Tagesmail vom 22.07.2024
Natur brüllt! XCIX,
Ein stolpernder, verwirrt redender Biden – wäre er immer noch um Welten besser gewesen als ein hemmungsloser Faschist, der jeden Gefahren-Knopf drückt, der ihm entgegengestreckt wird?
T. C. Boyle, amerikanischer Literat – der Arbeiter liebt und sie ihn –, hätte viele Ängste vor einer Zukunft mit trumpistischen Vaganten:
„Ich hoffe, dass die Wähler ihn aufhalten werden, denn sonst sehen wir einer düsteren, faschistischen Zukunft für Amerika entgegen. Glauben Sie wirklich, dass der Typ, der versucht hat, die letzte Wahl für nichtig zu erklären, eine weitere überhaupt noch zulassen wird? Russische Soldaten schreiben Trumps Namen auf die Bomben, die sie über der Ukraine abwerfen. Weil sie wollen, dass er wieder an die Macht kommt. Er würde seinem Vorbild Putin erlauben, das Land komplett zu zerstören und es in einen Sklavenstaat zu verwandeln. Ich kann mir ja viel vorstellen, aber nichts könnte beängstigender sein als das, was jetzt gerade passiert.“ (TAZ.de)
Für Boyle ist Trump nichts anderes als ein Faschist, der die Welt – zusammen mit anderen bedingungslosen Machtträgern – der Endkatastrophe zuführt. Der Klub der Allmächtigen in Russland, Nordkorea und China erwartet ihn bereits.
Endlich nähert sich die leidige Epoche der Machtbeschränkung ihrem Ende. Die grundliegenden Elemente unserer fabelhaften Weltkultur müssen endlos sein, als da sind: Fortschritt, Macht und Naturzerstörung, die ihre Vorhaben widerstandslos realisieren können.
T. C. Boyle schreibt Bücher – aber mit einer klassischen Arbeiterseele.
„Ja, und ich habe viel Zeit in der Sierra Nevada in einer Arbeitergemeinde verbracht. Ich liebe diese Menschen, sie lieben mich. Aber bei der Politik kommen wir nicht zusammen. Alles, was sie kennen, ist Fox News. Sie haben nichts anderes. Sie reisen nicht in andere Länder. Sie lesen nichts. Sie kennen nur die Propaganda, die ihnen eingetrichtert wird. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem es keine Fakten mehr gibt, nur noch Meinungen und Propaganda. All diese Faktoren sind ein wahres Hexengebräu für die Zukunft unserer Demokratien. Nicht nur der amerikanischen, sondern auch Ihrer eigenen. Wenn Trump wieder gewählt wird, wird jedes Lebewesen auf der Erde leiden, weil die USA sich dann von all den grünen Initiativen Bidens verabschieden werden.“
Deutsche Beobachter sehen nur den Firlefanz dieser Gecken. Ihr politischer Gehalt bleibt ihnen verborgen. In Deutschland ist nämlich alles in Ordnung: man wurstelt sich durch. Das genügt. Keine Utopien und keine Apokalypsen, wenn wir bitten dürfen. Porschefahrer, was wollt ihr mehr?
In einem Punkt irrt sich der Literat: Bidens viel zu später Rücktritt ist keine Selbstkritik an seiner Politik. Sondern ein Ungenügen an seiner jetzigen körperlichen Verfassung.
Doch jetzt wird’s spannend. Wenn das Schiff ins Wanken kommt, müssen die Frauen ans Ruder. Bringt Kamala Harris die notwendige Geistesgegenwart mit, um Amerika erneut zur Rettung des Westens – und nicht nur des Westens – zu rüsten?
Deutschland kennt kein Rettungsfieber, keine Not, nur das Immerweiterso der immer noch zu den Weltbesten gehörenden Wohlfahrtsstaaten.
Momentan geht’s zwar abwärts mit uns, doch da gibt’s die beruhigenden Vergleichstabellen – und da schwimmen wir immer noch oben mit.
Gewiss, wir haben einige Macken. Doch die kriegen wir wieder hin. Die Justiz hat die unruhestiftende Jugend fest im Griff – im Übrigen ist diese ohnehin schon wieder von sich aus verschwunden. Wir warten auf die Glocken vom Bernwardsturm: Jetzt muss aber endlich was passieren. So kann’s nicht mehr weiter gehen. Und also geht es so weiter.
Wer in Deutschland etwas ändern will, braucht eine Genehmigung. Nein, nicht der Behörden, sondern der Erfinder des zu Genehmigenden. Doch diese kreativen Heroen denken nicht daran, ihre unsterblichen Machwerke einer naturfreundlichen Korrektur zu überlassen. Wo bliebe die unverwechselbare Signatur ihres Genies?
Wir sind genial und deutsche Genialität muss unverändert bleiben.
Schon mal bei Schiller nachgelesen? „Schiller weiß: deutsche Bürger werden keine Revolution machen.“
Aber in deutschen Schulen wird der Schwabe gelesen, als habe er das Nationaltheater in Mannheim persönlich angezündet.
Sowohl Schiller als auch Goethe, sein Bruder im erlesenen Sprüchekloppen, haben klar und deutlich gezeigt, dass die deutsche Klassik mit der wirklichen Klassik nichts am Hut hat.
„Das 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass man die Griechen und Römer studieren konnte, ohne – wie die französischen Revolutionäre überzeugt waren – aus ihnen den Geist der Freiheit und der Humanität zu erfahren.“
Wetten, dass viele Abituraufsätze in diesem Jahr wieder von Goethe und Schiller triefen? Hat irgendein Feuilletonist schon mal einen Gymnasiallehrer interviewt, warum er noch immer Weimar verewigt, aber tatenlos zuschaut, wie das Deutsche Fernsehen von Sportübertragungen qualmt, die Iphigenie aber noch nie kurz nach acht übertragen hat?
Wozu brauchen wir solche Kinderverderber? Zumal als staatlicher Bildungsbetrieb?
„Schiller ist nicht der große politische Erzieher der Deutschen geworden – wozu er sich berufen wusste. Das hängt mit seinem innersten Scheitern zusammen. Schiller glaubte, dass die Revolution nur nach innen, im Innenraum der Person auszurichten sei. Mit dieser Selbstfesselung, dieser Selbstzensur, setzt Schiller für die ganze Folgezeit ein Vorbild.“ (alle Zitate aus F. Heer, „Europa, Mutter der Revolutionen“)
Kein Leitartikler wird sich mit solchem Quark auseinandersetzen. Schiller war nämlich ein Feigling, er bebte vor dem Terrorismus der Französischen Revolution.
Sein Reich der Freiheit war im Innern. Seine Bewunderer folgen seitdem seiner genialen Fluchtspur in die Innerlichkeit. Was zum Henker ist Innerlichkeit?
Sie ist mit Gelehrsamkeit kostümierte Dummheit und Feigheit.
Solche ordinären Scheltworte dürfen in deutschen Abituraufsätzen nicht vorkommen. Innerlichkeit ist alles andere als unsichtbar. Sie wird sichtbar in deutscher Kunst. Wo aber finden wir diese Kunst?
In toten Hallen, die sich Theater und Museen nennen. Auf keinen Fall dort, wo sie der Öffentlichkeit nahe gebracht wird.
Im Deutschen TV gibt es keine Kunst, nur Quiz, Klamauk und Geschwätz.
Das lässt sich vornehmer formulieren:
„Schiller lehnt den französischen Antike-Kult und seinen Antike-Glauben ab: es gibt keine Wiedergeburt der antiken politischen Tugend. Hellas und Rom kehren nicht wieder. Das Christentum hat unwiederbringlich die heilig-hohe alte Schönheit vernichtet, zerstört.“
Moment mal. Da gab’s doch noch eine andere Quelle der Erneuerung. Nicht nur die heidnische Antike konnte angeblich die Humanität verbreiten, sondern – die christliche Lehre vom Erlöser, der den Tod überwunden hat. Sollte seine Lehre wirklich Humanität gewesen sein, die Lehre vom vollen und erfüllten Leben? Niemals.
Was hat Kirche mit Kultur zu tun? Nun kommt die nächste Generation der genialen Deutschen zu Wort: Die linken Hegelianer, Marx und Feuerbach.
Marx erbringt das Kunststück, den Menschen die Religion als Opium des Menschen madig zu machen – mit einer Ersatzreligion, die noch viel opiathaltiger ist als die eigentliche: die Menschen sollen glauben, sie seien Herren ihres Schicksals, obgleich sie dem materiellen Sein völlig untertan sind.
Was ist das Sein? Der Algorithmus des unveränderlichen materiellen Schicksals. Der Mensch kann diesem Rhythmus nur gehorsam folgen, ändern kann er nichts. Oh wahre Freiheit der Materialisten!
Eine primitive Ersatzreligion als Ersatz für eine wahre Religion? Haben das die linken Revolutionäre schon verstanden? Gar nichts haben sie verstanden. Wie alle deutschen Parteien hecheln sie dem Feinstaub ihrer unverstandenen Vergangenheit hinterher. Sahra Wagenknecht hat den Faust auswendig gelernt, aber nicht die lächerliche Religionskritik ihres sozialistischen Vorbildes verstanden.
Alle Parteien haben ihre traditionellen Vorbilder, doch niemand weiß, wo diese abgeblieben sind und was sie heute zu bedeuten haben.
Marx bewunderte die genialen Errungenschaften des Kapitalismus; dass es die größte „Leistung“ des Fortschritts war, die Natur zu zerlegen und den Menschen zum Hochmut zu verleiten: das fiel ihm nicht auf.
Schiller konnte es nicht hinnehmen, dass die Deutschen keine Revolution zustande brachten. Also musste er einen Ersatz erfinden, der noch revolutionärer war als die Französische Revolution – die Kunst:
„Der Kunst ist es ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von der Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen. Und dieses dadurch, dass sie eine Kraft in ihm erweckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als roher Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive Ferne zu rücken und das Materielle durch Ideen zu beherrschen.“
Was will Schiller mit dieser Kunst erreichen? Den zeitgenössischen Menschen aus seiner durch allzu viel Arbeit erschaffenen Lethargie befreien.
„Der Geisteszustand der mehresten Menschen ist auf der einen Seite anspannende und erschöpfende Arbeit, auf der anderen erschlaffender Genuss.“
„In dieser arbeitswütigen und genußsüchtigen Menge wird der Einzelne ertrinken, in der Wüste ihrer Interesselosigkeit verdursten.“
Das war eine treffliche Prognose auf unsere heutige Zeit, die in ihrem rauschhaften Luxuskonsum ersäuft und ihrem Arbeitszwang erliegt.
Die SPD ist wütend auf ihr Bürgergeld, das die Empfänger zu Faulenzern verführen würde. Sigmar Gabriel holt den alten Sozi-Besen raus.
„Dann ätzte der Ex-Vizekanzler los: „Und wer wohlhabend ist, macht auf Kosten von Mama und Papa nach der Schule erst mal ein ‚Sabbatical‘ und danach eine Vier-Tage-Woche …“ (BILD.de)
Hart arbeiten: so klingt das Evangelium der alten Sozis. Dass sie damit eine Melodie des Neuen Testaments wiederholen, ist ihnen gleichgültig.
„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Dieses Motto darf in keinem marxistischen Lehrbuch fehlen. Wissen die Proleten denn nicht, dass denken und nicht körperlich arbeiten auch eine soziale Tat sein kann?
Wissen die Proleten nicht, dass jede Arbeit im Kapitalismus eine Hörigenarbeit ist? Wenn sie nicht den Reichen folgen, stehen sie auf der Straße.
Bei Hesiod war noch alles anders, hier waren die Bauern noch selbständig und ihre Arbeit war eine authentische Tat.
„Keinerlei Arbeit ist Schande, nur Nichtstun ist eine Schande.“
Aristoteles wusste bereits, dass jede Arbeit unter der Ägide Fremder eine unfreie war:
„Der freie Bürger, der jedem anderen gleich zu sein glaubte, fügte sich nur widerwillig in die Abhängigkeit und Unterordnung, die nun einmal das Arbeitsverhältnis unvermeidlich mit sich brachte. Der Demokrat, der bewusst die Konsequenzen seiner Prinzipien zog, vermochte sich eben nicht als wirklich freier Mann in einem Verhältnis zu fühlen, in welchem ihm so vieles zugemutet werden konnte, was auf „Sklaventum“ hindeutete.“ (Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage)
Gabriel wütet gegen das Freiseinwollen der SchülerInnen direkt nach dem Abitur. Ist es denn nicht ihre verdammte Pflicht, ihre Karrierechancen unverzüglich und dankbar in die Tat umzusetzen? Da fehlt noch die übliche Predigt an die Schulabsolventen:
„Ich möchte, dass ihr gut in der Schule seid, studiert, einen guten Beruf lernt und unabhängig seid. Ich möchte, dass ihr mal ein besseres Leben habt als ich. Diese Sätze haben viele Arbeiterkinder gehört. Besonders beliebt sind sie bei proletarischen Eltern mit Migrationsgeschichte. Es sind Sätze, die ein volles Leben lang nachklingen und eine ganze Biografie bestimmen. Es sind gut gemeinte Sätze, die zur Plage werden. Es sind Sätze voller Zuversicht, die diese Kinder wie ein Fluch verfolgen.“ (TAZ.de)
Karriere nach Oben, Karriere ins Nichts! Oben ist die Leere der unerreichbaren Zufriedenheit. Oben sind die Reichen, die sich in ihrem Wohlstand suhlen, aber nie zufrieden sind. Normale Arbeiter sind dem Moloch Maschine, erfolgreiche Aufsteiger dem Götzen Erfolg untertan. Nirgendwo sind sie frei. Die Karrieren verdampfen im Nebel des Unendlichen.
Amerika ist kein Kontinent der freien Arbeit. Freie Arbeit wäre das Verdienst einer Weltkultur, die jedem seine freie Arbeit ließe ohne erbarmungslose Konkurrenz.
In Zukunft wird sich eine sinnvolle Arbeit danach messen lassen müssen, inwieweit sie die Natur nicht beschädigt, sondern erhält oder sogar bereichert.
Fortsetzung folgt.