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Mittwoch, 30. Mai 2012 – Religion

Hello, Freunde der Kinder,

regelmäßige Mahlzeiten, Zeit und Raum für Hausaufgaben, ein Internetanschluss, altersgerechte Bücher und Spielsachen, Geld für Schulausflüge, mehr als zwei Paar Schuhe, Versorgung mit Obst und Gemüse: an all diesen Punkten fehle es deutschen Kindern, die arm genannt werden.

Die deutsche Regierung gehe zuwenig gegen Kinderarmut vor, behauptet Unicef. Das wirtschaftlich potenteste Land Europas liegt im unteren Mittelfeld, was die Versorgung der Kinder betrifft. Viele Hartz4-Familien sitzen im Dunkeln, weil die Stromkosten steigen, aber die Energiesätze nicht. Also sperrt man ihnen den Strom.

Wer jetzt wieder nach Erhöhung der Sozialleistungen rufe, sei schief gewickelt, schreibt jene Zeitung, die dem Volk aufs Maul schaut. Mit Geld könne man solche Defizite nicht beheben. Denn Geld sei genug vorhanden in diesen Familien, die Eltern würden es aber für sich verprassen.

Da helfen nur Spontankontrollen ausgebildeter Hartz4-Spezialpolizisten. Vorbild die bestens bewährte Religionspolizei in Saudi-Arabien. Man kann auch bei Calvin lernen, dessen Schergen jederzeit in alle Wohnungen eindringen konnten, um das private Sittenleben der Genfer zu überprüfen.

Die jetzige Sparpolitik Merkels, der Fiskalpakt, beruhe auf einem neoliberalen Konzept Milton Friedmans vor 40 Jahren, das keinen anderen Zweck gehabt hätte, als die Sozialausgaben zu strangulieren, behauptet der Wiener Ökonom Stephan Schulmeister in der BZ.


Gauck ist ein Glücksfall für Deutschland. Er vereinigt nicht nur in idealer Weise die beiden Berufsgruppen Seelsorger und Schauspieler in einer Person, er gewinnt auch die Sympathien der Deutschen und der Israelis in einem Akt. Warum die einen mit den anderen immer weniger können, kann nicht an ihm liegen.

Wenn er am Grabe von Ignatz Bubis steht, ergreift er die Hand von Graumann wie weiland Mitterand die von Kohl. Perfekt folgt er dem Drehbuch Graumanns, der ganz beeindruckt ist, wie willig ihm der große Mann auf Schritt und Tritt folgt. Anders als seine kühlen und unempathischen Vorgänger ergreift das cool kalkulierende Gefühlsbündel auch die Herzen seiner Gastgeber, indem er bei jeder Begegnung mit dem Satz beginnt, wie ergriffen er selber sei.

Ununterbrochen ist er im Kampf mit seinen Tränen, meistens gewinnen die Tränen. In Yad Vashem beginnt er seine schriftliche Predigt mit einem tiefen Blick in sein eigenes außergewöhnlich mitfühlendes Herz: „Zuerst nur: die Flut der Gefühle, erschrecken vor dem Ausmaß des Bösen…“ Wer solche Gefühlsfluten in Echtzeit zustande bringt, vor dem Bösen angemessen zusammenzuckt, der hat das Zeug, selbst den adligen Schauspieler Richard von Weizsäcker in den Schatten zu stellen.

Der kaltschnäuzige Michael Wolffsohn, der vermutlich nicht im Tross mitfliegen durfte und auf Graumann nur neidisch ist, sieht das ganz anders. Der Besuch Gaucks habe keinerlei Bedeutung für das deutsch-israelische Verhältnis: „Die Besucher kommen und gehen und das Unverständnis zwischen Deutschen und Israel bleibt.“

Wolffsohn wird doch nicht für Verständnis plädieren!? Mann, das kann mächtig ins Auge gehen, wenn man gänzlich unvorbereitet verstehen muss! Sollen die Deutschen sich etwa selber verstehen? Dann müssten sie ja das angeborene Böse in sich verstehen. Das Böse ist aber – trotz Wilhelm Busch – nie und nimmer zu verstehen: „Das Böse, dieser Satz steht fest, ist stets das Gute, das man lässt.“

Sollen die Deutschen auch noch ihre besten Freunde verstehen? Wenn das nur keine volkspädagogische Überforderung ist. Will Wolffsohn auch noch verstehen, warum Juden so wenig von Deutschen verstanden werden? In der Tat, das will er.

Er behauptet sogar, er habe verstanden, was Deutsche und Israelis auseinandertreibt. Beide Seiten könnten nicht miteinander, weil sie jeweils die richtigen Konsequenzen aus ihrer Geschichte gezogen hätten. Die Juden wollten nie wieder Opfer, die Deutschen nie wieder Täter sein. Die Deutschen seien pazifistisch geworden, weshalb sie nicht die Gewaltbereitschaft der Israelis verstünden, die im bedrohten Umfeld nur durch Militanz überleben konnten.

Germanisten würden hier von Tragik sprechen. Die beiden Königskinder können zueinander nicht kommen, der Graben war viel zu tief.

Vor dem Dritten Reich war‘s wohl umgekehrt, die Juden waren pazifistisch und die Deutschen militaristisch, nun hat sich das Blättchen gewendet. Das würde ja bedeuten, die Israelis hätten von den Vorkriegsdeutschen gelernt, die sich auch immer bedroht fühlten, lange keine Staatsmacht besaßen und alle Probleme mit der Faust regeln wollten?

Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr auf Verständnis zwischen den beiden Staaten setzt, Verständnis wird es zwischen diesen beiden inkompatiblen Mächten niemals geben. Gott ist für die einen und gegen die anderen. So war es, so ist es und so wird es bleiben. Nicht anders als bei Kain (die Deutschen) und Abel (die Juden) oder Esau (die Deutschen) und Jakob (die Kinder Israels).

Wolffsohn spricht von Gewalt, nicht von Menschenrechtsverletzungen. Wäre seine Analyse richtig, dass Israel nur von Feinden umgeben ist (sie ist falsch), wäre verteidigende und präventive Gewalt völkerrechtlich legitim. Was den Deutschen viel mehr Probleme bereitet, ist die tägliche rechtswidrige Gewalt gegen ein zu Unrecht besetztes Land.

Was die Deutschen gelernt haben, war die Beachtung der Menschenrechte. In Israel gibt es Holocaust-Überlebende, Menschenrechtler wie Gush Shalom, die das genau so sehen. Keine Rede, dass alle Israelis unterschiedslos auf Militanz setzten.

Völlig klar auch, dass die SZ-Interviewerin keinerlei Nachfragen stellt und Wolffsohn mit keiner israelisch-kritischen Stimme konfrontiert. Vielleicht hätte er Gideon Levy von Ha’aretz lesen sollen, in welchem verwüsteten innenpolitischen Zustand sich das heilige Land heute befindet. Das lässt sich mit äußerlichen Bedrohungen nicht mehr erklären.

Netanjahu belehre sein Volk, so Levy, dass im Land nicht mehr ordentliche Gerichte das letzte Wort in einer streitigen Sache hätten, sondern die – verurteilte Partei. Sofern sie an der Macht ist. Dann kann sie in Ruhe überlegen, ob sie sich dem Urteilsspruch beugen will – oder nicht.

Erinnert das nicht an Carl Schmitt, wer Macht hat, hat Recht? War das nicht bis gestern die Definition von Faschismus? Oder hat man die Definition, weil von bestürzender Eindeutigkeit, klammheimlich wieder abgeschafft?

In rasend wechselnden Zeiten kann man nicht mehr sicher sein, ob eins und eins auch heute noch zwei ist. Levy: „Jetzt setzen wir uns nicht nur über das Internationale Recht hinweg, sondern auch über das eigene Gesetz. Und wenn das nicht Delegitimierung ist, was ist es dann?“ Kennt Wolffsohn diese Sachlage nicht?

Über die innerisraelische Debatte, die hundertmal schärfer und klarer ist als die deutschen Dumpfheitsorgien, wird man hierzulande so gut wie nicht informiert. Michel Friedman bedient sich des Hinweises auf innerisraelische Kritik nur, um ein bisschen aufkommende Kritik mit dem Fuß auszutreten. Nach dem Motto: Wer sich selbst richtet, muss es sich nicht gefallen lassen, von Gojim gerichtet zu werden.

Von Leuten wie Uri Avnery, Moshe Zuckermann, Moshe Zimmermann, Gideon Levy u.a. kann man hier nur lesen, wenn Weihnachten, Ostern und Pfingsten zusammenfallen. (David Grossmann ist die Ausnahme von der Regel. Aber auch nur deshalb, weil er Romanschriftsteller ist und seinen Sohn bei einer militärischen Einsatz verlor. Aus diesem Grund wird er hier nicht völlig ignoriert, was nicht bedeutet, dass man seine Gedanken in BILD veröffentlichen würde.)

Bei der Springer-Presse, den Hohepriestern des Philosemitismus made in Germany, sind die innerisraelischen Kritiker die „Selbsthasser“ vom Dienst und die fünfte Kolonne deutscher Neonazis. Von wegen Beifall der falschen Seite und ähnlichen Kostbarkeiten aus der machiavellistischen Dreisterneküche. Da kommt man in trüben Minuten durchaus mal auf die Idee: lieber einen ehrlichen Antisemiten als einen verlogenen besten Freund der Israelis. Ersterem kann man wenigstens die Fresse polieren. Bei letzteren rutscht man am Salböl der allerbesten Gesinnung ab.

Ihre kaltgepresste Gesinnungsethik wird den Deutschen ein weiteres Mal zum Verhängnis. Nichts gegen Gesinnung, aber alles für die simpelste Frage der Welt: mit welchen Methoden soll sie realisiert werden? Falsche Methoden können die besten Gesinnungen dieser Welt zur Strecke bringen.

Auch hier haben wir die üblichen dualistischen Fronten. Auf der einen Seite einen zynischen Pragmatismus, dem alle Mittel recht zu sein scheinen und auf der anderen eine „idealistische“ Borniertheit, die alle bösen Mittel akzeptiert, weil sie durch alleinseligmachende Gesinnung abgesegnet sind. Nach dem Modell Luther: sündige tapfer, wenn du nur glaubst.

Dass ein Hauptproblem Israels der Konflikt zwischen Säkularismus und Religion ist, wissen zwischen Aachen und Frankfurt an der Oder nicht mal die FAZ-Leser. In Deutschland gibt’s kein religiöses Problem, weil es keines zu geben hat. Unser Christentum ist durch Aufklärung gestählt, unsere Aufklärung durch Religion geadelt.

Anfänglich war das ein hässlicher Zank, heute ist eine Liebesbeziehung daraus geworden. Demokratie sei ein säkulares Projekt, doch ohne religiöse Ethik aus dem Souffleurkasten würde sie kollabieren. Böckenfördes Satz ist zum neuen einheitsstiftenden Diktum geworden: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“

Mit anderen Worten, Demokratie lebt auf Kosten der Religion, erlaubt sich viel zu oft freche Bemerkungen, gibt sich gottlos und blasphemisch. Doch ohne die langmütige Mutter Kirche im Hindergrund, die über diese pubertierenden Flegeleien hinwegsieht, ginge sie längst am Krückstock.

Kein Zufall, dass der deutsche Aufklärer Nr. 1 (und Enkel eines protestantischen Dekans) namens Habermas – obgleich „religiös unmusikalisch“ – keine Problem hatte, Böckenfördes Diktum mit Herzblut zu unterschreiben.

In diesen Zusammenhang fallen auch jene Bemerkungen der Theologie, dass das wahre Menschenbild der Demokratie die Ebenbildlichkeit Gottes sei. Über Jahrhunderte erbittertste Gegner alles Vernünftigen und Demokratischen werden es die Theologen schon noch schaffen, Athen zu löschen und Rom, Wittenberg oder Genf an seine Stelle zu setzen.

Verständlicherweise ist die staatlich-religiöse Symbiose in Israel nach den zusammenschweißenden Erfahrungen des Holocaust wesentlich stärker. Wie Moshe Zuckermann ausführt, sahen die atheistischen Gründungsväter keine andere Möglichkeit der staatlichen Identitätsstiftung, als die ungeliebten Strenggläubigen durch die Hintertür ins Haus zu lassen. Obgleich jene den Staat ablehnten, der die Hybris besaß, das heilige Land ohne Messias, allein durch autonome Kraft zu erobern und zu gestalten.

Doch die Ablehnung hinderte sie nicht daran, sich von diesem ungeliebten Staat aushalten und hochpäppeln zu lassen. Bis sie es geschafft hatten, das Gesamtklima der israelischen Gesellschaft derart zu prägen, dass ohne ihre Beteiligung und Mitsprache fast nichts mehr zu gehen scheint. Selbst in der Armee, die sie anfänglich verabscheuten, bestimmen sie heute zunehmend das Klima.

Die imperiale Politik von Eretz Israel war auch nach Meinung Uri Avnerys ohne die alttestamentarische Agenda der Wiedergewinnung des ursprünglichen Landes zwischen Jordan und Mittelmeer nicht denkbar. Was Gott verheißen, genommen und wieder verheißen hatte, das sollte im jüngsten Staat der Weltgeschichte – und ältesten zugleich – eindrucksvolle Wirklichkeit werden.

Inzwischen sind Amerika und Israel sich am ähnlichsten geworden. Der Faktor Religion dominiert offiziell die Außen- und Innenpolitik beider Länder. In der Unabhängigkeitserklärung und im zionistischen Gründungsmythos Theodor Herzls sollte die Religion keine Rolle spielen. Inzwischen haben die ecclesia triumphans Calvins und die synagoga triumphans der Ultras in beiden Ländern die Macht übernommen.

In Israel scheint die säkulare Gesellschaft noch mehr gegen die unfreundliche Übernahme des Gemeinwesens durch die Haredim zu grummeln als die wenigen aufgeklärten Zirkel an der Ostküste der USA gegen den Bible-Belt. Hilft nichts, ohne Beistand von oben wird kein Kandidat amerikanischer Präsident und niemand Ministerpräsident in Jerusalem.

Die Ultras sind schon wesentlich weiter in der Unterhöhlung demokratischer Rechtsprinzipien als die Freikirchen in Amerika. (In Mitt Romney haben es auch die Mormonen zum ersten Mal geschafft, einen Mann ins Rennen ums Weiße Haus zu schicken). Ohne Segen der Rabbiner kann kein Jude seine arabische Liebste ehelichen – den er so gut wie nicht erhält.

Im Gegensatz zu diesen beiden Ländern gibt sich der Faktor Religion in Deutschland nicht mehr steinzeitlich, sondern „modern“ und auf höchstem Niveau der Ratio. Wer hier im Namen der Vernunft die Religion attackiert, muss sich die Rückmeldung gefallen lassen, die Schlacht der frühesten Aufklärer erneut zu schlagen. Inzwischen seien wir doch schon weiter, Kant habe schon die Losung verkündet, man müsse das Wissen einschränken, um dem Glauben Platz zu schaffen.

Zudem: sei es nicht eine Form der Intoleranz, den Glauben anderer nicht zu respektieren? Wenn es nur um einen Privatglauben ginge, der im Zimmerchen der Gläubigen vollzogen wird, gäbe es in der Tat keine Notwendigkeit der Auseinandersetzung.

Wenn die Religionen sich aber erkühnen, die Geschicke der Völker im Namen eines Heiligen zu bestimmen – das tun sie seit ihrer Gründung –, müssen sie sich dieselbe Art liebevoller Behandlung gefallen lassen wie alle anderen Mächte und Kräfte: das bedingungslose Überprüfen ihrer Taten im Licht ihrer Worte und Schriften.

Summa: Die gesamte westliche Moderne ist weit davon entfernt, ein säkular-rationales Gebilde zu sein. Ihre weltbeherrschenden Attitüden, ihre apokalyptische Naturzerstörung, ihr Gerangel um die wenigen Himmelplätze in Form einer inhuman rivalisierenden Ökonomie kennzeichnen sie als eine in der Wolle gefärbte uralte Heilslehre.

Weit und breit ist keine Bewegung zu sehen, die sich dem Block der Offenbarung im Namen der Vernunft entgegenstellte. Selbst die Atheisten sind derart religiös infiziert, dass sie glauben, sich Scharmützel um die Frage leisten zu dürfen: gibt es einen Gott oder nicht?

Es geht nicht um folgenloses Fürwahrhalten unüberprüfbarer Phantasmagorien, es geht um reale Erhaltung der Erde als Heimstatt einer mündigen Menschheit.

Die Aufklärung war noch unvollendet. Sie muss zu einem unaufhörlichen Bedürfnis werden.