen beiseite: ein psychisches Pendant zur Flutkatastrophe, die viele Dörfer und Menschen überschwemmt hatte.

Fast wäre es ihr gelungen, das Schauspiel einer Anonymen bis ans Ende durchzuhalten: sie kam als Fremde und ging als Fremde.

„… dass sie Gäste und Fremdlinge auf Erden sind.“

Der geeignete Zeitpunkt, um das merkelhörige Volk zu beschimpfen – wann gäbe es einen geeigneteren?

Wie konnte das tumbe Volk sich so lange von einer Passionsdarstellerin an der Nase herumführen lassen?

Wie konnte es sich so lange eine Luxusgesellschaft gefallen lassen, mit der es verführt und an der kurzen Leine gehalten wurde? Noch schlimmer, mit der es – wie es sich jetzt von Tag zu Tag grauenhafter zeigt – sein eigenes Überleben in Bedrängnis bringt?

Und das von einer frommen Frau?

Eben das war die Antwort: gerade von einer frommen Frau, die den räuberischen Kapitalismus nicht als glaubens-feindlich empfand. Mit den Worten Thorsten Veblens, der in seinem berühmten Buch „Theorie der feinen Leute“ die Behauptung gewagt hatte:

„… dass zwischen frommer Haltung und räuberischer Denkgewohnheit eine gewisse Kongruenz besteht. Die Vorstellung vom schicklich-luxuriösen Leben fördert ihrerseits die räuberischen Eigenschaften.“

Nein, die Deutschen wollten keine Magd Gottes entlarven, weil sie (wie sagt man in der bösen Gosse: dumm geboren und nichts dazugelernt) das Christentum als Moral im Dienst am Nächsten empfinden.

Das Gegenteil ist der Fall. Die Erwählten haben Haus und Hof, Familie, Weib und Kinder zu verraten und zu verlassen, um ihr Seligkeitsding zu machen. Halt- und skrupellos.

„Gutmütigkeit, Gerechtigkeit und umfassende Sympathie für das Leben der Individuen sind nicht unbedingt erforderlich. Unter der Herrschaft des Wettbewerbs geht es dem Einzelnen entschieden besser, wenn er nach Möglichkeit weder gutmütig noch gerecht ist. Weder Sympathie, weder Ehrlichkeit noch Achtung vor dem Leben zu besitzen, fördern beträchtlich den Erfolg des Einzelnen in der vom Geld bestimmten Kultur. Nur im begrenzten Sinn gilt der Satz, dass Ehrlichkeit am längsten währt.“ (ebenda)

Wie konnte das Volk so lange hinter einer Illusionistin her scharwenzeln, die es verstand, ihren Glauben als Evangelium der Erfolgreichen und zugleich der Armen und Abgehängten zu verkaufen?

Das war nicht mal lutherisch, das war neucalvinistisch- amerikanisch.

Andrew Carnegie bestätigt in seinem Buch „Das Evangelium des Reichtums“ aus dem Jahre 1907 die Identität von christlicher Frömmigkeit und Mammon:

„Der Mann mit Reichtum wird dadurch der bloße Bevollmächtigte und Vertreter seiner ärmeren Brüder, indem er seine höhere Einsicht und Erfahrung in ihren Dienst stellt und für sie besseres vollbringt, als sie für sich selber vollbringen würden und könnten. Diese Reichen müssen allerdings selbst weise sein, denn eines der ernstlichsten Hindernisse für die Hebung der Menschheit ist unterschiedslose Mildtätigkeit. Es wäre besser für die Menschheit, dass die Millionen der Reichen ins Wasser geworfen würden als dass sie ausgegeben werden, die Faulen, die Trunksüchtigen und Unwürdigen zu unterstützen. Das ist das wahre Evangelium in betreff des Reichtums. Der ihm schuldige Gehorsam ist bestimmt, dereinst das Problem der Reichen und Armen zu lösen und „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ zu bringen.“

Nicht Merkel also war die wahre Christin, als sie die Flüchtlinge über die Grenze ließ, sondern ihre Gegner, die diese falsche Mildtätigkeit scharf angriffen. Doch schnell bereute sie ihren Fehltritt und ging zurück zum Glauben an einen Gott, der seine Gründe haben wird, wenn er die Massen der Völker verloren gehen lässt.

Es sind die reichen und fortschrittlichen Länder, die wissen, wie man die minderwertige Natur zur höheren Ehre Gottes schändet. Die Armen in Kenia, die nichts mehr zu essen und kaum noch etwas zu trinken haben – was ist mit denen? Für sie kann man nur inständig beten. Mehr können die Satten nicht tun.

Wie wurde die Kanzlerin für ihre „singuläre oder situative“ Almosentat von Menschen verehrt, die plötzlich erkannten: das ist meine Kanzlern. Doch als die Ausnahme wieder zur gewohnten Praxis des Verreckenlassens zurückkehrte, hörte man von den Fans der Kanzlerin der Reichen – keinen Ton mehr.

Wer nur an Kenia denkt, dem muss es anders werden. Doch es ist alles noch schlimmer:

„Durch den Klimawandel kommt es in Kenia immer häufiger zu extremer Dürre. Die Massai führen einen aussichtslosen Kampf um Weideland und Wasser für ihre Rinder. Denn das ohnehin spärliche Wasser wird über Pipelines zu Farmen geleitet, auf denen Rosen, Nelken und andere Blumen für den Export gezüchtet werden. So beziehen Großabnehmer in Deutschland Blumen für den Muttertag aus Kenia, während 40 Prozent der Kenianer keinen Zugang zu Trinkwasser haben. Die Menschen im Nordosten von Kenia sind seit vielen Jahren auf die Lebensmittellieferungen ausländischer Organisationen angewiesen. Statt für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen zu können, werden die früher unabhängigen Bauern zu Almosenempfängern der westlichen Welt degradiert.“ (Planet-Schule.de)

Und wie steht‘s mit der globalen Impfgerechtigkeit? War der Sinn der globalen Wirtschaft nicht der, die Verhältnisse aller Völker zu verbessern?

„Arme Länder warten und warten und warten auf Lieferungen. Es ist eine schockierende Situation. In weiten Teilen Europas und Nordamerikas liegt die Impfrate zwischen 50 und 75 Prozent. Bei uns in Afrika sind es nicht einmal 10 Prozent. Und das nicht etwa, weil die Menschen sich nicht impfen lassen wollen, sondern weil es nicht genügend Nachschub gibt. Hinzu kommt, dass Pharmaunternehmen so viel Macht haben, dass beispielsweise Johnson & Johnson sogar Impfstoffe, die in Südafrika fertiggestellt und abgefüllt wurden, wieder nach Europa schickt. Die Menschen im Norden werden besser behandelt.“ (SPIEGEL.de)

Alles ist exakt so, wie es im Gleichnis geschrieben steht:

„Du böser und fauler Knecht! Wusstest du, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld zu den Wechslern bringen sollen, und wenn ich gekommen wäre, hätte ich das Meine wiederbekommen mit Zinsen. Darum nehmt ihm den Zentner ab und gebt ihn dem, der zehn Zentner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern.“

Das ist das Gericht Gottes über die Völker, die nicht säen, aber ernten, nicht im Schweiße ihres Angesichts für den Fortschritt malochen wollen. Irgendwann kommt es an den Tag, da öffnet der Herr des Schicksals die Akten und zeigt, was die Völker in Wahrheit verdient haben.

Diese Stunde ist jetzt gekommen. Die Krise der Welt offenbart, welche Völker von Gott erwählt und welche verdammt werden. Und die deutsche Kanzlerin ist nichts als das Instrument Gottes. Noch Fragen, ihr Gottlosen?

„Und die Söhne der Fremde werden deine Mauern bauen und ihre Könige dich bedienen; denn in meinem Zorn habe ich dich geschlagen, aber in meiner Huld habe ich mich über dich erbarmt. Und deine Tore werden beständig offenstehen. Tag und Nacht werden sie nicht geschlossen, um zu dir zu bringen den Reichtum der Nationen und ihre ⟨gefangen⟩ weggeführten Könige. Denn die Nation und das Königreich, die dir nicht dienen wollen, werden zugrunde gehen. Diese Nationen werden verheert werden, ja, verheert.“

Am Ende der Tage werden die Auserwählten den Reichtum der Welt ernten und der unheilige Rest wird ihnen dienen.

Die Idee der reichen Erwählten übernahm Calvin, dessen Prädestinationslehre den Sinn hatte, die vermutlich Erwählten – denn niemand wusste, ob er zu ihnen gehörte – zum Fleiß anzuregen, um auf Erden kapitalistischen Erfolg zu haben.

Irdischer Erfolg sollte beweisen, dass man zu Gottes Privilegierten gehörte. Wer keinen Erfolg hatte, gehörte nicht nur zu den Schwachen, sondern den Verdammten. Dass die Armen an ihrem Schicksal selbst schuld sind, war Bestandteil der calvinistischen Erwählungs- und Verdammungslehre. Ein deutscher Kanzler namens Schröder übernahm diese Lehre – ohne mit der Wimper zu zucken.

Das ist der Grund, warum der amerikanische Kapitalismus keinerlei Probleme kennt, um seinen Erfolg vollmundig zu preisen. Ganz anders als das deutsche Luthertum, das eine derart überlegen fühlende Erfolgsideologie nicht unter dem Aspekt der Erwählung betrachtet. Die deutschen Reichen verstecken ihren Reichtum gern, als ob sie sich ihres Erfolges schämen müssten.

Die calvinistischen Reichen hingegen empfanden sich, ausgestattet mit dem Segen des Herrn, zu Recht als die Bevorzugten. Ein Grund, warum Blair die Bettler auf der Straße ignorierte. Peinliche Gefühle, ihren Reichtum zu verstecken, kennen die Prädestinierten nicht.

„Es gefällt Gott, alle die, welche er bestimmt hat zum Leben, und nur sie, zu der von ihm festgesetzten Zeit durch sein Wort und seinen Geist wirksam zu berufen … indem er hinweg nimmt ihr steinernes Herz und ihnen gibt ein fleischernes Herz, indem er ihren Willen erneuert und durch seine allmächtige Kraft sie für das, was gut ist, entscheidet …“ (Calvin in Weber: Die protestantische Ethik)

Ist das Ganze aber nicht völlig willkürlich und ungerecht – wie ein griechischer Geist empfinden würde? Antwort Calvin:

„Nicht Gott ist um des Menschen, sondern die Menschen sind um Gottes willen da und alles Geschehen – dass als nur ein kleiner Teil der Menschheit selig wird – dient ausschließlich der Selbstverherrlichung der göttlichen Majestät. Maßstäbe irdischer Gerechtigkeit an seine souveränen Verfügungen anzulegen, ist sinnlos und eine Verletzung seiner Majestät, da er, und nur er allein, frei und keinem Gesetz unterstellt ist. Der Sinn unseres individuellen Schicksals ist von dunklen Geheimnissen umgeben, die zu ergründen unmöglich und vermessen wären. (ebenda)

Hayeks Neoliberalismus vom allmächtigen und allwissenden Markt ist nichts als der Glaube an die unerforschbare Hand Gottes, der man sich blind ausliefern muss. Ab Schröder und Merkel hat die BRD diesen aufklärungsfeindlichen Glauben an den allwissenden, aber undurchdringlichen Markt Hayeks übernommen.

Damit verrieten die Deutschen nicht nur ihre mehr zu Kant neigende Vorstellung einer gerechten Wirtschaft, die durch unermüdliche Reformen angestrebt werden sollte, sondern auch den englischen Urkapitalismus à la Adam Smith, der eine eigenartige Mixtur aus stoischen, „moralfrei“- naturgesetzlichen und christlichen Elementen darstellte.

Auf den ersten Blick verwarf Smith die Moral der traditionellen Ökonomie. Auf Nächstenliebe und ähnliches Gedöns solle sich niemand verlassen, sondern allein auf das egoistische Eigeninteresse. Klingt kalt und menschenfeindlich? Nur, wenn man nicht weiterliest. Dieser Egoismus des Einzelnen ist der klügste Vollstrecker der Interessen an persönlichem Glück.

Untrüglich kompetent wählt er die Produktion jener Dinge, die er mit optimalem Gewinn verkaufen kann. Als Fachmann seines individuellen Interesses ist er von niemandem zu übertreffen. Ihm geht’s bestens.

Was aber wird aus dem Wohl der Gesamtgesellschaft, wenn jeder nur seinem egoistischen Spezialinteresse folgt?

Hier kommt ein Rest des christlichen Kinderglaubens von Smith ins Spiel. Eine unsichtbare Hand sorgt dafür, dass die auseinander driftenden Ego-Interessen am Ende dennoch zum Gesamtwohl der Gesellschaft harmonisiert werden. Ohne Gott geht’s auch bei Smith nicht.

Smith huldigt zwei „göttlichen“ Prinzipien. Einerseits glaubt er an die stoische Vollkommenheit der Welt, die sich kundtut im Einzelinteresse, das untrüglich das Glück des Einzelnen vollbringt. Andererseits ist das Glück des Einzelnen nicht das Glück der Gesellschaft, auf welches der Stoiker keinesfalls verzichten will.

Also benötigt er mehr als ein automatisch funktionierendes Individualglück. Die verschiedenen Egoismen müssen gesellschaftlich zusammenpassen – und hier kommt die persönliche Hand des Gottes ins Spiel.

Adam Smith gilt unter Ökonomen als Begründer einer Wirtschaft ohne Moral. Streng genommen ist das Urteil falsch, denn der Glaube an ein „moralfreies“ Wirken der Marktgesetze ist in Wirklichkeit der stoische „Glaube“ an die Vernunft des Kosmos, der auf persönliche Götter verzichten kann.

Selbst das Urvertrauen in einen Egoismus, der sich am Ende des Tages mit den konkurrierenden Egoismen zur (Hegel würde sagen) dialektischen Schlussharmonie fügt, ist moralisches Urvertrauen.

Zwischenbemerkung: den Begriff Moral gibt es in zweierlei Hinsicht. Selbst ein böser Wille ist ein moralischer, wenn auch, aus der Sicht der Kritiker, der Wille einer falschen Moral. Ohne Moral läuft überhaupt nichts in der Welt, nur stehen sich konträre Moralen diametral gegenüber.

In Deutschland, das in wirtschaftlicher Entwicklung zu spät kam, gab es gegen den angelsächsischen Kapitalismus von Anfang an einen ziemlichen Widerwillen. Sei es aus Neid gegen die Vorherrschaft der britischen Weltmacht, sei es aus kantianischen Pflichtüberlegungen, die alle Dinge des Menschen dem Gesetz einer autonomen Moral unterwarf.

Gottlob gab es Hegel, der Kants kategorische Imperative schredderte. Erst seit Hegel ist deutsche Moral die Freiheit der Amoral.

Ganz anders die demokratische Moral Athens, die die Pflicht hatte, das Gute der Welt vom Bösen zu unterscheiden. Diese „Spaltung“ der Welt in Gut und Böse wird von deutschen Intellektuellen – die allesamt gefühlte Hegelianer sind – gehasst wie die Pest. Denn sie stört ihren noch immer vorhandenen christlichen Kinderglauben an den lieben Gott, der eines Tages, im Gegensatz zum biblischen, sein Fazit ziehen soll: Ende gut, alles gut.

Was die Intellektuellen verdrängen: die Spaltung der Welt in Gut und Böse ist christlich – und widerspricht der Vernunft des griechischen Kosmos. Die Deutschen haben, um das unliebsame Gute und Böse ihres Glaubens zu überwinden, den christlichen Dualismus den Griechen übergestülpt.

Alles, was sie instinktiv störte an der Inhumanität ihres Glaubens, projizierten sie auf das heidnische Denken. Hier auf die heidnische Unterscheidung von Gut und Böse. Was sie völlig falsch sahen, war, dass nicht die Moral das Gute und Böse erfunden hatte. Die Griechen hatten es empirisch gefunden und philosophisch bewertet, indem sie ihre politischen und persönlichen Erfahrungen durchforscht hatten.

Sie erkannten, dass ihre Demokratie nur überlebensfähig war, wenn sie bestimmten Moralgesetzen folgten, die sie in politische Regeln gossen. Das war kein Glaube an eine göttlich-teuflische Spaltung der Welt, die eine ganze Heilsgeschichte benötigt, um ihren Kampf um Sein oder Nichtsein auszufechten.

Die Griechen glaubten an die Vernunft der Natur, die allerdings durch negative Erfahrungen – Gier, Macht oder sonstigen Menschenhass – ins Unvernünftige oder Bösartige umschlagen konnte.

Außer bei Platon, der den Kampf gegen das Böse mit dem Schwert durchführen wollte, waren alle sokratischen Schulen der Meinung, nur mit Argumenten und persönlichem Vorbild den Gegner bekämpfen zu dürfen.

Nur Kants Schüler – die Neukantianer – widerstanden der flächendeckenden Hegelianisierung Deutschlands und forderten eine moralische Ökonomie. Vergeblich.

Um so schnell wie möglich den Vorsprung der englischen und amerikanischen Ökonomie einzuholen, wurden die Ökonomen Bismarcks zu Kantgegnern und beschimpften die Neukantianer als „Kathedersozialisten“, also als professorale Moralschwätzer.

Ein modernes Wirtschaftslexikon kennt noch heute keine Gnade mit solchen „Gutmenschen“. Ethische Werturteile in der Wirtschaft seien nachteilig für die deutsche Ökonomie. „Max Webers Auffassung, Werturteile seien unbeweisbar, hätte sich in der wissenschaftlichen Analyse durchgesetzt.“ (Gablers Wirtschaftslexikon)

Jetzt, nachdem der moralfreie Neoliberalismus nicht nur die globale Wirtschaft verseucht hat, sondern mit seiner „bösen“ Naturzerstörung auch die Existenz der Menschheit bedroht, wird klar, welches Unheil dieser Kapitalismus über die Menschheit gebracht hat. Nicht nur aus moralischen, sondern aus existentiellen Überlebensgründen, muss dieser Kapitalismus so schnell wie möglich ad acta gelegt werden.

Was sagt zu alldem die vom christlichen Sozialismus zum christlichen Kapitalismus konvertierte Kanzlerin? Nichts. Entweder hat sie keine Ahnung oder sie unterlässt es, ihre treuen Staatsbürger mit intellektuellem Geschwätz zu belästigen und zu beunruhigen. Ruhe ist für sie die erste Untertanenpflicht.

Warum tat sie in Klimadingen nicht das Notwendige, um Schaden vom Volk abzuwenden – was sie im Amtseid geschworen hatte? Ihre Antwort: man könne nur das Realistische machen. Und ohne Volk ginge das nicht. Also müsse man das Volk mitnehmen.

Auf Deutsch: dem Volk ist die Wahrheit nicht zumutbar. Ingeborg Bachmanns Satz: dem Menschen ist die Wahrheit zumutbar, wurde von der Pastorentochter in den Wind geblasen. Sie degradiert die Demokraten zu unmündigen Angsthasen, die durch katastrophale Szenarien nicht in Panik versetzt werden dürfen.

Merkel weiß nichts von wahrheitsfähigen Selbstdenkern wie Kant oder Sokrates. Sie kennt nur Unmündige, die sie mit Eiapopeia in den Schlummer wiegt. Ein Desaster für Deutschland.

Ein unwürdiger und lächerlicher Wahlkampf geht zu Ende. Relevante Themen kamen nicht vor, schon gar nicht die überlebensnotwendigen. Nur prophetische Spekulationen wurden endlos wiedergekäut: Wer schläft mit wem? Kommt es zu flotten Dreiern und wenn, mit welchen Machtlüstlingen? Auf unendlichen Straßenplakaten waren Köpfe zu sehen, die man nicht mehr sehen konnte. Mit Parolen, ausgetüftelt von Werbefachleuten, die an Dummheit nicht mehr zu überbieten waren.

In den TV-Kanälen erlebte man rhetorische Wettbewerbe, die von keiner Sache berührt waren. Wer habe die Redeschlachten gewonnen: das waren die obszönen Fragen der Voyeure, die zwischen seriösen Streitgesprächen und Quasselmonologen nicht unterscheiden können.

Die Eliten inszenierten moderne Brot-und-Spiele-Events, um dem Volk zu zeigen: schaut her, wie Demokratie geht. Wie arrogant sie in ihren Arenen standen, um den Unmut des Volkes herrisch zu kanalisieren. Einmal in vier Jahren demokratisches Unterhaltungstheater. Wenn sich die Koalitionäre nach der Wahl gefunden haben, wird die Show für die nächsten vier Jahre vorbei sein.

Wir stehen vor entscheidenden Jahren, in denen entweder das Notwendige angepackt – oder das unvermeidliche Elend über uns kommen wird. Ob es dann noch zu Wahlen kommen kann?

Von ihren Lobrednern wird die Kanzlerin stets als private Person gerühmt. Ihre Politik bleibt außen vor. Private Tugenden müssen politisches Versagen kompensieren. Merkels Versagen ist unser aller Versagen. Wenn alle schuldig sind, ist die Wahrheit so unerträglich, dass wir sie ins Gegenteil verkehren müssen: wir sind die Guten – und unsere Mächtigste ist die Beste.

Fortsetzung folgt.