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Tagesmail

Montag, 28. Januar 2013 – Der edle Wilde

Hurra, wir sind störungsfrei in Berlin angekommen.


Hello, Freunde des Eurolands,

zwei Italiener haben Europa gerettet. Mario Draghi zückte die ultimative Waffe gegen die Krise und kündigte unbegrenzte Anleihekäufe an. Mario Monti ist der Vorzeigesanierer Europas. Die Pessimisten haben nicht recht behalten, was das Euroland betrifft. „Doch weder Griechenland noch Portugal mussten austreten. Die Gemeinschaft der Eurostaaten hat sich als stabil erwiesen, weil sie eine Reihe richtiger Entscheidungen traf.“ So Hannes Koch in der TAZ.

Merkel wies darauf hin, dass Europa 25% der globalen Wirtschaftsleistung aufbringe, sich aber 50 % der weltweiten Sozialkosten leiste. Das meinte sie als Warnung. Die europäischen Produkte dürften nicht noch teurer werden, sonst verkauften sie sich nicht auf dem Weltmarkt.

Koch dagegen: „Das ist allerdings nicht die ganze Wahrheit. Grundsätzlich kann sich Europa seine Sozialkosten und Löhne durchaus leisten – sie sind sogar eine Vorbedingung für seine künftige Rolle in der Welt.“

 

Was ist der Sinn der Wirtschaft? Die bessere, reichere Wirtschaft? Reich klingt nicht gut, reden wir lieber von Wohlstand, auch wenn er immer mehr in Wehestand kippt.

Was ist der Sinn von Wohlstand? Ein größerer Wohlstand? Wenn es dem Stand wirklich wohl ginge, wozu Veränderung und Vergrößerung des Wohlstandes?

Wohl, wohler, am wohlsten? Hat Wohlstand einen Superlativ? Nur in der Grammatik. Fühle ich mich wohl, kann es mir nicht wohler gehen. Würde es mir noch

wohler gehen, hätte ich bestimmte Momente des Unwohlseins übersehen und mir nicht klar gemacht, dass bestimmte Unzufriedenheiten mein Leben durchziehen.

„Wohl“ ist ein Wort der Utopie, das nicht übertroffen werden kann. Doch Utopie ist bei uns durch Lust- und Paradiesverbot verbannt. Also muss Wohlstand vom Kreuz der Zivilisation belastet werden.

Wohlstand müssen wir bezahlen. Mit Zivilisations- und Naturschäden. Wenn Fortschritt aus Vorteilen besteht, die mit Nachteilen behaftet sind, müssen wir die Nachteile von den Vorteilen abziehen, um den wahren Fortschritt zu ermitteln.

Wie ist es mit dem Wohlsein in einer „primitiven“ Indianergruppe? Es gibt dort keinen Fortschritt, also auch keine Kosten. Welcher Saldo ist besser? Wer fühlt sich wohler in seiner Haut?

Vieles spricht dafür, dass der Fortschritt ein Rückschritt in Wohlsein ist. Diese projektive Einschätzung führte zur Rede vom „edlen Wilden“, die anfänglich ernst, später spöttisch gemeint war. Rousseaus Kulturschelte war eine Hymne auf wilde Naturnähe.

Wenn die Nachteile des Fortschritts die Vorteile überwiegen, war der Fortschritt einer der größten Etikettenschwindel der westlichen Moderne, die ihren Rückschritt ins Gegenteil umfunktionierte, um ihre Überlegenheit über den Rest der Welt zu demonstrieren. Der ganze ungeheure Aufwand an Technik, Macht über Natur, Produkte ohne Maß und Ziel – sollte nur ein Rohrkrepierer sein? Wollen wir das wirklich wissen?

Erst vor Jahren kam die Glücksforschung auf. Die ersten Ergebnisse sprechen nicht für den Westen, sondern für die glücklichen Wilden. Den Wettbewerb ums Glück haben wir verloren.

Wohl ist nur ein anderes Wort für Glück, dennoch gibt’s keine Konsequenzen. Da drängt sich der Verdacht auf, dass es uns gar nicht ums Glück geht, sondern um – ja was?

Dem christlichen Westen geht’s nicht um Glück auf Erden, sondern um Seligkeit, das Glück des Himmels. Wohl gibt es die joachimitisch-amerikanische Vorstellung des Himmels auf Erden. Aber auch die Neucalvinisten glauben an die Apokalypse als Vorbedingung von Milch und Honig. Zudem ist Glück beschränkt auf Glück eines Landes, einer Population, weniger Eliten, von Auserwählten. Den Rest beißen die Hunde.

Glückspolitik ist keine Sache des Westens. Eher das Gegenteil. Wenn Vorbedingung der Seligkeit das irdische Unglück ist, muss dieses in selbsterfüllender Prophetie hergestellt werden. Das Ziel westlichen Wohlstands ist das kollektive Wehe. Danach scheiden sich die Geister. Die einen ins Töpfchen, die anderen ins Kröpfchen.

Über Wohl und Wehe der Weltpolitik so gut wie keinen Mucks in der öffentlichen Rede. Es geht ja nur um unser Schicksal. Blind und taub schliddern wir in die Fallen einer uralten Mythologie.

Im ersten Buch Adam Smiths kommt der Begriff Wohlstand gar nicht vor, dafür aber der Begriff Glückseligkeit. Im zweiten kommt Wohlstand vor, nicht aber Glückseligkeit. Seltsam, gell?

Das Wort ist überdeterminiert. Wer glücklich ist, braucht keine kompensative Seligkeit. Wäre Seligkeit nur die Fortsetzung irdischen Glücks, gäbe es gegen ihr Vorhandensein keine rationalen Einwände. Jenseitige Seligkeit würde diesseitiges Glück nicht mindern, um ihre Notwendigkeit zu erweisen. Ob Glück allerdings Ewigkeit braucht?

Was ist Glückseligkeit? „Die Glückseligkeit besteht in der Ruhe und im Genuß. Ohne Ruhe kann es keinen Genuss geben und wo völlige Seelenruhe ist, da gibt es kaum etwas, was nicht fähig wäre, uns zu unterhalten.“

Ohne Unterhaltung und Abwechslung geht’s nicht, aber nach jeder Unterbrechung kehrt das Gemüt „nach längerer oder kürzerer Zeit wieder in seinen natürlichen und gewöhnlichen Zustand der Ruhe zurück.“

Träfen diese Definitionen von Smith zu, hätte unsere Zivilisation mit Glückseligkeit nichts zu tun. Der Zweck unserer Zivilisation scheint in der Herstellung progressiver Unruhe zu bestehen, die zur Sucht geworden ist. Sucht ist: immer mehr vom Selben bis zur Selbstzerstörung.

Ununterbrochenes Wachstum der Wirtschaft in immer größerer Hektik ist der Kern unserer Sucht nach immer neuen quantitativen Rekorden. Das Wohl und eine forcierte Unruhe vertragen sich nicht.

„Die Hauptquelle des Elends und der Zerrüttungen des menschlichen Lebens scheint aus einer Überschätzung des Unterschiedes zwischen einer dauernden Lebenslage und einer andern zu entspringen. Habgier überschätzt den Unterschied zwischen Armut und Reichtum, Ehrgeiz den Unterschied zwischen Privatleben und öffentlicher Stellung. Ruhmsucht den Unterschied zwischen Unbekanntheit und ausgebreitetem Ansehen. Ein Mensch, der unter dem Einflusse einer jener maßlosen Affekte steht, ist nicht nur in seiner gegenwärtigen Lebenslage elend, sondern er wird oft auch geneigt sein, den Frieden der Gesellschaft zu stören, um jene andere Lage zu erreichen, die er so töricht bewundert. Und doch könnte ihm die geringste Beobachtung des menschlichen Lebens zur Genüge zeigen, dass ein gebildeter Geist in all den gewöhnlichen Lebenslagen gleich ruhig, gleich heiter und gleich zufrieden sein kann.“

Wer diese Zeilen aufmerksam liest, kommt nicht auf die Idee, der Autor könnte der Gründer der modernen habgierigen, ehrgeizigen und ruhmsüchtigen Gesellschaft sein. Für Adam Smith ist eine wohlständige Gesellschaft keine Auf- und Absteigergesellschaft. Trotz aller Unterschiede soll jeder in seinem Stande glücklich werden – wenn er Verstand hat und nicht unter krankhafter Habgier, Ehrgeiz und Ruhmsucht leidet, was Smith Bildung nennt. Das absolute Gegenteil heutiger Bildung, die das habgierige, ehrgeizige und ruhmsüchtige Aufsteigen erst anheizen soll.

Glück hängt sicherlich auch von äußeren Faktoren materieller Sicherheit ab. Doch ab einem bestimmten Zufriedenheitsniveau endet die Korrelation zwischen Reichtum und Glückseligkeit.

„In den glänzendsten und erhabensten Lagen, die unsere eitle Phantasie uns vorzuspiegeln vermag, sind die Freuden, aus welchen wir unsere wahre Glückseligkeit zu schöpfen gedenken, beinahe immer die gleichen wie diejenigen, die uns schon in unserer gegenwärtigen niedrigen Stellung allzeit zur Verfügung stehen und zur Hand sind. Wenn wir von den niedrigen Freuden der Eitelkeit und des hohen Ranges absehen, so können wir in der niedrigsten Lebensstellung, sofern sich in ihr nur persönliche Freiheit findet, ganz die gleichen Freuden antreffen, wie sie uns die erhabenste Stellung gewähren kann; und die Freuden der Eitelkeit und des hohen Ranges sind selten mit vollkommener Seelenruhe verträglich, die doch die Grundlage und Voraussetzung jedes wahren und befriedigenden Genusses bilden.“

Von Bewunderung des Reichtums kann bei Adam Smith keine Rede sein. Im Gegenteil. Die meisten Reichen wussten nicht, „wann es ihnen wohl erging und wann es für sie schicklich und richtig war, stille zu sitzen und zufrieden zu sein.“

Das soll der Begründer des hektischen Kapitalismus sein? Das klingt fast wie der Religionsphilosoph Pascal, der behauptete, alles Unglück der Welt rühre daher, dass der Mensch nicht still in seinem Zimmer sitzen kann. Adam Smith wollte das Glück jedes Einzelnen: die Ruhe, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit einer saturierten Menschheit.

Eine Horrorvorstellung für alle jene heutigen Zeitgenossen, die Zufriedenheit mit Selbstzufriedenheit, Ruhe mit geistiger Trägheit, Ausgeglichenheit mit mangelndem Ehrgeiz, abwesendem Gestaltungswillen und nicht vorhandener Neugierde in Verbindung zu bringen pflegen.

Selbst der Egoismus, das Kernstück des heutigen Neoliberalismus, kommt bei Smith nicht gut weg. „Denjenigen lieben und verehren wir am höchsten, der mit vollkommener Herrschaft über seine ursprünglichen egoistischen Gefühle die außergewöhnlichste Empfindsamkeit sowohl für die ursprünglichen als für die sympathetischen Gefühle anderer verbindet.“

Der Egoismus muss überwunden werden, bevor der Mensch sich anderen Menschen zuwenden kann. Von solchen Tugenden ist in Smith’ zweitem Buch nichts zu lesen. Man könnte fast meinen, Smith beschreibe die Tugenden der innerlichen Deutschen im bescheidenen Glück ihres Winkels und nicht die ewig unruhige Dynamik weltbeherrschender Angelsachsen.

Was würde ein Londoner Banker von folgenden Zeilen des schottischen Moralphilosophen halten: „Derjenige, der am meisten Gefühl für die Freuden und Sorgen anderer hat, der ist auch am besten dazu befähigt, die vollste Herrschaft über seine eigenen Freuden und Leiden sich anzueignen. Derjenige, der die höchste und erlesenste Menschenfreundlichkeit besitzt, der ist auch naturgemäß am fähigsten, den höchsten Grad von Selbstbeherrschung zu erringen.“

Wer glücklich ist, hat es nicht nötig, sich zu vergleichen. Wer sich ständig vergleicht, kann nicht glücklich sein, sonst würde er sich nicht vergleichen. Wettbewerb und Ruhe der Seele sind unverträglich. Heute entscheiden nicht Menschenfreundlichkeit und überwundener Egoismus über den Wert eines Menschen, sondern Habgier, Ehrgeiz und Ruhmsucht.

Im zweiten Buch von Smith kommt dann die Wasserscheide, der entscheidende Bruch: „Die Politische Ökonomie beschäftigt sich also mit der Frage, wie man Wohlstand und Reichtum des Volkes und des Staates erhöhen kann.“ Die Epoche des ruhelosen, alle Grundbedürfnisse des Menschen negierenden Wachstums der Wirtschaft hat begonnen.

Es war ein weiterer Schritt weg vom edlen Wilden und Einklang mit der Natur. Der Bildungsbegriff von Smith hat mehr mit den Eigenschaften eines Wilden gemein als mit einem unedlen Wilden der Zockerkohorten.

Welche Eigenschaften verbindet man mit dem glücklichen Wilden? Hier eine Auswahl:

  • „Ein Leben im Einklang mit der Natur;
  • Eine Gesellschaft ohne Verbrechen;
  • Vollständige Autonomie;
  • Unschuld und Idylle;
  • Abwesenheit des Lügens;
  • Gesundheit;
  • Ethische Integrität;
  • Sexuelle Freizügigkeit.“

Sexuelle Freizügigkeit und ethische Integrität wären schon genügend Gründe für die unersättliche und nie zufrieden zu stellende Gesellschaft der modernen Fortschrittsphraseologen, den edlen Wilden in plastinierter Form im Museum der Skurrilitäten auszustellen. Wer körperlich und geistig gesättigt wäre, was sollte den bewegen, seine dogmatisch vorgeschriebene Unersättlichkeit zu hegen und zu pflegen?

Unersättlich in allem: das ist der wahre Hunger nach dem Himmelreich.