Tagesmail vom 01.07.2024
Natur brüllt! XCIII,
„So haltet nun alle meine Satzungen und meine Rechte und tut danach, auf dass euch nicht das Land ausspeie, in das ich euch führen will, damit ihr darin wohnt. 23 Und wandelt nicht in den Satzungen des Volkes, das ich vor euch her vertreiben werde. Denn das alles haben sie getan, und ich ekelte mich vor ihnen. 24 Euch aber sagte ich: Ihr Land soll euch zufallen; und ich will es euch zum Erbe geben, ein Land, darin Milch und Honig fließt. Ich bin der HERR, euer Gott, der euch von den Völkern abgesondert hat, 25 dass ihr auch absondern sollt das reine Vieh vom unreinen und die unreinen Vögel von den reinen und euch nicht unrein macht an Vieh, an Vögeln und an allem, was auf Erden kriecht, das ich abgesondert habe, dass es euch unrein sei. 26 Darum sollt ihr mir heilig sein; denn ich, der HERR, bin heilig, ich habe euch abgesondert von den Völkern, dass ihr mein wäret.“
Der wuchernde Judenhass der Gegenwart beruht nicht auf weltlichen Gründen, sondern auf religiösen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind die Hassgefühle gegen Juden Hassgefühle gegen die Auserwählten Gottes, die ihr von Gott gegebenes Land nicht als „säkulares Fluchtrevier“ betrachten, sondern als ihr einst von Gott gegebenes Land der Verheißung.
Wer fragt, ob die Landnahme der Juden ein postkoloniales Projekt ist, hat die falsche Frage gestellt. Es ging nicht um vergleichbare Eroberungen wie bei anderen Völkern.
Es ging, je mehr sich die Ultrafrommen an diesem Projekt beteiligten (viele waren anfänglich dagegen) um Rückkehr in die Anfänge der Zeit, in denen Gott sich persönlich um die Geschichte seines Lieblingsvolkes kümmerte.
Gott wollte den Seinen das Paradies zurückgeben – in Form eines wunderbaren Landes, in dem Milch und Honig fließt. Der Sündenfall Evas sollte vertilgt, die Schwäche des Schöpfers, der alles Böse zugelassen hatte, nachträglich beseitigt werden.
Die Geschichte der Erwählten mit ihrem Schöpfer sollte noch einmal von vorne beginnen – diesmal ohne Schäden und Defekte.
Das moderne Israel ist keine säkulare Demokratie wie andere Staaten, in denen Religionen nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Die zionistischen Begründer waren zwar vor allem Atheisten, doch je mächtiger der Staat wurde, umso mehr wuchs die Bedeutung der hebräischen Religion.
Ob Netanjahu selbst fromm ist oder nicht, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, welche Rolle die Ultrafrommen in seinem Kabinett spielen. Und die kennen nur ein Ziel: das im Alten Testament verheißene Land muss vollständig zurückerobert werden.
Das bedeutet, die Ultraregierung negiert alle modernen Völkerrechte und gehorcht einzig und allein den Worten ihres Schöpfers. Daher ist ihr Krieg kein „normaler“, sondern ein elementarer Religionskrieg. Ihre Feinde, die Palästinenser, müssen ausgerottet werden, denn jene sind Söhne des Abgrunds, sie selbst aber sind Söhne des Lichtes.
Der Terror-Anschlag der Hamas war schrecklich, noch schrecklicher der Gegenangriff Jerusalems. Verteidigung ist legitim, doch sie muss verhältnismäßig sein.
Die fast internationale Hasswelle gegen das Heilige Land muss nicht damit zusammenhängen, dass unvermutet antisemitische Urgefühle aufgetaucht sind, sondern dass das moderne Israel sich berechtigt fühlt, sich nicht an internationale Gesetze gebunden zu fühlen.
„Wie kommen diese Erwählten dazu, sich an Sonderrechten zu orientieren, statt, wie alle anderen Länder, an gleichen Rechten für alle?“
Die Juden, so scheint es, fühlen sich als besondere Söhne Gottes, für die nur besondere Regeln Gottes gelten.
Das ist ein Verstoß gegen die universalistischen Moralgesetze der modernen Welt, die seit der UN-Gründung für alle Völker die gleichen sind.
Israel, so die Vermutung der Welt, ist ein „Lieblingskind“ der USA (und der Täternation Deutschland) und kann sich deshalb leisten, was andere Länder nicht leisten können. Das wäre das Motiv derjenigen, die diese Sonderrolle emphatisch ablehnen.
Hinzu kommt, dass die Holocaustverbrechen der Nazis bislang den Opfern gewisse emotionale Sonderrechte eingeräumt haben. Doch der Holocaust rückt immer weiter weg, die heutigen Zeitgenossen wissen immer weniger um die Untaten der Nationalsozialisten. Erlittenes Unrecht kann zudem kein Recht sein, anderen Unrecht zuzufügen.
Ohnehin lässt sich von außen kaum unterscheiden, ob jemand eine antisemitische oder eine israelfeindliche Tat begangen hat. Vermutlich werden sich viele Demonstranten gegen Israel nicht als Antisemiten wiedererkennen.
So prallen die Vorwürfe frontal gegen das moralische Selbstbewusstsein vieler Menschen in der Welt, die sich zu Unrecht als Antisemiten angeklagt fühlen.
Wird sich dieses religiöse Verwirrspiel zwischen Juden und Christen denn niemals auflösen?
Was sind die Gründe dieses ewigen Tohuwabohus?
Ein Grund liegt in den widersprüchlichen Moralvorstellungen der Juden und Christen – obgleich die Heilige Schrift für beide als verbindlich gilt.
Der Text der Schrift ist nicht widerspruchslos. Weshalb die einen für heilig halten, was für die anderen ein Sakrileg ist.
Im Allgemeinen gelten die Normen aller Religionen: Gott bestraft diejenigen, die seine Gebote übertreten und belohnt diejenigen, die ihnen gehorchen.
„Während andere Völker ihre Sitten dauernd zu verbessern suchen, waren die jüdischen seit Anbeginn vollkommen.“ (Alexander Demandt, Der Idealstaat)
Die Gesetzestreue der frommen Juden beruhte auf ihrem Ehrgeiz, jedes Wörtchen ihrer vielen Gesetze penibel einzuhalten. Das ging gelegentlich so weit, dass sie mit ihrem Gott stritten, ob sie seine Gesetze gehalten hätten.
Bei den Christen war das anders. Den Juden noch am nächsten waren die Katholiken, die ebenfalls den Ehrgeiz hatten, die Gesetze zu halten. Allerdings waren sie auch von der Unvollkommenheit ihrer moralischen Tüchtigkeit überzeugt – sodass sie ohne Gnadengaben ihres Gottes nicht auskamen.
Bei Luther dominierte die Sündhaftigkeit der Gläubigen das ganze Leben. Weshalb sie auf die unverdiente Gnade ihres Erlösers hoffen mussten, um ins Jenseits zu gelangen.
„So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtgesprochen werde, ohne Werke des Gesetzes. … Heben wir also das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Vielmehr halten wir das Gesetz aufrecht.“
Bei Luther weiß niemand, ob er selig gesprochen wird oder nicht. Auch bei Calvin nicht, bei dem alle Menschen vorherbestimmt sind. Niemand weiß: vorherbestimmt zum Heil oder zum Unheil? Weshalb die Calvinisten sich berechtigt sahen, durch weltliche Taten und Erfolge ihr irdisches Schicksal zu enthüllen. Hier entsprang die christliche Wurzel des Kapitalismus.
Der heutige Streit zwischen Palästinensern und Israelis ist vor allem der Streit zwischen religiösen Sonderregeln und der universalistischen Gleichheit aller Menschen.
Israel reagiert nicht auf Vorwürfe, es verstieße gegen die humanen Gesetze der UN, die unterschiedslos für alle Menschen gelten würden.
Es handelt sich um Gleichheitsgesetze der hellenischen Demokratie, die es in der abendländischen Entwicklung schwer hatten, sich gegen die partikularen Gesetze der Erlöserreligionen durchzusetzen.
Als die christlichen Demokratien nach der erfolgreichen Aufklärung sich universalistisch gefestigt hatten, traten die Sondergesetze der Religionen in den Hintergrund. Da die Juden aber noch keinen Staat besaßen, kannten sie den Konflikt zwischen besonderen und allgemeinen Gesetzen noch nicht.
Jetzt, wo sie dabei sind, ihren Staat zu etablieren, tritt der Konflikt im Streit mit den Palästinensern voll zu Tage. Gelten auch für sie die heidnischen Gesetze allgemeiner Gleichheit oder können sie ihre Feinde wie Tiere ausrotten?
Dieses Problem war ihnen in ihrer abendländisch-staatenlosen Geschichte noch nicht begegnet. Jetzt scheinen sie noch immer nicht zu verstehen, woher die Kritik jener Menschen kommt, die sich streng an die Normen der UN halten.
Es gibt noch andere Gründe, warum das religiöse jüdische Land immer mehr auf Konfrontation mit Ländern geht, die sich ihren biblischen Machtvorstellungen entgegenstellen.
Am wenigsten allerdings mit Amerika, dessen bibelgläubige Mehrheit immer mehr davon überzeugt ist, dass die Geschichte der Menschheit zu Ende geht: die Zeit wird für die Frommen immer apokalyptischer.
In diesem Fall sind die Gläubigen besonders gefragt, den ungläubigen Zeitgenossen den bedrohlichen Verlauf der Zeit zu erklären.
Die Verfasser der apokalyptischen Bücher – die zumeist nicht in den Kanon der anerkannten Heiligen Schrift aufgenommen wurden – sind der Meinung, „die Weltherrschaft Roms werde durch die Weltherrschaft des Volkes Israel abgelöst. Die Gottlosen finden ein Ende mit Schrecken, und das Volk Jahwes herrscht über die Erde. Diese eschatologische Vision haben zur selben Zeit auch die Christen geteilt, mit dem einzigen Unterschied, dass nicht die Juden, sondern sie selbst die Nutznießer dieser Weltenwende sein würden.“ (Demandt)
Da Israel immer mehr unter die religiöse Knute der Ultrafrommen gerät, wird seine Politik immer apokalyptischer. Sie müssen sich beeilen, ihren göttlichen Auftrag glanzvoll zu erledigen: der Welt ein Licht zu sein.
Der Sieg über die bösen Palästinenser wäre ein Zeichen vom Himmel, ihre Besonderheit zu bestätigen.
Was in Deutschland überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird, ist der religiöse Urgrund der abendländischen Politik.
In den Demokratien der EU nimmt die Bedeutung des Heiligen ab, in den USA, Israel und in Russland nimmt sie zu.
Trump ist ein grobschlächtiger Frommer, der auf allem herumtrampelt, was nicht für ihn ist, Biden ein Frommer, der sogar die Frohe Botschaft vergisst.
Putin will zurück zur Weltgeltung Russlands in Zeiten des Cäsaropapismus und Netanjahu ist nur noch ein Knecht seiner Ultras.
Die muslimischen Staaten scheinen gespalten: einerseits in eher säkular gesinnte westliche, andererseits in fundamentalistische Staaten.
China muss seine ökonomische Überlegenheit noch ausbauen, bevor sich das Riesenreich geschichtlich festlegen will. Zurzeit schaut es noch interessiert zu, wie West und Ost sich gegenseitig in Trümmer legen.
Alle drei Richtungen klirren mit den Säbeln und bereiten sich auf alles entscheidende Weltkriege vor. Sollte es zu diesen Kriegen kommen, wird die Geschichte der Menschheit von vorne beginnen müssen – auf sehr schmaler Basis.
Welches Fazit müssen wir ziehen?
„Der von den Vorsokratikern eingeleitete . … Rationalisierungsprozess vom Mythos zum Logos wurde im Christentum rückgängig gemacht. Immer wieder betonten die Kirchenväter, dass die menschliche Vernunft gegenüber der Weisheit der biblischen Offenbarung wertlos wäre. Erst mit der Renaissance setzt wieder eine neue Phase der Aufklärung ein. Die herrschenden christlichen Traditionen wurden mit Hilfe heidnischer Autoren gebrochen und resäkularisiert.“ (Demandt)
Momentan gibt’s im Westen einen Wettbewerb in Regression, zurück in religiöse Intoleranz, der Mutter aller Inhumanität. Sie sprechen von Rechtsruck. Ein festes Ziel auf eine humane Weltpolis sucht man vergeblich.
Fortsetzung folgt.