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Mittwoch, 27.02.2013 – Grillini

Hello, Freunde der Grillini,

nomen est omen. Grillo und seine Grillini haben die Etablierten gegrillt. Ein großartiges Ergebnis. Zuerst hieß die Partei „Leck mich am Arsch“, jetzt nennen sie sich die „5-Sterne-Bewegung“. Mit 25,5% sind die Aufsässigen die stärkste Partei geworden. Am ehesten den deutschen Grünen zu vergleichen. Mit einem männlichen Frontmann, der in deutschen Medien als Schreihals abgetan wird.

Was ist los in Italien? Dort hat die energischste und erfolgreichste „Wut- oder Mutbürgerpartei“ ganz Europas aus dem Stand gewonnen. Doch man schaut europaweit nur auf die Etablierten. Was sich an der Basis tut, interessiert keinen Kommentator. Was wollen die Grillini?

Michael Braun in der TAZ: „Politik zum Anfassen, zum Selbermachen, „jeder zählt gleich viel“ heißt das Motto der Bewegung, vor allem: Politik zum Nulltarif. Mit diesem Stil setzten sich die Grillini erfolgreich als die Aliens unter den Parteien in Szene. Im Selbstverständnis ist M5S eine „Nichtpartei“, eine riesige Webcommunity und zugleich Wutbürgerinitiative. Die Medien starrten voller fasziniertem Abscheu auf den fast immer lauten Frontmann Beppe Grillo, dabei entging ihnen das ameisenfleißige Wirken der Grillini vor Ort, ihr Kampf gegen Müllverbrennungsanlagen oder die Naturverschandelung durch Bebauungspläne.“

Am allerwichtigsten ist, dass die Grillini leben, was sie predigen. Das ist nicht genug zu preisen. Nach einem Sieg bei Regionalwahlen zeigten die Grillini, was sie unter „Politik zum Nulltarif“ meinten. „Sie verweigerten die Annahme der ihnen zustehenden millionenschweren Wahlkampfkostenerstattung, und sie kürzten sich selbst

die Abgeordnetendiät auf 2.500 Euro netto pro Monat.“

In Deutschland ist es mit Merkels Hilfe nicht mal möglich, die Boni der Geldmänner zu kürzen. So nicht-luxuriös Merkel lebt, so verbissen kämpft sie dafür, dass Leute, die sie für Leistungsträger hält, das Volksvermögen in Lastwägen in ihre Tresore abtransportieren. (Die Wallstreet bezahlt ihren Managern, als ob es nie eine Krise gegeben hätte, 20 Milliarden Dollar; mehr als im Vorjahr. „Es herrscht Krieg zwischen Reichen und Armen, die Reichen haben den Krieg begonnen und sie werden ihn gewinnen“, sagte wer? Der pausbäckige und so „bescheiden“ lebende Warren Buffett.)

Die Botschaft der Grillini kommt an in einem Land, „in dem die Wut auf die „Kaste“ der Politiker die Bürger von rechts bis links eint: die Wut auf eine politische Klasse, die sich auch in Zeiten der Krise Privilegien fast schon feudaler Natur gönnt.“

Die Grillini sind die Partei der jungen Menschen, die sich abgeschoben fühlen, gut ausgebildet sind und sehr wohl politische Leidenschaft zeigen. Sie sind eine Gefahr für die grauen Männer, die sich in Parteizentralen verbunkern, kaum Wahlkampf auf der Straße machen und die unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Populus scheuen. (Michael Braun in der TAZ)

In Deutschland wird Populismus regelmäßig als Rattenfängerei runtergeputzt. So der „Populismusforscher“ Hartleb in der ZEIT. „Wähler sehnen sich nach Vereinfachung, da die Politik komplexer geworden ist. In Italien wird diese Sehnsucht durch das Gefühl der Abhängigkeit von der Europäischen Union verstärkt. Grillos Wähler wollen Parolen statt Programme. Diese Politik der leeren Versprechungen ist als Kontrapunkt zum Technokraten Mario Monti zu verstehen.“ (ZEIT-Interview von Christopher Weckwerth mit Florian Hartleb)

Das Volk ist dumm, unterkomplex. Also muss es mit tumben Parolen abgefüttert werden. Was ist der Unterschied zwischen Parolen und Programmen? Sind Programme keine Versprechungen? Was sind leere Versprechungen? Wenn sie nicht ehrlich gemeint sind? Oder wenn sie als Ziele genannt werden, die – in einer Demokratie selbstverständlich – nicht einfach durchgesetzt werden können, weil keine Macht absolut und von anderen Mächten abhängig ist?

Ohne Kompromisse geht’s nur in totalitären Staaten. Wie immer wird in Deutschland alles in einen Sack geworfen. Dass politische Propagandisten ihre Parolen nicht ehrlich meinen, ist Unfug. Gerade weil sie sie ernst meinen, besteht die Gefahr, dass sie jeden Kompromiss als Verrat an den ursprünglichen Idealen empfinden.

Sind die Grünen ihren Anfangszielen untreu geworden? Solange sie zu ihrem Programm stehen und im langwierigen Bohren harter Bretter noch immer realisieren wollen, ist der Verdacht der Charakterlosigkeit bodenloser Unsinn. Hätten die Grünen à la Weihnachtsmann versprochen, morgen könnten wir in den ökologischen Garten Eden einziehen, dann wären sie Rattenfänger. Ziemlich bekloppte. Denn solche Versprechungen widerlegen sich von selbst.

Für eine Anfängerpartei sind Parolen unabdingbar. Sie komprimieren das Notwendigste in verständlichen Sätzen. Das sollte doch ein Professor wissen. Allerdings müssen diese Parolen weiterentwickelt und ins ganze Leben eingearbeitet werden, damit die Gruppierung ihr unverwechselbares Profil erhält.

Die Piraten haben allzu lange mit dem eingefrorenen Charme des Unfertigen getändelt. Sie hätten sich besser auf den Hosenboden setzen und die eigenen Standpunkte präzis ausarbeiten sollen. Warum sollte man sie wählen, wenn sie mit Ignoranz auftrumpfen? Die Katze im Sack wählt man nicht.

Wie ein Mantra wird hergebetet, die Wirklichkeit sei überkomplex und durch einfache Patentrezepte nicht wiederzugeben. Das ist Rückkehr zum Göttlichen, den der einfache Mensch nicht versteht. Nur eine auserwählte Priesterkaste hat Zugang zum Tremendum und Faszinosum. Gott ist zu hoch, als dass menschliche Sprache ihn erfassen könnte. Was Gott nicht ist, das können wir in Widersprüchen umkreisen, sagt die negative Theologie.

Wenn Realität so komplex wäre, wie behauptet, wäre sie ein Irrweg und müsste schleunigst vereinfacht werden, damit jeder Mensch sich eine Meinung bilden kann. Soll der Mensch sein Schicksal bestimmen, muss er es durchschauen können. Da er den Wirrwarr selbst angerichtet hat, muss er ihn auch selbst entwirren lernen. Sonst bekämen die menschlichen Taten ein dämonisches Eigenleben, das die Zauberlehrlinge nicht mehr unter Kontrolle kriegen.

Wer soll der alte Meister sein, der den Besen entzaubert und dekonstruiert? Die Eliten? Jeden Tag sieht man deutlicher, wie die Superkomplexen die Wirklichkeit im Griff haben. Ihre überkandidelte Rede ist uraltes Herrschaftswissen mit ambulantem Heiligenschein. Der Klerus und der Adel – heute der mit Milliarden im Portemonnaie – haben sich schon immer prächtig verstanden. Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel.

Das Komplexe ist zum Synonym des Übernatürlichen geworden, das die Simpel von der Straße nicht verstehen. Das Komplexe nannte man früher das Absurde. Weil die Wirklichkeit absurd und unverständlich ist, muss sie göttlich sein. Ich glaube, weil es absurd ist. Ich halte alles für überkomplex, also muss ich auch dran glauben. Glauben wohlgemerkt, nicht verstehen.

Schauen wir mal nach bei einem ordinären französischen Aufklärer: „Anstelle von (simpler) Moral schärft man den Christen die wunderlichen (= überkomplexen) Fabeln und unbegreiflichen (= nur durch Glauben erfassbaren) Dogmen einer Religion ein, die der gesunden Vernunft völlig entgegengesetzt ist. Von den ersten Schritten an, die ein junger Mensch in seinen Studien macht, lehrt man ihn, auf das Zeugnis seiner Sinne zu verzichten, seine Vernunft zu unterdrücken, die man ihm als einen unzuverlässigen Führer verächtlich macht und sich blind der Autorität seiner Lehrer zu unterwerfen.“ (Holbach, Religionskritische Schriften)

So ist es bis heute geblieben. Nichts hat sich geändert, nur das Vokabular ist runderneuert. Die Ökonomen sind die neuen Priester mit Offenbarungswissen. Der Plebs soll das Maul aufsperren, die großen Männer bewundern und zu allem Ja und Amen sagen.

In Wirklichkeit ist die Realität simpel und einfach. Der Krieg der Reichen gegen die Armen nimmt immer absurdere Züge an. Indem man das Einfache, das jedem vor Augen ist, in ein Mysterium verwandelt, sollen Krethi und Plethi durch abschreckende Komplexitäten vom Denken und Tun abgehalten werden. Mit Absicht werden technische Details so verkompliziert, dass man vor lauten Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Mit dem immer gleichen Ergebnis: die Reichen werden immer reicher. Wann eigentlich werden die Geldkannibalen genug haben?

Wenn die Reichen immer reicher werden, werden nach Adam Riese die Armen proportional immer ärmer. Wozu also die obligate Feststellung, die unteren Lohngruppen wären gleich geblieben? Arm und Reich sind in reichen Ländern Relationsbegriffe. Das wäre noch schöner, wenn man mitten in der reichsten Zivilisation Hungers stürbe.

Wirtschaft ist eine Gesamtleistung, die an alle fair verteilt werden muss. Das muss nicht auf Heller und Pfennig identisch sein. Auf keinen Fall darf es wie jetzt sein, wo die Reichen mit ihren zusammengerafften Vermögen als neue Götter in den Himmel gewachsen sind.

Da Bewertungen – wie in der Schule – nicht durch gemeinsamen Diskurs entstanden sind, sondern durch diktatorische Bewertungen derer, die das Sagen haben, kann man sie getrost den Hühnern geben. Warum entscheidet nicht das Volk, ob ein Maschmeyer das Vielhundertfache einer Edeka-Verkäuferin erhält?

Die Moral der Unterschichten wird als Neid und Missgunst weggewischt. Auch hier werden Rangskalen errichtet, die von Mächtigen definiert werden. Würde man die Rangskalen in schlichte Intervallskalen verändern, wäre das Ergebnis etwa so: Bill Gates ist 1000-mal mehr wert als viele afrikanische Völker zusammen.

Wenn er seine Charitysummen in zufälliger Gnade ausschüttet, den einen das Leben rettet, die andern in den Orkus verweist, haben wir die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts. „Dann wird Bill Gates denen zu seiner Rechten sagen: Kommet her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbet meine Stiftungsgelder, die euch von Grundlegung der Welt an bereitet sind. Dann wird er auch zu denen zur Linken sagen: Gehet hinweg von mir, ihr Trägen und Faulen in das ewige Feuer, das unsere unfehlbare Ökonomie dem Teufel und seinen Leistungsverweigerern bereitet hat. (Matth. 25,31 nach der korrekten antikapitalistischen Übersetzung. Die heilige Schrift gibt es schon in den verwunderlichsten Korrekt-Fälschungen, warum gibt es noch keine saftige antikapitalistische Hermeneutik der Offenbarung? Antwort: nicht nötig. Genau lesen hilft.)

Trotz Schreihals Grillo, sind die Grillini keine „One-Man-Show“, wie Herr Professor meint. Wir sahen, die Basis ist außerordentlich rege und hat sich in vielen Brennpunkten eingesetzt. Der deutsche Professor lässt keine Unverschämtheit aus. Da reicht ein Doktortitel nicht, um das unauflösliche Geheimnis einer neuen Bewegung aus dem Kaffeesatz zu ergründen. Die Grillini würden es schwer haben, ihren Wahlerfolg zu wiederholen. Außer Protest hätten sie nichts anzubieten. Vielleicht sollte der Populismusforscher den Artikel von Michael Braun lesen. Dann könnte er sehen, an wie vielen konkreten Punkten die jungen Menschen sich einmischen.

Populismus soll anrüchig, „Anti-Elitarismus“ aber etwas Gutes sein. Höchste Zeit, den Eliten – die weder Vorbilder, noch vertrauenswürdige Autoritäten sind – ihre Geldmacht unterm Hintern wegzuschlagen. Sie können mit Geld einfach nicht umgehen. (Eine echte Autorität reizt und verlockt die Personen seiner Umgebung, zu Menschen zu werden.)

Nun aber kommt das schwierigste Problem jeder Anfängerpartei, ja, aller Parteien, die nicht stagnieren wollen. Es ist das Problem ihrer „Glaubwürdigkeit“, wenn sie mit jenen Kräften kungeln müssen, die sie im Wahlkampf vom Tisch fegten.

Nur unabhängige Philosophen können sich unbefleckt halten vom Zirkus der Mächtigen. Können unbestechlich und unbeeindruckt von Gott und Teufel ihre Meinungen in die Öffentlichkeit schmettern. Geht ein Philosoph in die Politik, muss er genau unterscheiden zwischen seinen unkorrumpierbaren Grundsatzüberzeugungen und seinen Kompromiss-Formeln mit anderen Parteien, die auch ein Recht haben, ihre Vorstellungen zu realisieren.

Hier ist eine unbedingte Arbeitsteilung erforderlich. In der Heinrich-Böll- oder Rosa-Luxemburg-Stiftung werden Grundsatzdebatten geführt, bei Grünen und Linken müssen sie den realen Verhältnissen angepasst werden. Grundlagenstreit ist unabhängig von Einwänden pragmatischer Bedenkenträger. Man könne nicht mit dem Kopf durch die Wand, dies und jenes sei völlig irreal.

Visionen müssen keine „idealistischen Wolkenkuckucksheime“ sein, wenn man aus dem Wirklichen das Mögliche und Wünschbare entwickelt. Es zählt zu den herrschenden Perversionen, seine privaten Geld- und Erfolgsträume für realisierbar zu halten – du musst nur wollen, dann wird dein Traum Wirklichkeit –, aber in humanen und demokratischen Dingen jede Vision als Neurose abzuwerten.

Träumen wir den kollektiven Traum einer friedlichen Menschheit? Frieden, Freude, Eierkuchen sind paradiesische Zustände, im Paradies langweilen sich die ADHS-Männchen. Glück? Ich bin nie mit mir zufrieden. Eine gleichberechtigte Gesellschaft? Unerträglich, das wäre eine Gesellschaft ohne kreative Spannungen. Eine quirlige Gesellschaft? Muss eine Remmidemmigesellschaft sein. Es muss drunter und drüber gehen, damit die Brillanten aus den Puschen kommen. Welche Probleme könnten sie lösen, wenn die Menschheit nicht ständig für Nachschub sorgen würde. Ist nicht schon jeder am überfälligen Joghurt gescheitert, der nicht in der Lage ist, SOS aus dem Kühlschrank zu funken? Es gibt noch so viele Probleme, die man den Leuten einreden muss.

In der religiösen Ideologie des Westens ist der Mensch ein verdorbenes Wesen. Es wäre ein Vulkanausbruch an Gottlosigkeit, dieses verruchte Menschenbild durch eine humane Politik in Grund und Boden zu widerlegen. Es kann kein Einwand gegen Demokratie sein, wenn die Bürger zeigten, dass sie mit vernünftigen Reden sinnvolle Kompromisse schlössen. Doch die Kompromissbildungen sind längst zur alleinseligmachenden Religion des Pragmatismus geworden.

Was wir zukünftig brauchen, sind Enklaven kompromisslosen Denkens, das nichts als die Wahrheit sucht. Denkende Gruppen werden von Medien und hasserfüllten Kirchen als Gurusekten in den Boden gestampft. (Siehe bei Grillo) Der Klerus achtet peinlich darauf, dass die „metaphysischen“ Bedürfnisse der Demokraten in der unumschränkten Obhut der Kirchen bleiben. Dies mit überragendem Erfolg, wenn selbst ein Aufklärer wie Habermas die Demokratie ohne jesuanische Predigten nicht für überlebensfähig hält.

Gründet sokratische Marktplätze, epikureische Gärten und stoische Wandelhallen. Wir müssen von vorne beginnen.

Jede Demokratie muss aus kompromisslosen Denkerschulen und kompromissfähigen Akteuren bestehen. Der Pragmatismus, die machiavallistische Neunmalklugheit und Schlitzohrigkeit, hat die Demokratie bis ins Mark durchsäuert. Keiner will lesen und denken, bevor er die Straße stürmt. Unter dem hirnrissigen Argument, alle theoretischen Probleme seien längst gelöst. Jetzt wäre nur noch Praxis und nichts als Praxis angesagt. (So Sozialpsychologe Harald Welzer)

Man muss dran erinnern, dass zu den Vorlaufbewegungen des Nationalsozialismus die Propagandisten des TAT-Kreises gehörten. Sie wüssten schon alles, sagten sie. Rätsel gebe es keine mehr. Jetzt müsse man nur noch mit der Faust die Welt zertrümmern. Diese Gruppe von Intellektuellen warf sich jenen TÄTERn in die Arme, die sich mit Gröhlen und Randale das Land unterwarfen.

Demokratie muss zweipolig sein. Denken darf nicht tatenlos, Tun nicht gedankenlos bleiben.

Letzte Meldung: Steinbrück bezeichnet Berlusconi und Grillo unisono als Clowns. Es wird Zeit, dass wir ins deutsche Land der Sehnsucht ziehen.

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Kennst du es wohl? Dahin!
Dahin möcht‘ ich mit euch allen,
O Geliebte ziehn.