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nichtsdesto-TROTZ LI

Tagesmail vom 02.08.2021

nichtsdesto-TROTZ LI,

Tianxia ist ein Begriff des chinesischen Philosophen ZHAO Tingyang und bedeutet den Versuch, „ein System zu schaffen, das der Menschheit allgemeine Sicherheit und gemeinsame Nutzenteilhabe garantiert.“ (Tingyang, Alles unter dem Himmel)

Es ist kein neues System der Weltherrschaft, sondern ein System zum Schutz der ganzen Welt. Es hat die Absicht, die Koexistenz der Völker zu sichern, die „mit der Moderne entstandene exklusive Daseinsform aufzugeben und die Menschheit vor dem Schicksal eines völligen Scheiterns zu bewahren.“ (ebenda)

Es geht um Übereinstimmung mit dem Gesetz des Himmels, nicht identisch mit einem jenseitigen Himmel, sondern eins mit dem irdischen Kosmos. Die Natur markiert die Grenzen der Freiheit. Sie muss der allgemeine Maßstab des Menschen sein: das ist der Wille des Himmels.

Verstößt der Mensch gegen den Willen des Himmels, kann „als Folge der vom Menschen verursachten Störung des Gleichgewichts der Natur seine Selbstvernichtung erfolgen“. Dao, das Gesetz der Natur, ist die absolute Schranke der menschlichen Existenz.

Nur innerhalb des Dao hat der Mensch die Freiheit des Schaffens. „Die Erfindung der Atomwaffen, der durch Gen-Engineering geschaffene unsterbliche Übermensch, die Erfindung neuer Geschöpfe, die Mensch und Maschine vereinen, sind wider den Himmel gerichtete Schöpfungen.“

Umfasst die Erfindung eines Menschen ein nicht kontrollierbares Risiko, handelt er „wider den Himmel“. Das Tianxia-Denken versucht den Menschen daran zu hindern, Risiken einzugehen, für deren Konsequenzen er keine Verantwortung übernehmen kann, – ihn also daran zu hindern, „wider den Himmel“ zu handeln.

Da die Erde ein Werk der Natur ist, liegt es in ihrer Absicht, allen Existenzen das Weiterexistieren zu ermöglichen, allen Lebewesen die Möglichkeit zu geben, sich zu vermehren und zu gedeihen (Koexistenz). Ohne Koexistenz kann kein Lebewesen existieren. Das ist der „Wille des Himmels“ – oder Tianxia. Die Vielfalt der Welt wird geschützt durch ein System allgemeiner Wohlfahrt.

Die Welt darf kein „Außen“ haben, bedeutet: niemand darf ausgeschlossen werden. „Die Voraussetzung einer allgemeinen Sicherheit und ewigen Friedens ist Tianxia ohne Außen oder die Inklusion der Welt.“

Das Tianxia-System wird zu einer universalen Welt ohne Außen – oder zum Schutz der ganzen Welt. „Es handelt sich um ein antihegemoniales und antiimperialistisches System, das der ganzen Welt und nicht einem Staat gehört. Die Gerechtigkeit des „Tianxia gehört allen“.“ Tianxia gehört allen Menschen gemeinsam und schafft eine Art „familiärer Bindung“.

Diese Ideal-Version der Welt ist „schwer realisierbar, wir setzen unsere Hoffnung lediglich auf eine Basis-Version, nämlich die inklusive Welt.“

Das Dao will den „Schutz der allgemeinen Sicherheit der Menschen durch Ausschluss des Krieges und durch Reduktion der Konkurrenz auf ein Ausmaß, das die Möglichkeit, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, auf ein Minimum beschränkt.“

„Die Minimierung der Möglichkeit, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, ist die direkte Anwendung des Prinzips „Alles Lebende gewähren und fortleben lassen.“ Sie entspricht der rationalen Entscheidung für die maximale Vermeidung von gefährlichen Risiken.“ Dieses Prinzip der Minimierung gegenseitiger Schädigung ist das rationale Prinzip per se und hat Priorität vor der Maximierung des persönlichen Nutzens.

Die Maximierung wechselseitigen Nutzens hat Priorität vor der Maximierung des persönlichen Nutzens.

Das konfuzianische Optimum als Maximierung wechselseitigen Nutzens folgt aus dem konfuzianischen Prinzip: „Willst du sicher stehen, hilf anderen, sich aufzurichten, willst du etwas erreichen, hilf anderen, etwas zu erreichen.“

Die biblische Regel: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ ist negativ formuliert: willst du nicht geschädigt werden, schädige niemanden. Am Anfang steht der Wunsch, von anderen gut behandelt zu werden, danach erfolgt die Antwort mit einer ebenfalls guten Tat.

 Tianxia ist ein aktives Prinzip: tu Gutes dem anderen, dann wird er dir auch Gutes tun.

Gegenseitige Rettung ist der aktivste Ausdruck der Maximierung gegenseitigen Nutzens. Gegenseitige Rettung ist die vollkommene Tugend: „Menschen vor dem Tod zu bewahren, sie aus Drangsal zu befreien, sie vor Unheil zu retten und ihnen aus der Not zu helfen.“

Das wäre Tugendhaftigkeit. Mit Tugend ist gemeint, anderen Menschen oder Staaten in Gefahr beizustehen, ohne zu verhandeln oder Bedingungen zu stellen, das bedeutet die vollständige Verwirklichung der Tugend.

Es gibt einen vollständigen und einen unvollständigen Universalismus. Der unvollständige benutzt den Begriff Toleranz. Doch der Begriff der Toleranz rückt fremde Kulturen an die Peripherie, er birgt die Gefahr von Ungleichwertigkeit und Ungleichheit.

Das Tianxia-System hingegen anerkennt die Vielfalt der Kulturen als gleichwertige. Was bedeutet das für Tianxia?

„Auch wenn das Konzept des Tianxia aus China kommt, ist es seiner Bedeutung nach ein weltweit gültiges Konzept, vergleichbar mit dem Konzept der Menschenrechte, das aus Europa stammt, aber weltweite Gültigkeit besitzt.“

Das Tianxia-Modell ist eine generelle Einladung an alle Völker und Staaten.

Gemäß der westlichen Moderne scheint es zwangsläufig, dass ein mächtiger Staat oder ein mächtiges Volk im globalen Konkurrenzkampf obsiegen und eine von ihm dominierte Weltordnung etablieren wird. Diese westliche Vorstellung ist längst illusionär, in Zukunft wird sie noch illusionärer werden.

Respekt vor dem Kosmos bedeutet Respekt vor Himmel und Erde. Das Leben hat nur Bedeutung, wenn alles im Leben Sakralität besitzt – die nicht mit einem Schöpfergott zusammenhängt, sondern in sich selber, in seinem Dao, ruht.

Ein wunderbares Konzept, eine vollkommene Ökophilosophie, die Deutschland auf der ganzen Linie fehlt, vollständig kompatibel mit altgriechischem Kosmosdenken und der Philosophie der sokratischen Schulen, – denen wir auch die Humanität und Menschenrechte verdanken.

Die Gleichartigkeit zwischen der griechischen und chinesischen Aufklärung erkannte Leibniz mit Begeisterung, der von den ersten philosophischen Nachrichten aus dem Reich der Mitte überwältigt war:

„Die Rezeption des chinesischen Philosophen Konfuzius und Menzius durch Leibniz sowie seinen Schülers Christian Wolff ist ein Beispiel dafür, dass schon die Frühaufklärung von außereuropäischen Einflüssen geprägt ist. Es ist also falsch, die Aufklärung nur als auf europäisches Denken begrenzte Philosophie zu verstehen. China war für die Europäer etwas absolut Neues, für Europäer, die sonst in der Begegnung mit anderen, fremden Kulturen sehr imperialistisch waren. In Amerika, so meinten sie, hätten die Europäer ungebildete Wilde „entdeckt“; in Afrika stand den Kolonisten ein Markt von Sklaven bereit, also von „Untermenschen“. In China hingegen begegneten die Europäer einer großen uralten Kultur, die sie einfach als wichtig und „entwickelt“ anerkennen mussten.“ (Religionsphilosophischer Salon.de)

Gibt es ein Gespräch der Kulturen – angesichts der gemeinsamen Bedrohung der Welt? Müssten nicht alle Völker einen globalen Dialog führen, um den Gefahren gemeinsam zu begegnen?

Um ein solches Gespräch zu führen, bedürfte es der gemeinsamen Überzeugung, dass es eine bessere Alternative zum jetzigen Weltzustand gibt. Über solche Utopien können einheimische Politiker nur höhnen:

„Der heute weit verbreitete Spruch „Eine andere Welt ist möglich“ ist ja letztlich die Aussage „Eine bessere Welt ist möglich“. Mit „andere Welt“ kann im Ernst nur eine bessere Welt gemeint sein. Insofern sind die heutigen Bewegungen für Alternativen etwa zum Kapitalismus durchaus noch von Leibniz geprägt. Das Gerede führender und sehr mächtiger Politiker, etwa auch der Bundeskanzlerin, „Da gibt es keine Alternative“, „There is no alternative“ (Thatcher) usw. ist nichts als Ideologie, ist Ausdruck von Denkfaulheit und dem Verlust an Mut, dem Verlust an Hoffnung und vor allem: der Missachtung der Kreativität der menschlichen Freiheit. Und es ist, gelinde gesagt, für Demokraten ein heftiges Problem, dass nun ausgerechnet eine populistische und sehr rechtslastige Partei in Deutschland in ihrem Titel das Wort „Alternative“ führt.“ (ebenda)

Das konfuzianische Denken ist mit dem heutigen Regime in Peking, das von Merkel heimlich bewundert werden soll, nicht vereinbar. Würde sich die alte Philosophie im Reich der Mitte verbreiten, käme es zum Umsturz. Man kann nur spekulieren, warum die Parteiführung ZHAO Tingyang international berühmt werden lässt. Soll er Werbung treiben für das autoritäre Regime, unter dem irreführenden Vorzeichen, Konfuzius und das heutige System seien vereinbar?

Unabhängig von diesen Aspekten müsste die grundsätzliche Frage gestellt werden: sind die Völker miteinander ins Gespräch gekommen? Müsste es nicht einen unaufhörlichen Dialog rund um den Globus geben – um eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu entwickeln?

Der immer gefährlicher werdende Konflikt zwischen Amerika und China könnte dauerhaft nur durch intensive Gespräche entschärft werden. Das Gegenteil ist der Fall. Immer lauernder und aggressiver wird der Ton der verbalen Angriffe.

Deutschland ist geistig zu tot, um diesen circulus vitiosus zu durchbrechen. Das Berliner Kabinett folgt der Maxime: Geist hat in der Politik nichts zu suchen. Es zählen nur Wirtschaftsdaten.

Drohen überdimensionale Krisen, entleeren sich die Gehirne. Ohnehin gab es schon seit Jahrzehnten keine öffentlichen Debatten mehr über wesentliche Fragen der Zukunftsgestaltung. Die Themen der jetzigen Raufereien werden immer substanzloser: Gendern? Welche Wörter müssen tabuisiert werden?

Je dünner die Probleme, je verbissener und unduldsamer der Ton. Man traut sich nicht, sich mit wesentlichen Fragen auseinanderzusetzen, weil Zukunftsängste stetig anwachsen. Anstatt sich ehrlich zu machen, begnügt man sich mit Ersatzaffekten.

Wie aber wurde das Tingyang-Buch von den Medien kommentiert? In der ZEIT konnte man lesen:

„Originell ist die Idee nicht: Der Westen ist an allem schuld, behauptet Zhao Tingyang. Alles Böse in der Welt, resümiert Assheuer also, wurde ausgelöst vom Christentum, dann von der Kolonisierung und von einem Universalismus, der nur Vorspiegelung sei, und „Menschenrechten“, die nur der Ausbeutung fremder Reichtümer dienten – und so weiter. Was macht Zhaos ominöses Reich der Harmonie, mit allen die ihm widerstreben? Nun, auch dafür findet Zhao wohl eine chinesische Lösung, vermutet Assheuer.“

Muss ZHAO erst einen kompletten Veränderungsplan der Welt vorlegen, damit deutsche Edelfedern sich mit ihm beschäftigen? Käme es nicht darauf an, den Dialog mit ihm zu beginnen und einen gemeinsamen Fahrplan zu entwickeln? Muss etwas originell sein, damit verwöhnte Großdenker sich zur Kenntnisnahme herablassen? Die Kritik am Westen wird abgemeiert mit der müden Bemerkung: klar doch, immer sind wir an allem schuld. Wie oft haben wir das schon gehört.

Nicht nur der politische, auch der intellektuelle Westen verschmäht eine intensive Beschäftigung mit den Denkweisen der Welt. Hans Küng war der letzte, der sich mit den Weltkulturen auseinandersetzte, um ein Weltethos zu formulieren. Leider auf christlicher Basis, was schief gehen musste.

In der FAZ war zu lesen: „Wenn Tingyang der multiplen Weltkrise mit „post-imperialistischer“ Politik zu Leibe rücken möchte, findet Osterhammel das so neu nicht, horcht aber auf, wenn der Autor mit der Untersuchung des antiken Tianxia-Systems eine Art „Wellness-Semantik“ ins Spiel bringt. Wer die daraus entstehende neue Weltordnung dominieren soll, lässt der Autor laut Osterhammel auf durchaus für sich sprechende Weise offen.“

Wenn etwas schon nicht originell ist, müsste es wenigstens neu sein. Das Alte ist hierzulande nicht gefragt. Deutsche Meisterdenker schauen nicht zurück, um sich mit uralten Philosophemen zu plagen. Es ist wie im aktuellen Autosalon: nur die neuesten Modelle verdienen die Aufmerksamkeit der zungenschnalzenden Kenner.

Wer die neue Weltordnung dominieren soll? Man sollte schon genau lesen, um zu erfahren, dass Dominanz durch Wettbewerb zurückgefahren werden soll. Eine stabile Friedensordnung aller Tianxia verträgt sich nicht mit christlichem Sieg am Ende aller Tage.

In der WELT war zu lesen: „Rezensent Thomas Speckmann hätte sich vom Philosophen Zhao Tingyang mehr Sinn für die nicht linear verlaufende Geschichte gewünscht. Dass der Autor den Westen „eindimensional runterschreibt“, wenn er die Globalisierung westlicher Prägung verdammt und dem „hegemonialen Narrativ Europas“ vorwirft, Weltgeschichte schreiben zu wollen, gefällt Speckmann nur bedingt.“

Der Westen kennt nur eine linear verlaufende Heilsgeschichte. Was hingegen soll eine nicht lineare Geschichte sein? Da wagt es ein Chinese, einseitig den Westen zu attackieren, was dem selbstgerechten Westen überhaupt  nicht gefällt, der seine imperiale Schuld vollständig verdrängt hat.

Im Deutschlandfunk war zu hören: „Rezensent Tobias Wenzel hält nicht viel von den Weltrettungsversuchen des Philosophen Zhao Tingyang. Für ihn klingt verschwörungstheoretisch und ernüchternd, was Zhao über eine neue Weltordnung schreibt. Den Verdacht, der Autor sei nur ein „linientreuer“ Verfechter der Staatsdoktrin, wird Wenzel nicht los, auch, da Zhao die aktuelle chinesische Politik unkommentiert lässt.“

Allmählich sollte die Welt wissen, dass Deutschland nichts mehr von Weltrettungsversuchen hält. Ist es doch nur ein halbes Jahrhundert her, dass die Deutschen die Hälfte der Welt retten wollten, indem sie die andere vernichtete. Lieber lassen sie die Welt untergehen als sich an utopischen Kindermärchen zu erwärmen. Sie sind erwachsen geworden: niemand mehr kann ihnen ideale Flausen in den Kopf setzen.

(Alle Zitate aus Perlentaucher.de)

Schließlich schreibt Armin Nassehi im SPIEGEL:

„Die eigentliche Herausforderung aber kommt noch – denn es steht auch die Frage im Raum, ob sich nichtdemokratische Formen der Herrschaft wie in China oder technokratische Modelle wie in Singapur doch als die resilienteren und krisenfesteren erweisen werden. Der Mangel an Demokratie und Liberalität wird dort nicht mehr verschämt eingeräumt, sondern sogar zum Programm gemacht, wie man etwa beim neokonfuzianischen Pekinger Philosophen Zhao Tingyang nachlesen kann. Hier werden die Defizite des Westens aufs Korn genommen, etwa die Ineffizienz populistisch-demokratischer Krisenbearbeitung. Dagegen hat der Westen die besten normativen Argumente auf seiner Seite – seine Praxis im Krisenmodus freilich spricht oft eine andere Sprache. Geht es immer noch um die Frage von mehr oder weniger Staatsintervention und nicht eher um neue Formen der Steuerung? Wie geht man mit Querschnittsthemen wie der ökologischen Herausforderung um? Neokonfuzianisch würde man daran arbeiten, Widersprüche und Konflikte schon vorgängig einzuhegen. Aber kann das wirklich die Alternative sein?“ (SPIEGEL.de)

Da klingt vieles befremdlich. Hat Tingyang sich überhaupt mit dem gegenwärtigen Regime abgegeben? Entwickelt er nicht mutig eine philosophische Friedensordnung für die ganze Welt, in der Hoffnung, die konkrete Realisierung der Leitziele werde der Grundsatzdebatte folgen? Welche Defizite des Westens hat „er aufs Korn genommen“? Welche besten normativen Argumente hat der Westen auf seiner Seite? Nur nicht präzise werden, Herr Soziologe.

„Neokonfuzianisch würde man daran arbeiten, Widersprüche und Konflikte schon vorgängig einzuhegen. Aber kann das wirklich die Alternative sein“?? Probleme vorgängig einhegen, um sie zu vermeiden: das soll abwegig sein?

Ja, gewiss doch, der Westen war der ganzen Welt überlegen, weil er rücksichtslos Risiken einging! Mit neokonfuzianischen Segenssprüchen der statischen Naturordnung kommt man auf keinen grünen Zweig. Noch immer würden die Chinesen ihre Wasserräder auf den Feldern mit der Hand bedienen.

Sind sie inzwischen nicht deshalb auf dem Mars gelandet, weil sie mühsam gelernt haben, keinen Gefahren auszuweichen? Welch hinterwäldlerisches Attentat des Buchs auf die Modernität des eigenen Landes! Kann das irgendjemand ernst nehmen?

Nassehi fragt sich, ob der Westen die jetzige Krise bewältigen kann. Ist es überhaupt eine klassische Krise, wenn sie nach gewissen Schwierigkeiten wieder zur Normalität zurückkehren kann?

Der Autor liebt verblüffende Aussagen:

„Ich zucke stets zusammen, wenn die Beschwörungsformel auftaucht, wir müssten das Problem gemeinsam lösen, es seien kollektive Anstrengungen nötig: Wir alle müssten unser Leben ändern, den Sinn unseres Wirtschaftens und Arbeitens infrage stellen und so weiter. Der Buchmarkt ist voll solcher Appelle, zu je einem Drittel im Modus politischer, wissenschaftlicher und moralischer Rede. Die Beruhigung durch gutes Zureden hat Konjunktur – und ist doch nur ein Symptom dafür, sich unserer Unfähigkeit zur Problemlösung gar nicht erst stellen zu müssen.“

Die Aufrufe zur Zusammenarbeit, zur kollektiven Änderung unseres Lebensstils seien Versuche, durch gutes Zureden alle zu beruhigen?

Niemand verspricht, dass es den Menschen gelingen wird, die Gefahren zu bannen. Dennoch müssen wir es versuchen. Trotz aller Ängste und Zweifel müssen wir in den sauren Apfel beißen. Das sind unmissverständliche Aufforderungen zur Tat in der letzten Weltsekunde, keine Eiapopeia-Beruhigungen à la Kanzlerin.

Der Schreiber beschreibt die deutsche Gesellschaft nicht als eine Polis denkender, fühlender und hilfreich sein könnender Lebewesen, sondern als kaltes System – oder als Maschine, die eine bestimmte Eigenart aufweist: sie ist ausdifferenziert. Jedes Rädchen tut nur das, was es am besten kann. Gewöhnlich spricht man von Arbeitsteilung und Spezialisierung.

Warum ist der Westen der übrigen Welt überlegen? Weil er eine immer einseitigere Arbeitsteilung entwickelte. Man könnte auch von Fachidiotie sprechen. Wer nur sein immer kleiner werdendes Fach überblickt, versteht das Ganze nicht mehr. Das Ganze ist das Schicksal der Menschheit. Es ist ein suizidaler Faktor, wenn die Menschheit ihren Gesamtzustand in der Natur nicht mehr überblicken kann.

„Diese Orientierungslosigkeit rührt auch daher, dass angesichts der Corona- und der Klimakrise die Gesellschaft selbst mit ihren Verarbeitungsregeln in der Krise ist. Denn die moderne Gesellschaft und Kultur charakterisiert eine ausgeprägte Form der Gewalten- und Arbeitsteilung, der Dezentralisierung, der Unterbrechung von Koordination, der Emanzipation ihrer Teile. Die historisch einmalige Leistungsfähigkeit der Moderne ist gerade nicht das Resultat zentralistischer Planung, päpstlicher oder kaiserlicher Repräsentation oder pharaonenhafter Pyramidenstruktur. Die Leistungsfähigkeit ist das Ergebnis von Differenzierungsprozessen.“

Mit anderen Worten: die westliche Gesellschaft ist ein Chaos aus unsteuerbaren autistischen Aktionen. Wollten wir das ändern, würden wir bei totalitären Gesamtplanungen landen. Will das jemand?

Unsere Demokratie ist, da sie nur aus atomistischen und egoistischen Einzelaktionen besteht, per se unfähig, die jetzigen Krisen durch gemeinsame Planung zu bewältigen.

„Die moderne Gesellschaft ist deshalb ziemlich gut darin, isolierte und spezielle Probleme zu lösen. Aber sie ist überfordert mit der Lösung kollektiver Herausforderungen. Wo in der Coronakrise gescheitert wurde, scheiterte man an der Kombination und Abstimmung unterschiedlicher Logiken – wie wissenschaftliche Evidenz in mehrheitsfähige politische Maßnahmen übersetzt werden kann, wie ein Ausgleich zwischen medizinischer Notwendigkeit und ökonomischer Kontinuität möglich ist.“

Demokratische Prozesse wie Debattieren und Abstimmen passen nicht zur Evidenz wissenschaftlicher Prozesse, die weder Abstimmungen noch Kompromisse kennen.

Die Maschine „Demokratie“ scheint untauglich zur aktuellen Problemlösung. Herr Professor hat gewogen und zu leicht befunden.

„Der Verzicht auf wechselseitige vollständige Kontrolle ist auch ein Schutzmechanismus – er ermöglicht Freiheit, weil er Abweichung und Pluralität belohnt. Und er zielt auf eine strukturelle Begrenzung des Durchregierens und totaler politischer Herrschaft. Die gesellschaftlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, der Nationalsozialismus und der Faschismus, auch der sowjetische Kommunismus und das kulturrevolutionäre China, setzten nicht zufällig exakt an diesem Mechanismus an, an der gewaltsamen Außerkraftsetzung dieser Schutzmechanismen.“

Ihr Deutschen, ihr westlichen Anhänger der Demokratie: was wollt ihr? Wollt ihr Freiheit, kein totalitäres Zwangssystem mit perfekter Planung? Tja, dann müsst ihr mit dem Risiko leben – oder untergehen: ein Drittes gibt es nicht. Wenn ihr nicht endlich aufwacht aus euren Wunschträumen, endlosen Fortschritt problemlos verbinden zu können mit wachsendem Chaos, dann werdet ihr untergehen.

Allerdings: wenn ihr aufwacht und euch für eine Seite entscheidet, indem ihr die andere opfert: werdet ihr ebenfalls untergehen.

Herr Professor endet ratlos, aber in einer eleganten rhetorischen Wendung:

„Im Moment kann man im Hinblick auf die Pandemie und die epochale Herausforderung des Klimawandels vermutlich nur mit Bruno Latour ausrufen: »Wenn es doch nur eine Krise gewesen wäre“.“

Was ist zu tun? Hegels Allversöhnungstheorie, in der alle Widersprüche in Harmonie aufgelöst werden, steht nicht mehr zur Verfügung.

Auf der einen Seite die Rückbesinnung auf ökologisch stringente Naturphilosophien wie die konfuzianische oder altgriechische, auf der anderen eine nicht mehr zu rettende Moderne, die ihren Widersprüchen nicht mehr gewachsen ist:

Deutschland, wähle!

Fortsetzung folgt.