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Tagesmail

Montag, 10. Dezember 2012 – Aufsteigermoral

Hello, Freunde des Gutfühlens,

die Schrittzähler für Hartz4-Leute hat Heinrich Alt von der Bundesagentur für Arbeit verteidigt. Wenn in Managerkursen Schrittzähler getragen werden, sei das in Ordnung, wenn Arbeitslose es tun sollen, sei es Humbug. Da werde mit zweierlei Maß gemessen. Dabei sei es doch ganz einfach: „Wer sich gut fühlt, wer sich fit fühlt, habe auch Selbstvertrauen – und bekommt nachweislich schneller einen Job.“

Wir haben es also mit einem Selbstvertrauenszähler zu tun. Fühl dich gut und du kriegst einen Job. Da muss es Menschen geben, die sich aus boshafter Renitenz schlecht fühlen. Das sollte durch Entzug der Staatsknete geahndet werden.

Merkwürdig nur, dass in südlichen Ländern die Menschen aus Wohlgefühl dolce far niente machen. Wie diese degenerierten Griechen, deren Vorfahren außer Demokratie, Philosophie, Wissenschaft, dem Guten, Wahren und Schönen nichts Sinnvolles zustande brachten.

Aus nationalen Wettbewerbsgründen können wir uns gar keine Schlechtfühler leisten. Wenn Manager dasselbe tun wie normale Leute, muss es natürlich gut sein. Abgesehen von der Kleinigkeit, dass Manager sich – einigermaßen – frei entscheiden können und Arbeitslose dazu gezwungen werden, gibt es noch einen kleinen Unterschied: Manager verdienen zwei Groschen mehr. Arbeitsämter, aufgepasst: bezahlt die Arbeitslosen wie die Arbeitsbesitzer – und sie werden sich um die Schrittzähler reißen.

Sagt man den Müttern nicht: weg vom Herd, rin in die kapitalistische Knochen-Mühle – und ihr fühlt euch gut? Wenn man sich erst durch Arbeit gut fühlt, wie sollen

Leute ohne Arbeit sich gut fühlen können?

(DER SPIEGEL über das Schrittzählerprojekt für Hartz4-Empfänger)

 

Jetzt, wo die Macht des Neoliberalismus selbst in der FDP gebrochen ist – den die Westerwelles nie verstanden haben, über die Formel „Leistung muss sich wieder lohnen“ hätte Hayek nur gespottet – bringt der SPIEGEL ein Streitgespräch über Armut und Reichtum. Zwei Jahrzehnte zu spät. (Streitgespräch zwischen Christoph Butterwegge und Michael Hüther im SPIEGEL)

In Hoch-Zeiten der Hedgefonds haben deutsche Medien Gerechtigkeits-Themen verabscheut. Da litten die Redakteure höchstens darunter, dass sie durch reißerische Aktienkäufe nicht genau so viel Profit machten wie ihre gerisseneren Kollegen. Sie schwammen alle auf den Wogen des schnellen Geldes und verbaten sich das ewige Genöhle um Klassenkampf und Sozialquoten.

Selbstverständlich haben sie das heute alles vergessen. Ohnehin sind sie der Vergangenheit nicht verpflichtet und schreiben nur für den Tag. Und der geht zuverlässig um 12 Uhr nachts zu Ende. Dann beginnt ein ganz ganz neues Spiel.

Hat Armut zugenommen? Sie sei nur sichtbarer geworden, sagt Professor Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft, einer Lobby-Einrichtung der Tycoons, wie ihm sein Kontrahent Professor Butterwegge vorhält. Womit Hüther wohl sagen wollte, die Armen sind nur dreister geworden und schämen sich immer weniger, in der Öffentlichkeit zu schnorren.

Selbst Menschen, die „von ihrer Erscheinung nicht den Eindruck machen, bedürftig zu sein“, sind beim Betteln hemmungslos geworden. Ob das V-Leute der Linken sind, um prärevolutionäre Stimmung zu machen?

Auf sinnliche Eindrücke allerdings muss sich Hüther nicht verlassen, er kann Statistiken lesen. Am liebsten die, die von Industrie und Rösler selbst verfälscht wurden. Auf subjektive Eindrücke will Hüther sich nicht verlassen, obwohl er sich selbst auf seine subjektive Aufsteigerbiografie beruft – sein Vater hat sich vom Techniker zum Ingenieur hochgearbeitet –, um an die Tugend der „Eigenverantwortung“ zu erinnern, ohne die eben kein Mensch etwas werden könne.

Eigenverantwortung ist eine „Haltung“, die eigene Schwächen „nicht anderen aufbürdet, sondern sich selbst in die Pflicht nimmt.“ Ob das bedeute, dass es Armen an Eigenverantwortung fehle? Natürlich bedeutet es das. Doch in heutigen Gesprächen werden Fragen nicht mehr beantwortet, sondern umgangen.

Hüther ist Dauergast in allen Talkshows, da muss man sich klug, pardon, clever verhalten, sonst wird man nicht mehr eingeladen, wenn man als Basher der Armen wahrgenommen wird. Also weicht er aus und zeigt sich vorbildlich selbstkritisch: „Es wird allgemein zu viel Verantwortung delegiert. Das gilt auch gerade für Eliten mit Vorbildfunktion – wenn Unternehmer etwa die Politik für ihre schlechten Zahlen verantwortlich machen. Zuerst einmal ist jeder selbst für seinen Erfolg oder sein Scheitern zuständig.“

Seit wann haben Eliten Vorbildfunktionen? Zumeist werden die Reichen und Mächtigen vom gehässigen Pöbel als egoistisch, hart, korrupt und asozial eingeschätzt. Eine Krähe hackt der andern kein Auge aus. Kapitalisten sind Blutsauger und Ausbeuter.

Wer ist auf die tolle PR-Idee gekommen, Eliten zu Vorbildern zu machen? Ich könnte mir andere Vorbilder vorstellen als jene, die ihre Millionen bei Nacht und Nebel in die Schweiz schmuggeln. Die Familie Albrecht mag gut katholisch sein, allein, was hatten ihre Leute davon? Bill Gates macht den Wohltäter der Menschheit, ohne nur ein bisschen ärmer zu werden.

Im Gegenteil, Charity ist Sammeln von unverrottbaren und verrottbaren Schätzen im Himmel und auf Erden, – doch ohne Rechenschaft vor irgendeinem demokratischen Gremium abzulegen. Das ist selbstherrlicher Patriarchalismus und eine bestimmte Form von Zwangsbeglückung.

Die Hilfe sei den konkreten Opfern gegönnt, doch warum wird ihnen geholfen und nicht anderen, die es vielleicht nötiger hätten? Und wer bestimmt darüber? Wer koordiniert die Hilfsmaßnahmen mit der Entwicklung des Landes?

Viele Afrikaner wissen inzwischen, dass Hilfe abhängig und passiv macht. Durch ständige Hilfe gewöhnen sich die Gabenempfänger an das vom Himmel fallende Manna. Wer überprüft, ob die Gelder an der richtigen Adresse landen?

In einer ARTE-Doku beklagten sich afrikanische Aktivisten, dass in Europa immer nur die tollen Spenden aus dem Westen, nicht aber die Eigenleistungen der Afrikaner wahrgenommen werden. Was Bill Gates und Gattin als schrecklichste Geißeln der Menschheit betrachten, das müssen sie wohl auch sein. Reiche Eliten wissen offenbar am besten, was die Welt benötigt.

Ist Eigenverantwortung eine PR-Idee aus ökonomischen Denkfabriken und hieß früher – Egoismus? Laut Wiki basiert Eigenverantwortung auf dem liberalen Ideal eines mündigen, selbstbestimmten Menschen, wie er von John Stuart Mill als „aktiver Staatsbürger“ beschrieben wurde. Eigenverantwortung bedeute, dass man für sich selbst sorgt, dass man die Konsequenzen dafür trägt. Dass man sein Schicksal selbst in die Hand nimmt.

Wie kann ich mein Schicksal selbst in die Hände nehmen, wenn es von anderen abhängt? Bin ich allein auf der Welt? Ausgerechnet das Wirtschaftssystem, welches die Selbständigkeit von Bauern und Handwerkern untergraben hat, durch unendliche Arbeitsteilung eine unendliche Abhängigkeit eingeführt hat, spricht von unabhängiger Selbstbestimmung?

Ab und zu hülfe es, wenn Professoren ihre Klassiker zur Hand nähmen. Da könnten sie über die Folgen der Arbeitsteilung die folgenden Sätze lesen oder wenn sie sie nicht verstehen, von ihren Studenten erklären lassen:

Voranschreitende Arbeitsteilung mit immer einfacheren Handgriffen würde den Arbeitern keine Gelegenheit geben, ihren „Verstand zu üben“. Allmählich würden sie bei immer stumpfsinnigerer Maloche – gilt heute genauso, auch wenn gewisse Tätigkeiten technisch anspruchsvoller scheinen; es fehlt der Überblick übers Ganze, die Voraussetzung zur Übernahme von Verantwortung – abstumpfen und unfähig werden, „Gefallen an einer vernünftigen Unterhaltung“ zu finden. Tugenden wie „Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte“ würden verloren gehen. Seine gesunde Urteilsfähigkeit würde man einbüßen.

„Die wichtigen und weitreichenden Interessen seines Landes kann er überhaupt nicht beurteilen. Ein solch monotones Dasein erstickt allen Unternehmungsgeist, selbst seine körperliche Tüchtigkeit wird beeinträchtigt. Seine spezifisch berufliche Fertigkeit, so scheint es, hat er sich auf Kosten seiner geistigen, sozialen Tauglichkeit erworben. Dies aber ist die Lage, in welche die Schicht der Arbeiter, also die Masse des Volkes, in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft unweigerlich gerät, wenn der Staat nichts unternimmt, sie zu verhindern.“

Das ist vom selben Urvater des Kapitalismus geschrieben, der auf den ersten Seiten seines berühmten Buches die Arbeitsteilung bei der Produktion von Stecknadeln nicht genug zu preisen wusste. Offensichtlich hat er den Widerspruch nicht bemerkt. Doch er war nicht blind wie seine heutigen Nachfolger, die nur noch die Ideologie ihrer Brötchengeber verzapfen. Adam Smith war reflektierender Moralphilosoph und kein lobbyistisches Plappermaul der Industrie.

Völlig richtig preist Smith die „Eigenverantwortlichkeit“ jener „primitiven Völker“, deren vielfältige Tätigkeiten von jedem einzelnen von ihnen den „vollen Einsatz fordern“ und seine Erfindungsgabe befördern, um der „ständig auftretenden Schwierigkeiten Herr zu werden. Die Phantasie bleibt rege und der Verstand ist nicht zu jener stumpfsinnigen Trägheit verurteilt, die ihn in einer zivilisierten Gesellschaft in fast allen unteren Schichten der Bevölkerung verkümmern lässt.“

Eine schärfere Kritik oder Selbstkritik der Wirtschaftsform, die Smith selbst propagierte, kann es kaum geben. Die primitiven Völker überragen die politischen und moralischen Fähigkeiten der hochentwickelten Nationen um ein Vielfaches.

Der Fortschritt zum Wohlstand und Reichtum durch grassierende Fachidiotie kostet einen Preis, über den sich heutige Prediger des unendlichen Wachstums keine Gedanken machen. Was wir an Dingen und Konsumartikeln gewinnen, verlieren wir umgekehrt proportional an Überblick, Eigenständigkeit und Verantwortungsfähigkeit.

Der „Primitive“ denke staatsmännisch und könne sich ein Urteil über die politischen Interessen des Gemeinwesens und über die Haltung der Regierenden bilden. Genau die Fähigkeiten, die ein Demokrat benötigt, werden in einer kapitalistischen Demokratie rasiert.

Wir werden partiell schlauer, universell immer dümmer, weil wir nicht die geringste Ahnung haben, was außerhalb unseres immer enger werdenden Berufsfeldes abläuft. Schon die Bedienungsanleitung normaler Küchenmaschinen überfordert die meisten Zeitgenossen. Von Verträgen, Steuern, Börsenberichten, Atomkraftwerken nicht zu reden.

Die Abhängigkeit ist ungeheuer geworden, dementsprechend das Maß unserer zivilisierten Verblödung. Gewiss, Smith sieht auch die Vorteile der Arbeitsteilung, sonst wäre er ja komplett schizophren gewesen, eine arbeitsteilige Gesellschaft zu begründen. Doch sind es wirkliche Vorteile, wenn er von der Fähigkeit erzählt, bei Spezialisierung eine „außergewöhnliche Intelligenz“ zu entwickeln?

Bei „Primitiven“ leiste jedermann fast alles, jeder besitze ein beachtliches Maß an Wissen, Einfallsreichtum und Phantasie. Aber eben keine Genialität in speziellen Fächern. Doch diese geniale Kompetenz auf immer enger werdendem Terrain verstärkt nur noch mehr die Abhängigkeit aller von allen. In technischer Hinsicht mag das von Vorteil sein, in gemeinschaftsbildender und demokratischer Hinsicht sind es nur Nachteile.

Jede geniale Erfindung, die sich in der Gesellschaft durchsetzt, vergrößert die Abhängigkeit der ungenialen Majorität von einer kleinen Expertenschicht. Die heutige Trägheit in politischen Dingen ist nicht zuletzt die schon Jahrhunderte währende Spätwirkung einer übermäßig differenzierten und aufgefächerten Gesellschaft, in der niemand mehr intellektuell durchblickt.

Bedenkt man, wie lange Arbeiter und Lohnabhängige schon durch arbeitsteilige Entmündigung in wachsendem Maße ihrer demokratischen Fähigkeiten beraubt werden, muss man umso mehr ihre Leistung bewundern, nicht vollends auf die Stufe domestizierter Haustiere gefallen zu sein oder in permanenten Unruhen den Mächtigen die Meinung zu geigen.

Es ist wie bei Schülern, die trotz jahrelanger Unterdrückung durch Schulen, Eltern und Autoritäten noch immer ein hohes Maß an Intelligenz und Solidarität gegenüber der Gesellschaft aufbringen. Wie unendlich geduldig und nachsichtig sind die gegängelten und gedemütigten Unterschichten mit ihren Unterdrückern und Entmündigern.

Wenn Liberalismus unendliche Freiheit zu wachsendem Wohlstand und Reichtum durch unendlich wachsende Arbeitsteilung bedeutet, kann sie nicht mehr kompatibel sein mit Demokratie, die nur von Menschen getragen wird, die den Panoramablick über das Ganze erarbeiten und sich für das Gemeinwesen verantwortlich fühlen. In einem industriellen Abhängigkeitsverhältnis kann niemand Verantwortung lernen, denn jede Verantwortung wird in den geistig flachen Hierarchien abtrainiert.

Verantwortung und Abhängigkeit sind wie Feuer und Wasser. Kommt noch hinzu, dass man mittlerweile nur noch für die Firma lebt, Tag und Nacht, an Sonn- und Feiertagen zur Verfügung stehen muss. Da hat man keine Zeit mehr, sich für Familie, Nachbarn oder die Polis einzusetzen. Der Profitkoloss frisst allmählich seine Kinder. Die oft beschworene Bürgerlichkeit schmilzt wie Schnee an der Sonne.

Ein Bürger war ein Mensch mit vielen Interessen. Er wollte dicke Bücher lesen, im Laienorchester das Cello spielen, mit Kind und Kegel den Schwarzwald verunsichern und den Kindern die Baumarten erklären. Das wird immer weniger möglich.

Der Wettbewerb zwischen Firmen, Nationen und Kontinenten wird immer rasanter. Der liberale, ach so freie Mensch wird zum Sklaven an goldenen Ketten. Eine freie Wahl, diesen Zirkus mitzumachen oder nicht, hat er nicht mehr. Es sei, er will einen gesellschaftlich geächteten Ausschluss in Kauf nehmen.

Bourdieu war einer der Wenigen, der gegen diese „Eigenverantwortung“ Protest einlegte. Durch eine solche „individualisierte Selbstverantwortung“ würde der Einzelne an den Rand der Gesellschaft abgedrängt.

Der Rand der Gesellschaft geht inzwischen quer durch die Gesellschaft und ist am geballtesten in den unteren Schichten der Gesellschaft. Seit vielen Generationen werden sie unmündig gemacht und müssen nun den Vorwurf einstecken, sie seien unmündig. Die Engländer sprechen von blame of victim. Die Letzten beißen die Hunde, zum Dank werden die Hunde noch beschimpft und getreten.

Aufsteiger wie Hüther, Schröder oder fast die ganze Elite der SPD hatten in den letzten Dekaden nichts Besseres zu tun, als ihre abgehängten GenossInnen zu verhöhnen. Wenn sie es geschafft hätten, müssten es doch alle schaffen. Nicht jeder Prolet ist so ehrgeizzerfressen, windschnittig und beugungswillig wie diese Erfolgsanbeter. Man muss sich schon aus dem Nichts neu erfinden können, um auf dem Bauch in die Vorstandsetagen zu kriechen.

Allein das Motto: aufsteigen kann jeder, beweist die katzbuckelnde Duckmäuserei, seine Persönlichkeit nach Belieben an der Garderobe abzugeben. Wer sich ständig neu erfinden muss, kann sich den Luxus einer stabilen und aufrechten Persönlichkeit – das war das Synonym für Bürger – nicht mehr leisten.

Jetzt hat die Proletenpartei wieder einen neuen Kandidaten, der – man glaubt es nicht – noch weiß, dass es draußen im Lande Proleten gibt, mit denen er – hört, hört – in „Berührung kommen will.“ Zuviel der gnädigen Herablassung, meint Bettina Gaus trefflich in der TAZ. Vorsicht beim Berühren, Peer, und vorher die Handschuhe anziehen nicht vergessen.

Zwei Drittel aller Väter – also aller potentiellen Aufsteiger – sind emotionale Krüppel, sagt Kriminologe Pfeiffer. Woher ein Verbrecherexperte seine psychologischen Weisheiten bezieht, wissen wir nicht, doch die Zahl dürfte mit Sicherheit zu niedrig sein.

Wie können Väter ihren Kindern Selbstbewusstsein vermitteln, wenn sie die „beseelten Werkzeuge“ – man könnte auch von beseelten Schlappschwänzen reden – ihrer Vorgesetzten sind? Der deprimierende Befund muss aber korrekt sein, deckt er sich doch mit der alten Volksweise: Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch.

Doch nicht genug mit den entbeinten väterlichen Charakterdarstellern, nun sollen auch noch die Mütter ihr entwürdigendes freies Dasein am Herd aufgeben, damit es nicht so unangenehm auffällt, dass nur Väter domestiziert werden. Frauen, die Industrie braucht euch, beginnt schon mal, den Rücken flexibel und geschmeidig zu machen. Für irgendwas müssen die vielen Yogakurse doch nützlich sein.

Schon lange müssen die Mächtigen keine Despoten mehr werden, um ihre Abhängigen auf Knopfdruck herumzukommandieren. Man braucht nur eine florierende Industrie.

Eigenverantwortung ohne Verantwortung für alle Menschen, von denen ich abhängig bin, ist die Lachnummer eines wissenschaftlichen Instituts, das sich von der Wirtschaft aushalten lässt. Warum Herr Hüther den Titel eines wissenschaftlichen Professor tragen darf, ist ein schlimmerer Skandal als die Abkupferei einer Wissenschaftsministerin namens Schavan.

Inzwischen sind alle Menschen auf dem ganzen Erdenrund von allen Menschen abhängig. Was früher übernotwendiger Altruismus war, den man nie richtig begründen konnte – was gehen mich Zulus in Südafrika an? – ist heute zur pragmatischen Notwendigkeit und Klugheit geworden. Wer sich nicht für die Welt verantwortlich fühlt, hat sich selbst schon aufgegeben.

Moral hat sich aus der Kategorie „überverdienstliche Werke“ längst verabschiedet und ist zur Überlebensnotwendigkeit geworden. Von der rechten Deutschen Bewegung wurde die universelle Moral – seid solidarisch mit der Welt – höhnisch als idealistische Träumerei abgewiesen. Hier begann der deutsche Sonderweg. Man könne nur jenen verbunden sein, die man kenne – dem eigenen Volk beispielsweise. Alles andere sei Schwärmerei. Heute ist die Schwärmerei lebensnotwendig geworden.

Die Eigenverantwortung ausgerechnet mit Hinweis auf John Stuart Mill zu begründen, dazu braucht man gute Nerven und eine unverantwortliche geistige Verwahrlosung. Mills Freiheit umfasst nicht nur ordinäre Meinungsfreiheit, sondern auch die Freiheit der unabhängigen Gesinnung. Dazu die Freiheit persönlicher Lebensgestaltung und die Vereinigungsfreiheit zu jedem beliebigen sozialen, politischen oder persönlichem Zweck.

Wie kann ich als beseeltes Werkzeug eine freie, vom Chef unabhängige Gesinnung aufbringen? Wozu brauche ich Versammlungsfreiheit, wenn ich gar keine Zeit habe, mich zu versammeln, um mit Gleichgesinnten etwas Sinnvolles zu unternehmen?

Bei Adam Smith war nicht die Elite, sondern das Volk die vorbildlich tugendhafte Schicht. Die Reichen konnten sich allerhand amoralischen Leichtsinn und Unbesonnenheit erlauben. Mit Hilfe ihrer überlegenen Cleverness, ihren vertrauten Familiengeistlichen konnten sie alle moralischen Flatterhaftigkeiten problemlos ungeschehen machen. Sie hielten es für einen großen Vorzug ihres Vermögens, dass sie sich „einen gewissen Grad an Ausschweifung ohne Vorwurf und Tadel erlauben können.“

Anders beim ernsthaften Volk, das sich redlich bemühte, die gepredigte Moral im alltäglichen Leben zu verwirklichen. „Die Laster des Leichtsinns sind für das einfache Volk stets verderblich und oft genügen schon Unbesonnenheit und Zerstreuung einer einzigen Woche, um einen armen Arbeiter auf immer zugrunde zu richten.“

Die neue Losung muss lauten: Elite, steig ab: zur moralischen Ernsthaftigkeit des Pöbels.

Professor Hüther ist aufgestiegen, das erkennt man an seiner flexibeln Karrieremoral. Genau genommen ist er abgestiegen. Seinem Namen macht er alle Ehre, indem er der Moral Kains folgt: Soll ich meines Bruders Hüter sein?