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Moralischer und technischer Fortschritt

Hello, Freunde des Webstuhls der Zeit,

wir sausen, wir sausen. Im Umbruch der Zeiten. Wir beschleunigen und rasen. Hui, wie wir durchgeschüttelt und durchgerüttelt werden. Immer Neues und Unbekanntes, das Vertraute verschwindet im Sturmwind der Zeit.

Wo sind wir? Schon haben wir die Zukunft überholt. Schon haben wir uns selbst überholt. Heißa, holla he! Durchgefroren plustert der Erdgeist sein Gefieder, seine Stimme verweht im brausenden Wind. Was hat er uns zugeschrien?

„In Lebensfluthen, im Thatensturm

Wall‘ ich auf und ab,

Webe hin und her!

Geburt und Grab,

Ein ewiges Meer,

Ein wechselnd Weben,

Ein glühend Leben,

So schaff‘ ich am sausenden Webstuhl der Zeit,

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.“

Goethes Erdgeist verwandelt sich in Walter Benjamins Engel, der im Sturm steht, mit dem Rücken zur Zukunft, der Sturm weht vom Paradies her, der sich in den Flügeln des Engels verfängt, dass er sie nicht mehr schließen kann. Was Menschen Geschichte nennen, ist für ihn eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft:

„Der Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Die 68er Studenten hatten keine Mühe, mit Marx an einen unaufhaltsamen Fortschritt ins Reich der Freiheit zu glauben und mit Walter Benjamin an den Fortschritt als wachsende Katastrophe. Entsprechend wirr und desorientiert sieht

der Geist unserer Zeit aus. Die Desorientierten haben den Gang durch die Institutionen absolviert und sitzen omnipräsent in Parlamenten und Redaktionsstuben.

Geht’s nun aufwärts? Abwärts? Geht’s wie auf der Achterbahn? Wo stehen wir im kalten und dunklen Universum? Seht ihr nicht das Schwarze Loch um die Ecke biegen? Mit offenem Rachen will es uns verschlingen. Wir stehen ja nicht, wir sausen mit der Zeit, die uns mit Lichtgeschwindigkeit ausspucken wird.

Addieren wir Marx und Benjamin, erhalten wir die Heils- und Unheilsgeschichte der Monotheismen. Wenige treibt‘s ins Helle, die anderen liegen erschlagen unter den Trümmern der Geschichte.

Goethes Erdgeist hieße heute Karl Lagerfeld, der am sausenden Webstuhl der Zeit der Gottheit lebendiges Kleid wirkt. Den nackten Gott einkleiden – eine exquisite Beschäftigungstherapie des Seins in der Zeit. Einen kleinen Schritt weiter und wir stellen den Gott der Geschichte her. Gott ist kein unveränderlicher Klotz am Anfang, er ist im Werden und Vergehen. Doch am Ende der Geschichte hat er Residenzpflicht und muss Gericht halten.

Wie kann ein Schöpfer aller Dinge von seinen Geschöpfen geschaffen werden? Fragt nicht so viel, glaubet und sauset im Sturm der Zeit, ihr blaulippigen Windbeutel.

Von Fortschritt ist nicht mehr die Rede. Begriffe verschwinden im CO2-Ausstoß der Geschichte. Im Stenogrammstil wird skandiert: Tempo, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Hetze und Hysterie. Ist der Fortschritt im Trubel abhanden gekommen? Atemlos kommen wir zu nichts, Stillstand ist Wirtschaftsverbrechen.

Innehalten, Durchatmen, Moratorium, und zur Besinnung kommen? Präsenilen Luxus können wir uns nicht leisten. Überall diese Zahlen, die uns den Hals zuschnüren. In Berlin siehst du keine Menschen mehr auf der Straße, nur noch ambulante Zahlen. Jeder trägt offen die Zahl, mit der er die Ökonomie zum Brummen bringen will. Wer keine beglaubigte Zahl an der Stirn trägt, wird von der Polizei inhaftiert.

Novalis hat es befürchtet, nun ist es soweit: Zahlen und Figuren wurden zum Schlüssel aller Kreaturen. Im Ausweis stehen dein privates Bruttosozialprodukt, dein Kontostand und deine Schufa-Bewertung. Alles messen, was messbar ist, was es nicht ist, messbar machen. Galileis Triumph. Die ganze Welt ist zur Zahl geworden.

Am Anfang war der Logos und der Logos war die Zahl. Und die Zahl schien in die Finsternis und die Finsternis hat es nicht begriffen. Im Kapitalismus hat man es begriffen und mutiert die Menschen in nach oben offene Zahlen. Zahlen müssen grenzenlos wachsen, ohne rasante Beschleunigung sind sie nicht salonfähig.

In Wirklichkeit treten wir auf der Stelle. Wir fallen sogar zurück. Unsere Dynamik ist ein rotierendes Gebläse auf unbeweglichem Grund.

Tempo? Beschleunigung? Alles Unfug. Wir befinden uns in pseudobewegter Dauerstarre. Es geht keinen Millimeter vorwärts in eine humane Zukunft, die geächtet wird wie Pest und Cholera. Und wenn vorwärts, dann nur in den Abgrund.

Die momentane Weltpolitik scheint wie erstarrt. Uralte Händel kehren zurück. Vom Kalten Krieg ist wieder die Rede. Syrien, Nahost, Ukraine und die Krim: wir regredieren in eine bipolare Konfrontation, die uns altvertraut ist. Auch Japan und China blättern ihre blutige Geschichte auf.

Europa macht keinen Mucks, um Obamas Meditation mit dem Dalai Lama nicht zu stören, Putin würde gern Fingerhakeln, weiß aber nicht, mit wem. Mandela ist tot und Gorbi auch nicht mehr der Jüngste. Die EU und der Berliner Flughafen werden sich immer ähnlicher, niemand weiß, wann sie betriebsbereit sind.

Humane Visionen sind verboten, damit inhumane Visionen konkurrenzlos die Welt erobern. Die Menschheit wird zur irreparablen Erdenkrätze, damit Eliten das Kommando übernehmen, um die skrofulösen Massen zu bändigen. Nur Quantitäten und Plastikberge wachsen und türmen sich gen Himmel. Der Mensch steht starr und schweiget und aus den Wiesen steiget der giftige Nebel wunderbar.

In Nachfolge der Deutschen küren sich die Amerikaner zur messianischen Nation der Welt und wollen alle Völker durch Überwachung und Herzens-Schau erlösen. Neucalvinisten kennen keine befreundeten Nationen, für sie sind alle Völker der Welt verkappte Feinde. Und wer es nicht ist, soll es noch werden. Obama hat keine Weltsicht als die, die er bei seinem Lieblingspastor hörte. Go down, world, go down to hell, Hauptsache, wir Amerikaner werden gerettet.

Seit 2000 Jahren steht die Welt unter dem Kreuz der Religion. Fortschritt, Bewegung, Beschleunigung? Geh, schleich dich, du Narr. Nur beim Zerstören der Natur kann‘s nicht schnell genug gehen.

Wenn es kein sinnvolles Vorwärts gibt, muss die Menschheit zurück. Nicht zurück zur Natur, sondern zum Martyrium des menschlichen Dauerloses. „Das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. Das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr einer gewaltsamen Todes.“ So Hobbes. Er hätte sich kurz fassen und vom irreparablen Sein in Sünde sprechen können.

Wie kann man von Fortschritt reden, wenn man an die Bosheit des Menschen glaubt? Wie Neubekehrte – als ob sie es gerade entdeckt hätten – sprechen Deutsche vom hoffnungslosen Madensack, um ihre Tugendterroristen zu entlarven, die es wagen, an das Gute im Menschen zu glauben. Nichts gefährlicher im Binnengelände, als das Gute zu preisen. Denn, so die ausgekochten Dialektiker, das Gute hat die tückische Eigenschaft, ins Gegenteil zu kippen. Kein Erbauungsartikel im täglichen Feuilleton ohne Warnung vor der omnipräsenten Kippbewegung.

Alle Deutschen beginnen als Idealisten und enden als Gazpromagenten. Man schaue sich das misogyne Gesicht Joschka Fischers an: bis an seinen Tod wird er sich nicht vergeben, dass er als grüner Idealist begann.

Der Begriff Idealist ist zum Synonym des Vollidioten geworden. Man glaubt es nicht: der Idealismus, den sich die Deutschen noch immer verübeln, ist der Idealismus der – Hitlerjugend. Sie waren jung und wollten zu Land ausfahren, den Willigen die Frohe Botschaft und den Unwilligen das Gegenteil zu bringen. Bis heute haben sie die Enttäuschung nicht überwunden, dass die böse Welt ihren Idealismus so übel aufgenommen hat.

„Wir wollen zu Land ausfahren

wohl über die Fluren weit,

aufwärts zu den klaren

Gipfeln der Einsamkeit.

Woll´n lauschen woher der Sturmwind braust,

lauschen was hinter den Bergen haust

und wie die Welt so weit, und wie die Welt so weit.

Es blüht im Walde tief drinnen die blaue Blume fein,

die Blume zu gewinnen ziehn wir ins Land hinein.

Es rauschen die Bäume, es murmelt der Fluß,

und wer die blaue Blume finden will,

der muß ein Wandervogel sein.“

Es soll Hornochsen geben, die unter der blauen Blume noch immer etwas Ökologisches verstehen. Sie war – unter der Maske der Natur – das Symbol des Heils, der erlösten Erde. Das zarte Gesicht, das der junge Heinrich in der blauen Blume erblickt, ist das Gesicht der Gottesmutter, für die der Jünger Jesu in den Glaubenskampf ziehen muss, um das Heilige von der Tyrannei des Bösen zu erlösen.

Die Blume ist Mittelpunkt des Gartens Eden, von dem der Paradiessüchtige träumt – bis ihn plötzlich die Stimme seiner allzu irdischen Mutter weckt. Die Deutschen müssen aus ihren Erlösungsträumen unsanft geweckt werden. Gelegentlich mit einem kleinen Weltkrieg.

Novalis beschreibt keine irdische Wiese, sondern das Elysium:

„Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die […] ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte.“

Noch immer wird unter Deutschen ein Mensch romantisch genannt, wenn er weich, einfühlsam, hilfreich und gut ist. Romantiker sind wiedererstandene mittelalterliche Jesusritter, die das Heilige Land mit Feuer und Schwert erobern müssen. Aus dem heiligen Land wurde bei modernen Schwärmern das Bild des zurückeroberten paradiesischen Gartens. In der Mitte der Blume sehen die Glaubensschwärmer nicht das Bild des Vaters – es herrscht striktes Bilderverbot –, sondern ersatzweise das Bild des Weibes, einer Mischung aus Mutter und der Liebsten.

Amerikaner sind den Deutschen ähnlicher, als sie zugeben. Auch sie sind romantische Kreuzzügler, die mit gläubigen Kinderaugen in die Welt ziehen, um ihr das Evangelium des amerikanischen Heilsweges zu bringen – und als zerstörte Veteranen zurückkehren. Der Psalmist könnte ein früher Amerikaner sein: „Denn die Bösewichte werden ausgerottet; die aber des Herrn harren, sie gewinnen das Land.“

Heute gewinnen sie die Welt. Wie kann man an den Fortschritt des Menschen glauben, wenn man ihn für einen stehenden Sündenpfuhl hält? Sünde ist immobil, starr und satanisch unverbesserbar.

Als die Romantiker des Westens sich von der Aufklärung abwandten, verwarfen sie auch den Glauben an den moralischen Fortschritt, der für Condorcet und seine philosophischen Freunde noch selbstverständlich war. Übrig blieb der amputierte Rumpf eines bloß technischen und wirtschaftlichen Fortschritts.

Der unaufhörliche Fortschritt der Technik, das grenzenlose Wachsen der Wirtschaft muss darüber hinwegtäuschen, dass der Mensch als moralisch unfähiger Sündenkrüppel betrachtet wird. Mit Konsum und Produktion müssen sie kompensieren, dass sie (un)menschlich auf der Stelle treten. Der Wahn der grenzenlosen Zahlen ruht auf der inkorrigierbaren Null des menschlichen Lernens in allen sozialen und politischen Dingen.

Der Mensch erkennt nichts, lernt nichts, ist vernunftlos und unrevidierbar böse. All diese Defizite müssen mit amerikanischem Talmi kompensiert werden. Lernen wird zum konditionierten Drill, Erkennen zur Gängelung per Werbung, vernünftiges Denken zum Konsum unendlicher Informationen.

Wer informiert ist, hat noch lange nicht seinen eigenen Kopf benutzt. (Nebenbei: wenn die Welt so unendlich informiert ist, warum weiß sie nichts von der Welt?) Quizwissen und den ganzen Tag Informationen schlürfen sind keine Methoden der Aufklärung.

Gab es in Amerika eine klare Epoche der Aufklärung? Die Gründerväter waren hochgelehrte englische Gentlemen und Anhänger der Vernunft. Die ungeheuren Massen der nachkommenden Einwanderer waren biblizistische Christen. Von Aufklärung hatten sie keine Ahnung – bis heute.

Nur eine kleine Schicht der Intellektuellen an der Ostküste hält tapfer die Fahne des freien Denkens hoch. Silicon Valley ist keine Agora, sondern ein chiliastischer Tempel des nahen Endes durch Technik.

Während Amerikaner die Eroberung ihres neuen Kontinents als sichtbaren Beweis des Fortschritts ansahen, hatten die Deutschen nichts zu erobern. Sie mussten sich in Träume flüchten. Träume sind keine harmlosen Spielwiesen, nur allzu oft werden im Traum Schlachten geschlagen. Durch Träume bereiteten die Deutschen ihre zukünftige Weltmacht vor.

Auch die deutschen Romantiker kannten keinen moralischen Fortschritt. Im Gegenteil, sie träumten von amoralischer Kraft und bedenkenlos kriegerischer Wildheit, von Übermenschen jenseits von Gut und Böse. Die asthenischen Jüngelchen hatten Machiavelli für sich entdeckt. Hegel war es, der die private Kammerdienermoral verhöhnte und den amoralischen Italiener zum Vorbild der deutschen Helden erkor. (100 Jahre später erkor Hitler Mussolini zu seinem Vorbild, bevor er seinen eigenen Weg entdeckte und den Italiener verachtete.)

Auf dem Schlachtfeld, so Hegel, kann es keine Biedermännermoral geben. „Hier kann von keiner Wahl der Mittel die Rede sein: brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden; ein Zustand, worin Gift, Meuchelmord gewöhnliche Waffen geworden sind, verträgt keine sanften Gegenversuche. Der Verwesung nahes Leben kann nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden.“ („Die Verfassung Deutschlands“)

„Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle“. Als Popper sich mit diesem Satz seinem Freund Hayek beugte, verriet er seine eigene aufgeklärte politische Stückwerktechnologie, die peu à peu die Verhältnisse des Menschen verbessern sollte.

Von welchem Himmel sprechen wir? Dem christlichen? In diesem Fall hätte Popper Recht. Wer eine Theokratie auf Erden errichten will, wird eine Hölle produzieren. Das III. Reich der Deutschen sollte zum 1000-jährigen Endreich werden. Es wurde zur finalen Hölle.

Wenn aber Himmel metaphorisch humane Verhältnisse meint, warum sollte der vernunftbegabte Mensch sich diesem Ziel nicht lernend nähern? Nur, wenn die Menschheit sich auf ein gemeinsames humanes Endziel einigt, wird sie ihrer jetzigen Immobilität entkommen. Wer nicht vorwärts geht, muss in seine Barbarei zurückkriechen.

Grow or Go – (wachse oder schrumpfe): das neoliberale Grundgesetz gilt auch für den moralischen Fortschritt. Wer kein Ziel hat, hat dennoch eines: das rückwärtige Ziel der Barbarei.

Hayeks gegenaufklärerisches Denken kannte keinen moralischen Fortschritt. Es kannte nur evolutionäres Wachsen der Wirtschaft – in die Taschen der Reichen. Die Armen sollten gnädig durchgefüttert werden. Alle sozialen Phantasien einer gerechten Gesellschaft verdammte er als Versuche, den Himmel zu wollen, aber die Hölle zu erreichen. Der Weg zur Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert.

Seitdem folgen die Neoliberalen seiner Devise, ohne himmlischen Umweg gleich die Hölle anzusteuern.