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Nachruf auf Europa

Hello, Freunde des Nachrufs,

Nachrufe auf Europa sind leicht verfrüht. Hatte irgendjemand angenommen, die Anfangseuphorie der europäischen Völkergemeinschaft könne unverändert bleiben, wie sie begann?

Menschliche Dinge müssen menschlich beurteilt werden und nicht mechanisch oder maschinell. Wie man seit Beginn der Neuzeit die Natur zur Maschine machte, verwandelte man auch alles Menschliche und Organische in ein funktionierendes Ding, das man nach Belieben starten, in Bewegung setzen und wieder abschalten, dessen Leistung man nach physikalischen und mathematischen Gesetzen berechnen und steigern kann. Je mehr, desto mehr. Je weniger, desto weniger. Linear und proportional.

Je mehr der Mensch arbeitet, desto mehr verdient er, desto besser geht es ihm. Je einfallsreicher, wendiger, mobiler, flexibler und kreativer ein Volk ist, gemessen an sich selbst oder einem anderen Volk, je höher ist sein Wohlstand. Je höher sein Wohlstand, je zufriedener und glücklicher ist es. Desto mehr wird es von seinen Konkurrenten beneidet, die sich umso mehr anstrengen, den Vorsprung der Besseren einzuholen. Je mehr alle Menschen und Völker miteinander konkurrieren, desto mehr wächst der Reichtum der Welt bis … bis wohin? Bis in alle Ewigkeit? Bis ins Paradies? Bis ins Grenzenlose?

Hier bereits ist den Eliten der Welt, die sich für linearen und proportionalen Fortschritt zuständig fühlen, die Puste ausgegangen. Darüber

denken sie nicht nach, danach handeln sie.

Handelt man nach undurchdachten Prinzipien, handelt man nach Glauben. Sind Grundprinzipien des Glaubens einem Gläubigen bewusst, ist er ein eifriger Gläubiger. Heute würde man ihn einen Fundamentalisten nennen, denn er kennt die Fundamente seines Glaubens. Kennt er sie nicht, ist er vermutlich deutscher Christ. Er glaubt, weiß aber nicht, woran und warum.

Wiedererweckte Amerikaner sind bewusste Gläubige, die die Grundlagen ihres Credos kennen, weil sie die Schrift kontinuierlich lesen, memorieren und verinnerlichen. Deutsche Christen bekennen eine unübersichtlich große Vielfalt an individuellen Glaubensformen, die sie Deutungen nennen.

Obgleich sie den Sinn ihres heiligen Buches – das sie gar nicht kennen wollen – nach Belieben verändern, tun sie gleichwohl, als seien sie der schriftlichen Offenbarung verpflichtet. Amerikanische Christen halten diesen „spirituellen Liberalismus“ – im Gegensatz zu ihrem wirtschaftlichen Liberalismus, in dem jeder tun kann, was er will – für einen ketzerischen Verrat am ursprünglichen Glauben.

Handelt man nach Prinzipien eines unbewussten Glaubens, weiß man nicht, was man tut. Handelt man nach Prinzipien eines bewussten Glaubens, lässt man sein Handeln nicht von Leuten überprüfen, die diesen Glauben nicht teilen. Diesen fehlt der Status der Erleuchtung. Unerleuchtete Menschen können erleuchtete nicht verstehen.

Amerikanische Christen, die die biblischen Grundlagen ihres Glaubens kennen, wissen, dass sie in allem, was sie tun – in Wirtschaft, Kultur und Politik – die Grundsätze ihres Glaubens realisieren. Glauben sie an die Wiederkunft des Herrn, werden sie alles tun, um die Wiederkunft möglich zu machen. Ihr Glaube ist zu einer unzertrennlichen Mischung aus Glauben an höhere Mächte und dem Glauben an ihre eigene selbsterfüllende Prophezeiung geworden.

Da deutsche Christen von solchen Grundsätzen nichts wissen, auch nichts wissen wollen, handeln sie nach Restbeständen ihres Kinderglaubens, vermischt mit später erlernten Grundsätzen demokratischer Humanität. Diese Mischung aus fremdartigen, ja, unverträglichen Elementen halten sie für ihren genuinen christlichen Glauben. An die Apokalypse glauben sie bewusst nicht, das ist für sie überholter Kinderkram und Mythologie.

Der Mensch in seinem dunklen Drang ist sich des Weges wohl bewusst: ist Goethes Satz auch ein Plädoyer für bewusstes unbewusstes Tun? Nach der Devise: es ist nicht wichtig, Menschen, dass ihr wisst, was ihr tut. Vertraut euren unbewussten Instinkten, die wissen schon, wohin sie euch führen?

Bewusstes Handeln ist sogar hemmend und kontraproduktiv, weil immerwährendes Klügeln und Moralisieren die „Unschuld des Werdens“ behindere, womit wir bei Nietzsches Ablehnung des Sokrates wären, der bekanntlich nichts anderes tat, als Menschen zu bewusstem Tun zu animieren. „Ein unüberprüftes Leben (ein bewusstseinsloses) ist nicht lebenswert“, lautete die sokratische Grunddevise.

Wer nicht weiß, was er tut, kann über sein Tun keine Rechtfertigung ablegen. In einer Demokratie sollte jeder mit Argumenten rechtfertigen können, was er für richtig hält und zu tun beabsichtigt. Würde jeder nur instinktiv handeln, gäbe es keinen Raum für klares und bewusstes Debattieren auf der Agora und in der Volksversammlung.

Ein bewusst unbewusst handelnder Mensch kann nur sagen: ich tue, was ich tue; und was ich tue, ist richtig, weil ich es tue. Weitere Rechtfertigungen meines Tuns lehne ich ab, sie sind unter meiner Würde. Bin ich denn nicht ein echter Athener, Deutscher, Arier, Adliger, Milliardär, Weißer, gehöre ich nicht zu den wohlgeratenen und vollkommenen Herrenmenschen und Siegerrassen?

Wie könnte mein Ich, in welchem Bewusstseinsstand auch immer, mir etwas Falsches, Unwürdiges, Unmoralisches oder Unedles signalisieren, wenn doch meine Persönlichkeit von Natur aus richtig, würdig, moralisch und edel ist?

Argumentieren, durchdenken, schlussfolgern müssen nur diejenigen, die es nötig haben und sich ihres rassischen, gelehrten, adligen, erfolgreichen und sonstwie ausgezeichneten Ichs nicht sicher sind. Sie benötigen die Zustimmung anderer, die sie durch Reden und Streiten mühsam erringen müssen. Herrenmenschen haben diese erarbeitete Zustimmung anderer nicht nötig. Sie sagen, was sie tun und also ist es gut und vollkommen.

Denn sie wissen nicht, was sie tun, war Jesu Erklärung für das befremdliche Tun der Menschen, die am Ende seines Märtyrerlebens gar nicht pfleglich und human mit ihm umgingen. Waren sie böse, weil sie nicht wussten, was sie taten? Wären sie gut geworden, wenn sie sich ihr Tun bewusst gemacht hätten?

Hätte Jesus tatsächlich gemeint, was er sagte, hätte er mit Menschen genau so umgehen müssen wie Sokrates. Mit mäeutischen Gesprächen hätte er sie zur Reflexion über ihr Tun anleiten müssen. Hat er aber nicht. Warum? Weil er sie mit solchen Methoden zu verantwortlichen Menschen erzogen hätte – die einen Erlöser nicht brauchen.

Er wollte Sokrates nachahmen, aber im Rahmen eines göttlichen Wesens, das den Menschen heteronom retten will, anstatt ihm zur moralischen Autonomie zu verhelfen. Erlöst werden und autonomes Tun passen nicht zusammen. Ein Gott, der von Menschen gebraucht werden will – und Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen: das schließt sich in Ewigkeit aus.

Frauen und Götter, die zu viel lieben und mit Übermächtigungs-Liebe die autonomen Fähigkeiten ihrer Liebesobjekte ersticken, die lieben nicht, sondern zwangsbeglücken ihre Mitmenschen mit Hilfe instrumentalisierter Liebe. Zwangsbeglücken mit staatlichen Machtmitteln ist Faschismus.

Authentische Liebe lässt frei, vertraut den Kräften ihrer Zöglinge und ermuntert zu eigenem Handeln. In dieser Hinsicht ist Demokratie, die ihre Bürger zu selbstverantwortlichem Tun ermuntern will, das wahre Feld politisch wohldurchdachter Liebe, die mit Vernunft identisch ist.

Wenn Gegenaufklärer der Demokratie die Fähigkeit zu moralischer Selbstbehauptung absprechen, versuchen sie, den „heidnischen“ Staat der Erlösungskompetenz der Kirche zu unterstellen.

Europa hat gewählt. Die deutsche Presse zeigt sich wenig erbaut und verweist vor allem auf das Beunruhigende und Alarmistische. Wenn Gefahren drohen, müssen sie in der Tat mit schrillem Sirenengesang in den Vordergrund gerückt werden. Methodischer Alarmismus und Sensationismus aber dienen nur der eigenen Zeitungs-Auflage durch Aufbauschen beunruhigender Momente.

Der Unterschied zwischen hohlem Alarmton und tief empfundenem Warnen liegt auf der Hand: bloßes Alarmieren will nur seine eitle Unersetzlichkeit unter Beweis stellen, nichts bessern und zum Besseren verändern. Es analysiert nicht und fühlt sich nicht zuständig für gründliche Diagnose und Therapie unseres Gemeinwesens. Allein die Absicht, die Defekte der Wirklichkeit zu erkennen, wie sie sind, hält es für Humbug. Geschweige den Versuch, diverse Möglichkeiten nachhaltiger Verbesserung aufzuzeigen.

Wir wissen nichts und werden nie etwas wissen; die Realität erkennen wir nicht und werden sie nie erkennen; die schlechte Wirklichkeit verändern und verbessern wir nicht und werden sie nie verändern und verbessern: das sind die Dogmen der deutschen Presse und der meisten Intellektuellen. Die andererseits keinerlei Probleme haben, die ungerechten Verhältnisse in Politik und Wirtschaft, die sich direkt vor ihrer Nase abspielen, mit ungerührtem Ignoramus zu akzeptieren und durchzuwinken.

Machteliten erkennen sehr wohl die Realität, denn sie stellen sie täglich her. Seit dem italienischen Philosophen Vico wurde es zum Dogma der Moderne, dass sie nur erkennt, was sie selber herstellt. Ich erkenne, was ich tue.

Für Natur, die ich selbst nicht erschaffen habe, bin ich blind. Also muss ich tun, machen, malochen und produzieren, dass ich das Werk meiner Hände erkenne. Was ich selber nicht herstelle, entzieht sich meiner Wahrnehmung.

Der Ton der deutschen Presse zur Europawahl ist überwiegend alarmistisch. Dass beispielsweise die gestiegene Wahlbeteiligung – vor der Wahl befürchtete man das weitere Absinken der Wahlbereitschaft – nur nebenbei erwähnt wird, zeigt, dass man Elemente der Selbstermutigung nicht sehen will. Die Medialen spielen sich auf wie spätpubertierende Pressbengel, die ihren Eltern ihre Fehler um die Ohren schlagen, aber nicht auf gleichberechtigter Verantwortungsebene überlegen wollen, wie Fehler zustande kommen und wie man sie beheben kann.

BILD schreibt: „Schockergebnisse fast überall.“ Woher der Schock kommen soll, da alle „Schockergebnisse“ schon monatelang prophezeit wurden, bleibt das Geheimnis der BILD.

Ja, es ist umgekehrt: die prognostizierten Schockereignisse blieben in hohem Maße aus. Wilders Partei verlor, die führende linke Partei Italiens gewann, die meisten Länder blieben stabil. Deutschland, die Lokomotive Europas, wählte verlässlich solide. Noch ist die AfD belanglos und mit Wilders Partei oder den siegreichen Rechten Le Pens nicht zu vergleichen. Orbans Putinismus ist seit Jahren bekannt und wurde bislang von den Europäern hingenommen. Ob England wirklich den Abflug machen will – entgegen dem erklärten Willen ihrer Finanzeliten in London – ist noch lange nicht ausgemacht.

Wie wär‘s mit der modernen Tugend der Coolness und dem erklärten Willen, die Europagegner und -kritiker durch Argumente zu überzeugen, anstatt in schopenhauerischem Zweckpessimismus herumzuheulen?

Dieselbe Heulboje BILD hält nichts von Ändern und Bessern. Bela Anda, einst Sprecher eines gewissen Schröder, kommentiert:

„Denn glaubwürdig ist nur, wer um seine Ziele streitet. Wer sich gegen scheinbar einfache Lösungen wehrt. Wer die Komplexität von Europa erklärt Platte Parolen, einfache Lösungen entlarven sich im politischen Alltag.“ (Bela Anda in BILD)

Wer überhaupt Lösungen der Probleme anbietet, ist bereits Populist und Scharlatan. Nur wer erklärt: „die Probleme sind so komplex, ihr Leute, dass kein Mensch sie beheben kann,“ der ist glaubwürdiger Vertreter – der Erlöser. Denn wenn der Mensch nicht fähig ist, sein Schicksal selbst zu gestalten, dem bleibt nur die Rückkehr in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche.

Es ist doch all unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben: das ist die verkappte Botschaft der Komplexianer, die vor „einfachen Lösungen“ warnen. Was wäre denn die einfache Lösung, die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm zu beheben? Das weiß jedes Kind: die Armen stärken und die Reichen schröpfen.

So einfach wäre das Leben, wenn man es nicht für zu kompliziert hielte, den Reichen ihre listig erbeuteten Schätze so zu dezimieren, dass die Armen sich nicht mehr vor Scham ducken und die Reichen sich nicht vor Hybris in isolierten Vierteln verstecken.

Komplexianer sind Marionetten der Obrigkeit und selbst Mitglieder der Mächtigen. Würde sich etwas verändern, müssten sie um ihre eigenen Jagdreviere fürchten.

Wie Glenn Greenwald die amerikanische Journaille beschreibt: viele von ihnen sind selbst Multimillionäre, wohnen in denselben Vierteln wie die, über die sie kritisch schreiben sollten. Überall auf Partys, Feten und Golfplätzen treffen und schätzen sie sich. Ihre Kinder besuchen dieselben privaten Kitas, Schulen und Elite-Unis. Diese Füßeküsser und Kotau-Schreiber fürchten nur eins auf der Welt: dass ihre vom ewigen Abwiegeln frustrierten Leser eines Tages ihren Laptop an die Wand donnern und den gepflegten Rasen der Feinen betreten könnten.

Wer einfache Lösungen propagiert, muss selbstredend Populist sein. Dieser Begriff ist eine besonders infame Erfindung derer, die alle zur Schnecke machen, die die Belange des populus zu vertreten wagen. Natürlich können Populisten ordinäre Rattenfänger sein, doch alle Antipopulisten, die von vorneherein wissen, dass jeder Vertreter des Volkes ein Scharlatan sein muss, ist selbst schon einer.

Wer suggeriert denn seit Einführung des Neoliberalismus der Bevölkerung, das Beste für sie sei alles, was sie benachteiligt, schädigt und wie ein nacktes Hühnchen ausnimmt? Das ist Populismus in der raffinierten Weise der paradoxen Intervention, die im übrigen der lutherischen Untertanenobrigkeit seit 500 Jahren entspricht:

Das Beste, oh Untertan, ist für dich, was dich am meisten ans Kreuz nagelt und deiner Obrigkeit Lust und Big Money einbringt. Das Wohl deiner Regierenden ist auch das Beste für Dich, selbst wenn es für dich das Gegenteil bedeutet. Was Besseres gibt’s nicht auf der Welt. Denk an die Arbeitsplätze, die nur von Erwählten geschaffen werden können.

Was wäre der Gegenbegriff zu Populisten? Elitisten! Wie lang schon streuen die Elitisten den Völkern Sand in die Augen, nur sie könnten die kopflosen Massen durch die Wüste ins Land Kanaan bringen?

Haben sie in den letzten Jahren nicht zur Genüge bewiesen, dass sie keine Finanzkrise meistern, keine Klimakatastrophe mildern, kein Flüchtlingsproblem lösen, keine Demokratie stabilisieren und keine Humanität in der weiten Welt verbreiten können? Nicht mal wollen? Ihre Lösungen sind noch einfacher als einfach: es gibt keine für sie. Adenauer pflegte zu sagen: das Einfachste ist das Schwierigste.

Europa, halten zu Gnaden, ist eine politische Vereinigung von vielen Menschen. Menschen sind Organismen und keine Maschinen, die einem linearen Fortschrittsgesetz unterliegen. Also ist Europa ein Riesenorganismus und keine gigantische Wirtschaftsmaschine, die man nach linearer Produktion und Reichtumsakkumulation bewerten dürfte.

(Das nationalsozialistische Staatsmodell: ein Volk, ein Reich, ein Führer, war weniger organismisch, als die Imitation des christlichen Gemeindemodells in 1.Kor. 12: „Denn wie ein Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Gleider des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen Leib bilden, so ist es auch mit Christus.“)

Organismen unterliegen nicht nur physiologischen, ökonomischen, sondern vor allem soziologischen, psychologischen und historischen Gesetzen. Zu den simpelsten psychologischen Gesetzen gehört die Binsenweisheit, dass nach euphorischen Anfangsepochen, die alle Probleme primär überdecken, die Wiederkehr des Unbearbeiteten für Regression in ernüchternde bis pessimistische Kollektivstimmungen sorgt.

Haben denn die europäischen Staaten ihre stalinistischen, hitlerianischen, francistischen, mussolinistischen, salazaristischen, vichy-istischen, militärdiktatorischen, sozialistischen, kapitalistischen, vatikanistischen, lutheranischen, calvinistischen, kolonialistischen, elitistischen, faschistischen und totalitären Psychosen und Komplexe schon aufgearbeitet?

Wie viele europäische Länder haben keine demokratische Vergangenheit? Wie viele verfügen über keine oder minimale demokratische Vorerfahrung? Wie viele Erinnerungen an Krieg und Kriegsgeschrei, wie viele Hass- und Ablehnungsgefühle, wie viel Arroganz und Ablehnung gegen unsere Nachbarn vergiften noch immer unsere nationalen Seelen?

Das sollen wir alles, so nebenbei, allein durch wirtschaftliches Schuften und Raffen, aus unseren Poren geschwitzt haben?

Wann werden die dauererregten Deutschen zur Besinnung kommen und nüchtern werden?