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Montag, 19. März 2012 – Homo rationalis

Hello, Freunde der Chefredakteure,

die Wahl des Chefs war die Stunde der Chef-Redakteure. Sie schreiben die Kommentare, sie kommentieren in den Öffentlich-Rechtlichen, sie sitzen in den Talkshows.

Sie sind die großen Söhne, die sich nach oben orientieren: zu Papa. Wenn’s um Kleinkram wie Euro und Atom geht, dürfen die Kleinen den Mülleimer nach unten bringen. Wenn’s um Ernennung des neuen Vaters geht, schließen sie die Reihen und rauchen die Schischa-Pfeife unter sich.

Die beiden letzten Väter: da hat ihnen Mama die Kür vermasselt. Das haben sie ihr heimgezahlt und den Letzten mit der Steinschleuder vom Thron geschossen.

Nun haben sie jemanden, der selbst Journalist werden wollte und über beste Kontakte nach ganz oben verfügt. Das Spiel der nächsten Zeit heißt: Vater und Söhne.

Kurt Kister, SZ, hat Fragen, die er endlich mal stellen und sich von Papa beantworten lassen darf: was eigentlich ist Demokratie, Papa? Freiheit? Wie schön du das sagst, das hab ich noch nie gehört. Und Verantwortung? Da stockt mir der Atem, die Tränen schießen mir in die Augen. Dass wir Chefredakteure

noch mal so was Schönes in unserem eintönigen Leben erfahren dürfen.

Heribert Prantl nähert sich bereits der abrahamitischen Dreieinigkeit und spricht von Mose und Abraham a Santa Clara, was natürlich nicht nett ist, den Lutheraner zu kidnappen und dem Papismus zuzuführen, der zurzeit in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Mascolo vom SPIEGEL will endlich die Leviten gelesen kriegen, Leviten von unten nimmt er gar nicht zur Kenntnis. Wie jeder weiß, stammt das Wort vom priesterlichen Stamme der Leviten und hat mit Schuld, Buße und ritueller Reinigung zu tun.

Auch sein FOCUS-Kollege strahlte in die Kamera, etwaige Fehler des Neuen werden wir zu verzeihen wissen, womit er sagen wollte, dass die Trennung von Kirche und Gazette eine übertriebene französische Erfindung sei.

Der kantige Kapitänssohn aus Hintermecklenburg – das liegt atmosphärisch kurz vor Kants Königsberg – und die Kapitäne der Edelblätter sind im gleichen Club angekommen. „Ja, man möchte gerne von Gauck alles über die Freiheit wissen“, schreibt der SPIEGEL, der noch immer unter der Abwesenheit seines früheren Vaters Rudolf Augstein leidet.

„Die Erwartungen an Gauck sind auch deshalb so groß, weil zurzeit so wenig über grundlegende politische Fragen gesprochen wird“. Es herrschten erdrückende Themenarmut und ein eklatanter Mangel an Menschen, die Politik nicht nur gut machten, sondern auch gut erklären könnten.

„Gauck wird diese Eintönigkeit aufbrechen, er ist, wenn man so will, ein neuer kräftiger Farbklecks auf einem ziemlich grauen Grund.“

Nun wissen wir, warum Friede Springer den Farbklecks so herzlich gebusselt hat. Die Quoten der Vierten Macht scheinen gesichert. Endlich haben auch die verwaisten Söhne ihren speziellen Trainer, Coach oder Über-Ich genannt, der ihnen Politik erklärt, damit sie ihre schrecklich leeren Seiten täglich zuklecksen können.

Gauck selbst wird noch viel lernen müssen, aber so viel Zeit werden sie ihm lassen. Erst soll er mal ankommen, denn viele Jahre war er in Gefangenschaft weit weg in Ossiland.

Nun ist er heimgekehrt, wird Mutti entlasten, die bei den Kindern in Staatsbürgerkunde schmählich versagt hat. Vater Jochen wird sie alle übers Knie legen, ihnen die Grundlagen der Religion – und was war’s noch? – ach so, der Freiheit natürlich, einbläuen.

Deutschland ist ein wunderbares Land. Hier gibt es vorbildliche Menschen, die versprechen, lebenslang zu lernen – wenn man ihnen denn das passende Amt dazu gibt. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.

Die schreckliche Zeit der Grämlichkeiten ist vorbei, liebe Geschwister. Und abermals sage ich euch, freuet euch. Freuet euch, der letzte Kriegsveteran ist aus Sibirien heimgekehrt. Die Söhne freuen sich bereits auf den Rohrstock. Endlich jemand, der ihnen zeigt, wie lieb er sie hat.

Die Koalition Väter & Söhne rebelliert gegen die Alleinherrschaft der Christine Neubauer-Merkel, die es nicht mehr schafft, den Hof allein zu bewirtschaften. Versteht sich, dass Alice Schwarzer instinktsicher – den Papa gewählt hat.

Überhaupt gab es viele berühmte Gesichter, die es für eine Ehre hielten, ungewählt und illegitim den ersten Mann zu wählen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Die Parteien vergeben Ehrenwahlrechte an verdiente Multiplikatoren und Karlsruhe schreitet gegen die Verhöhnung der Verfassung und des Volkes nicht ein.

Aus Misstrauen gegenüber dem Großen Lümmel haben die Verfassungsväter die Wahl des Ersten Mannes dem Volk entzogen und einem erwählten Zirkel vorbehalten. Wozu verdiente Mimen und Spaßmacher unbedingt dazugehören. In anständigen Demokratien muss man für Korruption wenigstens anständig löhnen. In Deutschland wird man durch Ehre korrumpiert und ist stolz darauf.

Da lob ich mir die papistische Dame von Thurn und Taxis. Die war beim letzten Akt von der CSU aufgestellt, um einen Wulff zu küren. Doch sie wählte ökumenisch den Protestanten. Das sollte nie mehr wieder in der bayrischen Lederhosenpartei vorkommen. Dieses Mal fuhren nur ParteisoldatInnen nach Berlin.

Die Rechten kommen. Was tun gegen die „Ewiggestrigen“? Na was? Verbieten natürlich. Schon ist der Spuk weg.

 

Seltsame Gleichzeitigkeit der Selbstdestruktion wirtschaftlicher Theorien von links bis rechts. Während nostalgische Linke den Marx auskramen, indem sie ihm die messianischen Gräten brechen, gibt’s auch auf der andern Seite heftige Attacken um einen gänzlich neuen Start der kapitalistischen Theorie.

Der Schweizer Ökonom Straubhaar, bislang Neoliberaler à la carte, fordert eine grundlegende Revision der herrschenden Wirtschaftstheorie: „Schluss mit dem Imperialismus der Ökonomen“.

Die Finanzkrise habe Grundannahmen der gängigen Wirtschaftslehre infrage gestellt, so der Hamburger Professor. Vor allem den Glauben an die Perfektheit und die Rationalität der Märkte, also die Mär vom Homo oeconomicus.

Bislang habe er diese Dogmen selbst hergebetet, bekennt der 54-Jährige selbstkritisch, der seine Zunft gar nicht zimperlich attackiert. Die Ökonomie brauche einen Neuanfang, ein ganz neues Paradigma. Die Deregulierung der Märkte sei zu weit gegangen.

Nun kommt eine heftige Debatte in den Medien auf. In den Medien? Denkste. Eben beklagen sich die Zeitungsschreiber, es gäbe keine Themen. Die es aber gibt, werden von ihnen ignoriert. Papa Gauck, erkläre uns, was ein Homo oeconomicus ist.

Die Ökonomie müsse aufhören, sich als mathematische Naturwissenschaft aufzublasen, was sie nun mal nicht sei. Sie sei eine Geisteswissenschaft und müsse mit Historikern und Psychologen zusammenarbeiten. Der Mensch ist keine habgierige Rechenmaschine, sondern ein psychisches reales Wesen, das man in allen rationalen und irrationalen Aspekten erforschen müsse.

Ein mutiger und selbstkritischer Mann, der Herr Straubhaar. Die wichtigste Fakultät hat er allerdings vergessen, der Homo oeconomicus ist ein Homo religiosus.

Was Nutzen sei, variiert von Philosophie zu Philosophie, von Religion zu Religion. Besteht Nutzen in der Summe meiner Bedürfnisse? Sind Bedürfnisse endlich oder unendlich?

Sind sie endlich und regelmäßig, sind sie berechenbar. Sind sie unendlich, entziehen sie sich dem Einmaleins.

Unendliche Bedürfnisse sind stets neue Bedürfnisse, die ich jetzt noch gar nicht kennen, nicht in mein Kalkül einbeziehen kann. Unendliche Bedürfnisse können nur Wesen haben, die sich selbst als unendliche definieren. Womit wir im Bereich der Religionen angekommen wären.

Endliche Bedürfnisse sind Bedürfnisse begrenzter Wesen, die ihr Maß und ihre Mitte kennen. So in der chinesischen und der griechischen Philosophie, in allen Naturreligionen.

Sind Bedürfnisse privat, weil der Mensch ein autistisches Wesen ist? Oder beziehen sie sich auf andere Menschen, die Bedürfnisse haben wie ich und auf die ich Rücksicht nehmen muss?

Sind Bedürfnisse neutral-amoralisch oder sind sie einer Ethik verpflichtet, da der Mensch sich als Gesellschaftswesen sieht?

Der Homo oeconomicus kennt keine Moral, nur berechenbare Naturgesetze. Genauer: die Moral besteht in der Respektierung der Naturgesetze, die sich keiner willkürlichen Edelmoral fügen. Im Gegenteil, werden sie mit schwärmerischen Moralregeln überfordert, schlagen sie zurück und veranstalten ein heilloses Schlamassel.

Das wäre, wie wenn Franz von Assisi einem hungrigen Löwen Sanftmut und Entsagung predigen würde – und von demselben zum Frühstück verspeist wird.

Nach Hayek gelten nur Naturgesetze, alles andere ist von Übel. Wer aus der Wirtschaft einen Wohltätigkeitsverein machen wolle, würde Wirtschaft und Wohlstand ruinieren.

Ab Descartes galt der Körper des Menschen als Maschine, körperliche Bedürfnisse mussten grundsätzlich berechenbar sein. Wie sie mit Bedürfnissen anderer Körpermaschinen harmonieren, ist nicht mehr Sache der Körper, sondern des himmlischen Maschinisten oder Uhrmachers, der die Uhren aufeinander einstellt.

Bei Descartes gab es noch einen geistigen Überbau, der den Körper überwachen und leiten sollte. Wie beide Teile zusammengehören, war ein schwieriges Problem.

Als im Verlauf der Neuzeit der religiöse Überbau der Aufklärung zum Opfer fiel, blieb allein die berechenbare Maschine übrig, die keiner moralischen Überlegung fähig war. Ist der Mensch zur moralischen Kontrolle seiner Bedürfnisse nicht fähig, bleibt er Sklave seiner Triebe.

Erst mit einer Moral, die sich als souveräne Herrin der Triebe erweist, endet die Epoche des Homo oeconomicus.

Erweitert sich der Mensch zu einem übernatürlichen Wesen, der seine Existenzmitte nicht mehr im Diesseits, sondern im Jenseits findet, fallen alle irdischen Kalkulationen unter das Kriterium der Transzendenz.

Im Gleichnis vom Schatz oder der Perle im Acker findet ein Mensch das wahre Kapital in einem Acker. Er verbirgt es und geht hin, verkauft alles, was er hat, um den Acker zu kaufen. ( Neues Testament > Matthäus 13,44 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/13/44/#hl“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/matthaeus/13/44/#hl“>Matth. 13,44 ff) Alle irdischen Vorteile setzt er aufs Spiel, um überirdischen Reichtum zu ergattern.

Da die Probe aufs Exempel seiner Kalkulation nicht mehr im Irdischen liegt, gibt es keine Verantwortung auf Erden. Muss ich vor dem Himmel Rechenschaft ablegen, kann ich auf Erden in unverantwortlicher Rücksichtslosigkeit agieren. Es ist wie bei einem Zocker, der alles auf eine Karte setzt und im Chaos versinkt, wenn das Glück ausbleibt.

So Madoff, der seine Familie und viele Menschen ins Elend stürzte, weil er alles auf eine einzige Karte setzte: dass sein Schwindel unentdeckt bliebe.

Die Frommen sind nicht auf Armut verpflichtet. Im Gegenteil, sie sollen reich werden, aber mit Schätzen, die ewig halten und unverrottbar sind: mit Schätzen des Himmels. „Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen – und du wirst einen Schatz in den Himmeln haben“. ( Neues Testament > Markus 10,21 / http://www.way2god.org/de/bibel/markus/10/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/markus/10/“>Mk. 10,21)

Bei dieser Strategie kann es keine Sicherheit für Angehörige und Abhängige geben, deren Schicksal in der Luft hängt, wenn beim Alles oder Nichts das Nichts obsiegt.

Der sogenannte Altruismus des Wegschenkens unterliegt dem absoluten Heilsegoismus eines Selbstsüchtigen.

Verlagert sich der Himmel auf die Erde, wird der demonstrative Altruismus der Kirche zum Instrument grenzenloser Selbstbereicherung, was Adam Smith hasste wie die Pest. Weswegen er in Reaktionsbildung alles auf den irdischen Egoismus setzte – was heut im selben Chaos versinkt, denn die ausgleichende Unsichtbare Hand erwies sich als Phantasmagorie.

Noch immer steht die heutige Wirtschaft im Banne eines Egoismus, der sich gegen Mitmenschen und Natur nicht verantwortlich fühlt, weil er auf ein imaginäres Jenseits fixiert ist, wo er sich Schätze erhofft, die von Motte und Rost nicht vernichtet werden können – oder eines Altruismus, der seine angebliche Menschenliebe nutzt, um nur immer reicher zu werden.

Eine erneuerte Wirtschaft wird erst möglich sein, wenn der Homo oeconomicus beginnt, sich als Gemeinschaftswesen zu definieren, wenn er sich nicht mehr einem illusionären Jenseits, sondern der Erde verantwortlich fühlt. Dann erst entfaltet er sich zu einem wahren Homo rationalis.

Vernunft ist die alleinige Sachwalterin des Individuums, das der Gemeinschaft und der Natur verpflichtet ist. Ohne sie wird es der Mensch zu keiner Nachhaltigkeit bringen.

Es ist nicht die nackte Habgier, die den Einzelnen ruiniert und die Gesellschaft spaltet, es ist die Habgier, die sich ins Unbegrenzte ergießt.

Natur und Existenz des Menschen werden aufs Spiel gesetzt und geopfert, weil der globale Kapitalismus sich auf einen imaginären Punkt ausrichtet und keine Rechenschaft über die Erde übernehmen kann.

Was ist von einem Pastor zu halten, der sein Zentrum in der Ewigkeit sieht, aber tut, als könne er für ein vergängliches und schnell vorübereilendes Diesseits Verantwortung übernehmen?