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Mittwoch, 26. Dezember 2012 – Was ist totalitär?

Hello, Freunde der Philosophie,

heute wohl nicht mehr, aber vor kurzem gab es noch manch hoffnungsvollen jungen Menschen, der nach dem Abitur Philosophie studieren wollte. Nicht um Profidenker zu werden oder Lohnschreiber im Feuilleton, sondern – um zu philosophieren. Um nachzudenken über Sein und Nichtsein, um zu hören, was die großen Denker über Gott und Welt zu sagen hatten.

Sie wissen schon, wie es weiter geht. Der junge Mensch geht in eine Kant-Vorlesung. Obgleich der deutschen Sprache mächtig, obgleich auch der Vorleser sich der deutschen Sprache zu bedienen scheint, versteht der Zuhörer so gut wie – nichts.

Der junge Mensch gerät in Panik. Ist er ein Vollidiot? Er schaut um sich, alle stieren unter sich. Sind sie von den Ausführungen des Dozenten gefangen? Sind sie vom selben Entsetzen erfasst, verbergen es aber hinter versteinerten Mienen?

Keiner fragt niemanden, kein empörtes Tuscheln kommt auf, um den unfähigen Folterer im Dienst des Staates zur Rede zu stellen. Ihn beim zu erwartenden Trotzverhalten am Kragen zu packen und unter Worten des Abscheus aus dem Saale zu schieben. Ihn zum hoffnungslosen Fall eines verbeamteten Scharlatans zu erklären. Ihn dem Ministerium zu melden, damit er einem pensions- und ehrlosen Lebensabend entgegenschaut.

Kein ASTA kommt auf die Idee, im idyllischen Innenhof der Alma Mater Pranger aufzustellen, an denen, vielleicht einmal pro Woche und für nicht weniger als eine Stunde, jede universitäre Niete mit Professorentitel angekettet wird, damit jeder

Vorbeikommende ihn hemmungslos anschreien kann. Der Innenhof würde bei weitem nicht reichen, um alle akademischen Lehrer ihrer verdienten Strafe zuzuführen.

Geniale Denker seien keine Knabenbegleiter, hört man die bezahlten Apologeten sagen. Schon die Gymnasialgenies müssen keinen einzigen Pädagogikschein machen, sie sollen Wissen vermitteln, sonst nichts. Sollen doch die Eltern ihren tückischen Nachwuchs erziehen – maulen sie und schauen auf dem Schulhof zur Seite, wenn Mustafa wieder einmal vom germanischen Elite-Gesindel gemobbt wird.

Sokrates war geradezu ein pädagogischer Rattenfänger, die aristokratische Jugend Athens zog er magisch hinter sich her. Warum nicht die Proletenjugend? Weil die malochen musste und keine Zeit hatte, auf der Straße herumzustreunen. Wer nicht weiß, woher er die Fladenbrote von morgen nehmen soll, hat den Kopf nicht frei, Sterne zu beobachten, einem Wanderlehrer zu lauschen, wie man mit logischen Tricks eine schwächere Sache zur stärkeren oder eine starke zur schwächeren machen kann.

Nur wessen Magen dauerhaft befriedet ist, kann die Volksversammlung besuchen, um über das Schicksal der Polis zu debattieren und abzustimmen. Oder mit Aristoteles herumwandeln, um über Freundschaft nachzudenken. Die Magenfrage muss im Prinzip gelöst sein, um die Synapsen im Gehirn zu aktivieren, was nicht bedeutet, dass körperliche Arbeit keinen Spaß machen könnte oder gar denkfeindlich sein müsste. Wer notwendige Arbeit sinnvoll verteilt, kann bei der Heuernte singen, sich seiner Körperkraft und der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit erfreuen.

Denken kann nur in einem sorgenfreien Umfeld passieren. Es ist nicht das Arbeitenmüssen, das die Menschen vom Denken abhält, es sind die Sorgen und Ungewissheiten kommender Zeiten. Wer sicher sein kann, bei persönlichen Schicksalsschlägen von der Gemeinschaft aufgefangen zu werden, kann wie Hesiod so nebenbei ein Nationaldichter der Griechen werden.

Spinoza war Glasschleifer und schrieb in Homeoffice seine Lehre, dass die Natur göttlich sei. Kant war Professor für alles und musste auch Geografie und Weltkunde vermitteln, obgleich er nicht wusste, wie die Welt wenige Kilometer hinter Königsberg aussah. Heute wäre er nicht mal zum Volontär von GEO geeignet.

Nietzsche hatte es einfacher, als Jungprofessor ließ sich früh pensionieren, um ruhelos in den Alpen herumzutigern und Bücher zu schreiben, die niemand lesen wollte. Zur Strafe für sein philisterfeindliches Leben wurde er von seinem toten Gott mit Krankheit bestraft und musste wieder zurück ins Gefängnis von Mutter und Schwester.

Es ist nicht die Arbeit, die vom Denken abhält, sondern die Sorgenarbeit, die jedes Gehirn und Gemüt martert. Womit soll ich meine Bälger morgen satt kriegen? Sokrates war ein miserabler Familienvater und Ehemann. Xanthippe hat er mit den Söhnen ziemlich allein gelassen, weil er nächtens auf einer Stelle stehen bleiben musste, um über Hebammengespräche nachzudenken. Vermutlich war er nicht mittellos, reich aber bestimmt nicht und lebte ein anspruchsloses Leben. Ob die reichen Bengel ihm hin und wieder einen Obolus zusteckten, ob er ihn genommen hätte – wir wissen es nicht.

Es gibt Leidenschaften, die mit einem normalen Leben schwer vereinbar sind. Hier liegen die wahren Probleme derer, die tun müssen, was sie tun. Beethoven kann man sich nicht verheiratet vorstellen, Mozart hingegen nicht ohne Weib und Großfamilie. Die meisten Denker waren unverheiratet. Nicht, dass sie asozial gewesen wären, doch nicht alle wichtigen Dinge sind vereinbar.

Den Frauen wird heute eingehämmert, Beruf und Kinder seien vereinbar. Welche Kosten Eltern und Kind für Vereinbarungen mit der Brechstange zahlen müssen, interessiert niemanden. Es ist wie mit dem Markt, der alle Probleme löst, wenn er Ungerechtigkeit mit gesellschaftlicher Stabilität vereinbar macht. Ganz nach dem Motto: Bist du nicht willig, brauch ich Gewalt. Mit wie viel Elend, Krankheit, Armut und Hunger vereinbart wird, will niemand so genau wissen. Auch für hochdotierte Magnaten sind Ehe und Kinder nicht vereinbar. Sie können es sich nur erlauben, mit bezahlten Mietlingen die Unvereinbarkeiten zu überspielen.

Welche Kinder könnten heranwachsen, wenn Eltern ein befriedetes Leben führen und ihren Kindern wache Partner sein könnten? Inzwischen geben die Frauen der Vereinbarkeit des Sinnvollen mit dem Absurden eine klare Absage und niemand will die Zusammenhänge erkennen: lieber wollen sie keine als schlechte Mütter sein.

Woher die wachsende Kinderfeindlichkeit in der Gesellschaft, wenn Kinder mit einer kinderfeindlichen Gesellschaft vereinbar wären? Man kann die Kinder von anderen erziehen lassen. Wenn diese Anderen leidenschaftliche Erzieher sind, kann die Unterstützung gut gehen. Doch woher wissen die Eltern, ob es sich wirklich so verhält, wenn sie Kita, Grundschule, Gymnasium und Uni nicht gründlich unter die Lupe nehmen? Das wäre ein politisch notwendiger Ganztagesjob, auch im Dienst der Gesellschaft.

Wie viele Klagen gibt es allein über Gymnasien? Von verschulten Bologna-Unis gar nicht zu reden, die mit freien Denk-Akademien so viel zu tun haben wie die Tour de France mit dopingfreiem Radeln? Universitäten haben anzubieten, nicht von morgens bis abends zu beaufsichtigen und zu reglementieren.

Die Verschulung sei immer noch besser als absolute Freiheit, weil die Gymnasiasten mit Freiheit nichts anzufangen wüssten, sagen Experten der Reglementierung. Umso schlimmer für Gymnasien, Grundschulen und Kitas. Wenn Kinder keine selbstbestimmte Freiheit lernen können, ist der ganze Bildungsbereich der modernen Zivilisation eine Farce oder eine hierarchische Hühnerleiter, auf dem die Eleven je nach Anpassungsbereitschaft nach oben geschoben werden. Wer allzu viel den Schnabel aufmacht, fällt in den Gully.

Kinder sind mit allem vereinbar, wenn das Ziel der Vereinbarkeit das elastische Rückgrat von Karrieristen sein soll, die sich in jede erwünschte Richtung biegen lassen. Kinder sind mit allem vereinbar, wenn sie zu Untertanen industrieller Obrigkeiten abgerichtet werden sollen. Doch dann wundere man sich nicht über verdrossene, demokratieallergische Sozialphobiker mit gefüllten Portemonnaies, die nur noch in ummauerten Luxussiedlungen hausen können, wo sie von geklonten Nachbarn eingekesselt werden.

Kinder sind mit nichts vereinbar – außer mit humanen Verhältnissen –, wenn sie freie Menschen werden sollen.

Denker sind Menschen, die allererst die Augen aufhalten und sehen, was es in ihrer Umgebung so zu sehen gibt. Und was sie sehen, das sagen sie unverblümt. Weshalb es in der Gegenwart keine Denker gibt. Nicht selten wurden Philosophen verbannt oder mit dem Tode bedroht. Wie oft hat man Sokrates die Fresse auf dem Marktplatz poliert, weil er seinen Athenern den Puls fühlte.

Man kann Verschiedenes sehen. Die ersten Denker schauten zum Himmel und sahen einen vollkommenen Kosmos. Da konnte es schon passieren, dass sie vor lauter Beobachten wie Hans Guck-in-die-Luft in den nächsten Straßengraben fielen und bestimmte Weibspersonen über sie lachten. Doch sie hatten Sehen und Beobachten gelernt, das sie auf alle Dinge der Welt anwenden konnten.

Das Nächste, das sie sahen, waren ihre Nachbarn, Gemeinden und Städte und schließlich – sich selbst. Mit Selbsterkenntnis fängt niemand an, die Distanz ist zu gering. Da muss man schon viel wahrgenommen haben, um das Schwierigste in den Fokus zu kriegen: die eigene Grandiosität, Miserabilität, die unbekannte Bestie oder das zum Überdruss bekannte Durchschnitts-Wesen.

Den Menschen gibt’s nicht solistisch zu haben. Wie lebt er mit anderen Wesen zusammen? Welche Gemeinschaftsformen gibt es, welche politischen Gesetzmäßigkeiten? Wie ist der Mensch, wie soll er sein? Zu welchem Zweck lebt er? Ist er zufrieden mit sich und der Welt? Ist die Welt ein Lazarett und muss er sich beizeiten eine andere und bessere suchen? Kann er sie sich selber erarbeiten oder braucht er Götter? Sind Menschen gleich oder muss es Herren und Knechte geben? Sind Männer und Frauen von gleichem Rang?

Denker machen sich ein Bild von dem, was ist und von dem, was sein könnte und sollte. Das, was ist, beurteilen sie nach dem, was sein sollte und erstrebenswert ist. Oft genügt es, den Menschen zu wiederholen, was sie selbst sagten. Hör mal, Großmaul, du redest auf der Agora gern von Gerechtigkeit, dabei scheffelst du am meisten an Golddukaten und andere kommen zu kurz. Kannst du das rechtfertigen?

Moral muss man nicht erfinden, jeder kennt sie, jeder verdankt ihr sein ganzes Leben: es ist das Leben in der Familie, im Clan, in der Polis. Was man begründen muss, ist die Unmoral jener, die den Hals nicht voll kriegen und ihre krankhafte Sucht als lobenswerte Tugend zu preisen beginnen.

Im Reich der Mütter gab‘s nur eine Moral und jeder kam auf seine Kosten. Als dies einige Herren zu langweilen begann, erfanden sie die männliche Hoch-Kultur – im Gegensatz zur niederen Mutterkultur – und erklärten die erlebte Familienmoral für etwas, das überwunden werden muss, wenn man die Welt erobern will.

Der Horizont erweiterte sich über die Hütten der eigenen Gruppe, die Männer begannen zu träumen, die Herren der Welt zu werden – nachdem sie die ganze Welt zum Erzeugnis ihrer zauberhaften Erfindungskraft gedemütigt hatten. Man kann nur beherrschen, was einem gehört und was man selbst hergestellt hat.

Die Hochkultur der Männer beginnt immer an einem Punkt Null. Aus der Null schaffen sie das Unvorstellbare, Unendliche und schier Unbegreifliche und finden es so überwältigend, dass sie es anbeten, weil sie sich selbst so überwältigend anbetungswürdig empfinden. Je nuller der Anfang, je überwältigender ihre Creation.

Frauen, Indios, Naturwesen und Vernünftige beginnen nie von vorn. Sie wissen, dass es keinen Anfang gibt, keine Tabula rasa, keine weiße Leinwand. Mutter Natur war schon immer da und wir stehen schon immer in ihrer Schuld. Doch keiner Schuld, die mit Demütigung und Buße verbunden wäre, sondern in der Schuld der Dankbarkeit, dass Natur auch an uns dachte und uns die Möglichkeit gab, mitten im Reigen der Lebewesen auch unser Leben zu führen.

Einen Punkt Null, einen totalen Neubeginn braucht man nur dann, wenn man das Vergangene für irreparablen Schrott hält, den man nur durch eine Totalvernichtung loswerden kann. Womit wir ganz ungezwungen bei der Erfindung des Totalitären gelandet wären.

Alles ist totalitär, was nicht zugeben kann, dass es nicht total ist. Der Mensch ist keine Totalität, sondern Teil unter unendlich vielen Teilen der Natur. Er ist auf alles angewiesen, was die Natur ihm zur Verfügung stellt.

Die männliche Hochkultur begann mit dem Alptraum, der Mensch – ab jetzt synonym mit Mann – verdanke sich alles selber. Er schuf die phantastische Legende, der Mann sei der totalitäre Neuerfinder der Welt. An einem Punkt Null der Zeit – die mit diesem Punkt erst erfunden wurde – habe alles begonnen, was begonnen hat. Ein Vorher habe es nie gegeben.

Das war die ökologische Ursünde gegen die Natur, deren anfanglose Existenz der Mann durch eine allmächtige Schöpfung zunichtemachte. Es ist, als wollte der Vater eines neugeborenen Kindes sagen: schaut, mein neues Kind! Ist aus keiner Mutter gekrochen, ich habe es selbst ganz allein am Rechner entworfen und im Drei-D-Drucker zusammengebaut. Ab jetzt haben die Mütter Urlaub, wir brauchen sie nicht mehr.

Die Hochkultur des Mannes begann mit der totalitären Mär einer allmächtigen Selbsterschaffung aus dem Nichts. Seitdem beherrschen totalitäre Phantasien die Zivilisation der Erschaffer aus dem Nichts.

Totalitäre Despoten erschaffen ihr Volk aus dem Nichts und beginnen die Geschichte ihres Volkes am Punkt Null. Ein Vorher gab es nicht, alle Vergangenheit ist gelöscht, es gibt nur eine grandiose Zukunft.

Totalitäre Techniker erschaffen alles aus dem Nichts ihres Kopfes, eine Natur brauchen sie nicht mehr.

Totalitäre Architekten und Städtebauer erschaffen alle Städte der Zukunft auf dem leeren Reißbrett ihres Ingeniums, die irrational gewachsenen Klumpenstädte der Vergangenheit müssen geschleift werden.

Totalitäre Biologen und Chemiker erschaffen alle neuen Gewächse und naturidentischen Lebensmittel aus neuartigen Genen und chemischen Mixturen, die es in dieser Komposition noch nie in der Natur gegeben hat.

Das Totale und die Null sind identisch. Jeder totalitäre Traum beginnt anfangslos im Nirwana des Noch-nie-Dagewesenen und Beispiellosen.

Totalitäre Wirtschaftler kennen keine Vergangenheit, sie schauen immer in die Zukunft und planen stets von vorn. Es zählt nicht, was sie besitzen, es zählt nur das neue Risiko, das neue Spiel, der neue Profit.

Totalitäre Grenzüberschreiter erfinden sich stets von vorn. Was unterhalb der Grenze liegt, ist alt und zählt nicht mehr, es zählt nur der neue Rekord, das neue Abenteuer, die terra incognita, in der noch kein Mensch gewesen ist.

Totalitäre Denker denken das ganz Andere als das ganz Neue. Zeitlose Wahrheiten sind tot. Jeden Tag wird eine neue Wahrheit durchs Dorf gejagt. Traditionen des Denkens sind Ballast. Leben heißt jeden Augenblick neu beginnen.

Totalitäre Theologen glauben an den Messias, der das Neue bringen wird. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden. Haut weg die verbrauchte, hässliche und kaputte Natur. Sie sehen einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Totalitär ist, wenn ein untergeordnetes Teil sich anmaßt, das Totale zu sein. Nur Natur ist total, nie kann sie totalitär sein.

Die Definition „Individuum est ineffabile“ – das Individuum ist unvergleichlich – kann zwei Bedeutungen haben. Jeder Mensch ist einmalig, in allen Einzelelementen aber mit anderen Menschen vergleichbar. Weshalb er sich in anderen Menschen im Guten und Bösen erkennen kann, ohne sich als Plagiat zu fühlen.

Jeder totalitäre Gott will unvergleichlich sein und verbietet den Menschen, Ihn mit anderen Wesen zu vergleichen. Macht euch kein Bildnis noch Gleichnis. In Ihm kann sich kein Mensch erkennen. Verglichen mit Ihm ist alles irdische Leben nichtswertig und zum Untergang verurteilt. Der unvergleichliche Gott setzt Anfang und Ende, er ist A und O, Alpha und Omega. Am Punkt Null will er begonnen haben und am Punkt Null, dem nächsten totalitären Neubeginn, alles enden lassen. Mensch und Natur macht er null und nichtig.

Am Weihnachtsfest gibt es Theologen, die ihren traditionellen Glauben zu Null machen und Gottes Wort aus der Willkür ihrer Creativität neu beginnen. (TAZ-Interview von Gabriela M. Keller mit der Theologin Ellen Ueberschär)

In der Kirche, so die Theologin, sollte man nicht, wie bisher, den Menschen Vorhaltungen machen, sie ermahnen, ihr sündiges und ungläubiges Leben abzulegen und eine totale Umkehr (Metanoia) durchführen.

„Ich mag das nicht so sehen, so eine Sicht hat immer etwas von Verachtung. Es hat etwas von: „Ihr lebt ein falsches Leben und ich sage euch, wie es richtig ist.“ Das ist aber nicht unser Job. Jesus ist genau zu jenen Leuten gegangen, von denen andere gesagt haben, dass sie ein falsches Leben führen. Menschen, die sogar verabscheut wurden. Wir machen in der Kirche keine Gewissensprüfung.“

Bisher galt, Jesus ist zu den Menschen gegangen, um sie aufzufordern, ihr ruchloses und sündiges Leben aufzugeben und das wahre Leben in IHM zu beginnen. Jetzt das genaue Gegenteil des Bisherigen. Die Theologie erfindet sich völlig neu und behauptet das Gegenteil zu allem bisher Gesagten und Geglaubten. Ohne im Geringsten erkennen zu lassen, dass hier eine totale Neu- und Gegenerfindung gepredigt wird.

Das Vergangene existiert nicht mehr, mit dem man sich auseinandersetzen müsste, um das Neue zu legitimieren. Das Neue entspringt ohne Vorher aus dem Ei seiner selbst.

Die Autorisation, das Wort Gottes in omnipotenter Weise neu zu deuten, beginnt beim romantischen Theologen Schleiermacher, einem Kollegen des Philosophen Fichte, der dieser frei vagabundierenden Deutungshoheit das philosophische Fundament zur Verfügung stellte, indem er den Menschen zum gottgleichen Ich-Erfinder erhob: „Das Individuum erschafft in jedem Augenblick sich neu mit absoluter Freiheit.“ Dieses absolut freie oder totalitäre Ich erschafft die ganze Welt stets aufs neu und deutet das göttliche Wort nach Belieben.

Das theologische Ich des Augustinus hat sich in der abendländischen Entwicklung zum gottgleichen Ich der neuzeitlichen Philosophie entfaltet. Die Theologie hat die Weltweisheit durchsäuert und mit Gottähnlichkeit verseucht. Bei Kant hieß es nur: „Der Mensch schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, er schreibt sie ihr vor.“ Bei Fichte schreibt er sie nicht mehr vor, er schöpft sie jeden Augenblick neu aus sich in absoluter Freiheit.

Warum verstehen die Studenten ihre philosophischen Lehrer nicht? Weil sie den Eindruck haben, die berühmten Denker müssen verrückt sein, wenn sie der Natur die Gesetze vorschreiben oder aus dem Hut ihres absoluten Ich zaubern wollen.

Solche Sätze aus der „verkehrten Welt“ kann man nicht verstehen, wenn man die verkehrte Welt ihrer theologischen Herkunft nicht versteht. Die Moderne hat die Theologie verdrängt, die religiösen Elemente des jeweils Neuen kann sie nicht erkennen. Ohne das Dogma der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist kein einziger Aspekt der Gegenwart zu verstehen.

Die studiosi fühlen sich im Dilemma, entweder sich selbst für verrückt zu erklären oder die Weisheiten ihrer Weisen, die nicht zeigen dürfen, dass sie selbst nicht wissen, was sie mechanisch herunterlesen. Die Studenten haben nicht gelernt, ihre Gedanken und Gefühle festzuhalten und zu verteidigen. So fehlt es ihnen an Selbstbewusstsein, den ganzen verkehrten Spuk mit unerschrockenen Fragen von der Tenne zu fegen.