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Tagesmail

Mittwoch, 20. Februar 2013 – Der Verfall der Philosophie

Hello, Freunde Stanislaw Petrows,

hätte ein Deutscher die Geistesgegenwart, Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit, wie Stanislaw Petrow zu reagieren und den Dritten Weltkrieg zu verhindern? Deutschland hätte zu den ersten Opfern eines Atomkriegs gehört. Vermutlich verdanken wir einem fast unbekannten Russen unsere Existenz.

Einen Nobelpreis für Frieden hat er nie bekommen. Kein Platz, keine Straße wurde nach ihm benannt. Es gibt kein Denkmal zu seinen Ehren. Was befähigte Petrow zu dieser Tat, die so selbstverständlich scheint und doch so außerordentlich ist? Er glaubte nicht an die Unfehlbarkeit des technischen Systems. Er glaubte an den Überlebenswillen der Menschen. „Es ist unvorstellbar, was mit unseren Planeten passiert wäre. Ein Leben wäre wohl nicht mehr möglich gewesen.“

In seinem eigenen Land wird der „Zwischenfall“ bis heute verschwiegen. 17 Minuten lang befand sich die Menschheit am Rand des Abgrunds. Wie konnte es zu diesem Fehlalarm kommen?

Es war die hinterhältige Natur, die den Menschen etwas vorgaukelte. „Nach dreieinhalb Monaten fanden wir heraus, dass die Beobachtungs-Satelliten wohl Sonnenstrahlen, die von der Erdoberfläche reflektiert wurden, als Raketenstart interpretiert hatten, und das ausgerechnet auch noch über einer amerikanischen Militärbasis. Eine solche Blendung aller Satelliten durch die Sonne war extrem unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.“

Die Sonne bringt alles an den Tag. Die Sonne verblendet die Menschen. In der Natur ist das Böse. Sie muss vernichtet werden. Dem unwahrscheinlichen Fall, dass sich an rechter Stelle, zum rechten Zeitpunkt, ein denkender Mensch befand, verdankt die Menschheit ihre Existenz.

Die Menschheit setzt ihr Dasein auf totales Risiko und Zufall. Was muss das für eine Technik sein, dass ein Einzelner zum Herrn über Leben und Tod der ganzen Menschheit wird? Ist der nächste Mensch, der über das Schicksal der Menschheit entscheidet, ein gläubiger Apokalyptiker, der den Planeten vernichten muss, um einem Messias die Tür zu öffnen?

Warum preisen wir nicht mit allen Ehren dieser Welt einen Menschen, der seine Vernunft benutzte? Warum hoffen wir nur auf imaginäre Erlöser?

(FAZ-Interview von Stefan Locke mit Stanislaw Petrow)

Derselbe Ruhm gilt Wassili Archipow, der einer russischen Bauernfamilie entstammt. Er war sowjetrussischer Marineoffizier, der in der Kubakrise dem Befehl seiner Vorgesetzten den Gehorsam verweigerte und eine amerikanische Provokation mit Schein-Wasserbomben nicht mit einem Torpedoabschuss beantwortete. Mit Sicherheit hätte der Torpedo einen Atomkrieg entfesselt.

Drei Offiziere waren zuständig für den Abschuss der Waffen. Archipow gelang es, den zweiten zuständigen Offizier Sawizki von seiner friedensstiftenden Haltung zu überzeugen.

„Erst im Herbst 2002 wurde auf einer Historiker-Tagung in Havanna zum 40. Jahrestag der Kuba-Krise offiziell erklärt, dass ein Mann namens Archipow die Menschheit tatsächlich vor einem Atomkrieg bewahrt hatte.“

Keinem Westler: zwei Russen hat die Menschheit ihr Fortleben zu verdanken. Nur Gehorsamsverweigerung kann uns noch retten. Nur das Prinzip Petrow-Archipow.

 

Wie alt ist die Menschheit? Warum weiß sie noch immer nicht, was sie will? Sie wird vom Planeten abtreten und hat nicht mal ein paar Grundfragen gelöst. Kann sie auch nicht, sagen die Vorwitzigen. Der Mensch ist ein offenes, nicht festgestelltes Tier, in unaufhörlicher Verwandlung. Ein zeitloses Wesen ist eine Chimäre. Ständig muss das Tier sich dumm stellen und von vorne beginnen.

Unendliche Verwandlungsfähigkeit ist die Bedingung unendlichen Wirtschaftswachstums. Unendliche Bedürfnisse in permanenter Verwandlung erfordern die Produktion endloser Bedürfnisbefriedigungen.

Philosophie ist die Grundlage der Wirtschaft. Willst du die Wirtschaft ändern, musst du deine Philosophie ändern. Brauchst du eine maßlose Konsumherstellungsmaschinerie, bastle dir eine postmoderne Chamäleonsphilosophie, die rhythmisch in allen vorhandenen Farben des Universums schillert und du erhältst alle Nobelpreise für Wirtschaft der nächsten 10 Jahre zusammen.

Die Postmoderne ist die ideale philosophische Grundlage des Neoliberalismus. Einszweidrei, im Sauseschritt, läuft die Zeit, wir laufen mit. Was machen wir, wenn die sausende Zeit in den Graben fällt? Fallen wir alle mit?

Wenn sich ständig alles ändert, hat der Neoliberalismus Recht. Alles ändert sich natürlich nicht, sonst würde sich das Allesverändern selber ändern. Das darf nicht sein.

Dass der Mensch habgierig, konkurrenzsüchtig, selbstisch und naturzerstörend ist – ist das Evangelium der Unendlichkeitsgeier. Dass der Markt dem Menschen überlegen ist und unfehlbar wie der Papst, darf sich auf keinen Fall ändern, sonst schlägt’s dreizehn.

(Dreizehn ist einer mehr als 12 Jünger; der 13. kann nur das kleine Jesulein sein, das zum Unglückssymbol wird wie die schwarze Katze am Freitag, dem 13ten.)

Keine Rede, dass Neoliberalismus und Postmoderne nicht ihre Götzen hätten, die sie anbeten wie mexikanische Drogenkiller die schwarze Madonna. Beim Neoliberalismus ist es Hayeks Evolution, die wir täglich auf Knien anbeten. Wie sang die naive Jungfrau? Liebe Evolution, ich bete dich an, du brauchst Zaster und Kohle, und ich einen reichen Mann. Das ist das Vaterunser der Gierwirtschaft und darf nur verändert werden, wenn die Wallstreet mit 99,9% zustimmt.

(Wetten, dass es noch keine Doktorarbeit gibt mit dem Titel: „Überzufällige Ähnlichkeiten zwischen der Wallstreet und dem vatikanischen Kardinalskollegium“? Was hier der sichtbare Papst, ist dort der unsichtbare Markt. Einen Unterschied aber gibt es. Der Markt kann nicht wegen Burnout zurücktreten, womit der Neoliberalismus den Katholizismus in Belastbarkeit eindeutig besiegt hätte.

Es gibt noch einen Unterschied. Wird ein Neoliberaler wie Madoff erwischt, kommt er gelegentlich ins Gefängnis, wird – wie es gerade hereintickert – ein Kardinal dabei erwischt, dass er seine pädophilen Priester schützt, darf er mit Sicherheit nach Rom fahren und den Papst wählen.)

Kein Getümmel, Athener, ich komm schon zur Postmoderne. Post ist die beliebteste Vorsilbe aller Gegenwartsdenker. Habermas und Kollegen sprechen sogar von Post-Metaphysik. Das ist so viel wie Postpost-Physik. Denn meta ist post auf Griechisch und heißt ordinär „hinter oder nach“. Postmoderne ist hinter und nach der Moderne.

Jetzt sind wir in einem Sumpf gelandet. Denn Moderne war das neue Zeitalter, das nach dem alten Zeitalter gekommen ist. Mit Inhalten hat dies nichts zu tun, sondern mit relativen Zeitangaben. Post ist, was hinter dem kommt, was zuvor war. Das wiederum kommt erst, wenn das Frühere vorbei ist. Das ist Sprache der Kinder, bevor sie die Zeit mit absoluten Zahlen verbinden können.

Wann willst du denn ins Bett? Erst, wenn Papa gekommen ist – danach. Post Papa. Und wenn er heute nicht kommt, weil er nach London düsen muss? Dann warte ich solange hier auf der Couch, bis er gekommen ist. Ah, dann viel Spaß.

Postmoderne ist, wenn die Moderne gegangen ist. Ist sie denn schon gegangen? Oder soll sie erst noch gehen und die Postmoderne schiebt sie kräftig aufs Abstellgleis? Gute Frage, nächste Frage.

Klingt schon mal gut, was die Postmoderne will: die despotischen Züge der Gegenwart aufdecken und bekämpfen. Das ist immer notwendig, denn der Abendländer an sich neigt zum Bösen, sprich, zum Totalitären.

Doch woran sollen wir denken, wenn wir das Totalitäre aufdecken sollen? An Neonazis? An Sprengstoff-Märtyrer? An Alleinherrschaft des Kapitalismus? An das Papsttum mit totalitären Zügen?

Schauen wir doch einfach nach in Wiki, der besten Enzyklopädie aller Zeiten, die bereits jetzt die Enzyklopädie der französischen Aufklärer in den Schatten gestellt hat. Dort waren nur Gelehrte am Werk, während hier – hoffentlich – sich auch der Große Lümmel beteiligt.

Die Postmoderne hat was gegen die Moderne, weil „maßgebliche Ansätze der Moderne eindimensional und gescheitert seien“.

a) gescheitert, ja? Hitler und Stalin sind gescheitert. Wäre es besser gewesen, sie wären nicht gescheitert? Ist automatisch falsch, was gescheitert, automatisch richtig, was erfolgreich ist? Dann wäre Sokrates der Rohrkrepierer der ganzen Philosophiegeschichte.

b) eindimensional, ja? Eindimensional ist eine „gestreckte Linie“. Haben‘s die Postmodernen lieber mit krummen Linien zu tun? Vorsicht, die krumme Linie ist die Linie des Esels. Pardon, wir haben uns in die Geometrie verirrt, warum sagt uns das niemand?

Natürlich müssen wir bei Herbert Marcuse und seiner Kritik am eindimensionalen Menschen im Kapitalismus nachschauen. Eindimensional bedeute, wenn die Wissenschaft ins empirische und rein quantitative Denken flüchte. „Grundsätzliche, qualitative Reflexion der gesellschaftlichen Probleme und Aufgabenstellungen fänden in dieser technokratischen Herrschaftswissenschaft nicht statt. Statt die Ungleichheit im Kapitalismus und die nukleare Bedrohung anzugreifen und zu kritisieren, würden diese Probleme nur verwaltet und somit immer neu reproduziert.“

Eindimensional ist, wenn die Menschen ihr Leben nur unter dem Diktat der Zahlen bewerten und keine grundsätzlichen Fragen nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Brüderlichkeit stellen würden. Das ist nicht gut. Leben wir nicht in solchen Zeiten, wo nur noch Wirtschaftszahlen den Erfolg der Politik bestimmen? Würden wir in postmodernen Zeiten leben – die Frage blieb oben unbeantwortet –, dann würden wir in eindimensionalen Zeiten leben. Dem aber wollte die Postmoderne doch gerade entgehen?

Was will die Postmoderne als Alternative zur Moderne? „Dem wird die Möglichkeit einer Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender Perspektiven gegenübergestellt (Relativismus).“ Vielfalt gegen Einfalt? Relativismus gegen Absolutismus? Gleichberechtigung gegen Hierarchien?

Welcher Absolutismus herrscht in der Demokratie? Welche Einfalt? Welche Ungleichheit?

Ist es schon absolutistisch, wenn ich an Demokratie festhalte und keine Alternativen zulasse? Bin ich dann ein absolutistischer Demokrat?

Wenn ich eindimensional an der Vernunft festhalte? Bin ich dann totalitärer Vernunftanbeter?

Wenn ich unbeirrt an der humanen Moral festhalte. Bin ich dann terroristischer Humanist?

Nach der Postmoderne dreimal Ja. Nach dem deutschen Feuilleton ebenfalls dreimal Ja. Denn das deutsche Feuilleton ist eindimensional postmodern. Und schließt alles Heterogene und Andersdenkende mit verbissener Wut aus.

Just die Ausklammerung im Herrschaftsbereich des Eindimensionalen wollte Jean-Francois Lyotard – ausklammern, indem er alles als gleichberechtigt betrachtete, was die Menschheit bisher gesagt, gedacht, geschrieben und behauptet hat.

Klingt das nicht tolerant und demokratisch? Auf jeden Fall klingt das so. Ist es aber auch so? Wenn muslimische Frauen in Deutschland klitoral beschnitten werden sollen, soll das verboten – oder als gleichberechtigter Relativismus anerkannt werden? Wenn bei uns das BGB gilt: muss der eindimensionalen Herrschaft dieses Rechts gleichberechtigt die Scharia an die Seite gestellt werden oder das altgermanische Recht oder die Gesetzgebung der Nationalsozialisten? Keine Fragen, keine Antworten.

Lyotard erklärte in seinem Buch „Das postmoderne Wissen“ das philosophische System der Moderne für gescheitert. Welches denn? Das der deutschen Idealisten, der Romantiker, der katholischen Scholastiker, das von Nietzsche, Bergson, Russell, von Popper, der Frankfurter Schule, von Habermas? Was ist denn die Philosophie der Moderne? Keine Frage, keine Antwort.

„Lyotard spricht nicht von philosophischen Systemen, sondern von „Erzählungen“. Die einzelnen modernen „Erzählungen“ legten, so Lyotard, der Welterklärung jeweils ein zentrales Prinzip zugrunde (z. B. Gott oder das Subjekt), um auf dieser Grundlage zu allgemeinen Aussagen zu kommen. Damit scheiden sie jedoch das Heterogene aus oder zwingen das Einzelne unter eine allgemeine Betrachtungsweise, welche gewaltsam dessen Besonderheiten einebnet. Lyotard setzt an die Stelle eines allgemeingültigen und absoluten Erklärungsprinzips (Gott, Subjekt, Vernunft, Systemtheorie, marxistische Gesellschaftstheorie etc.) eine Vielzahl von Sprachspielen, welche verschiedene „Erzählungen“, also Erklärungsmodelle anbieten. Lyotard wendet sich also nicht gegen Rationalität im Allgemeinen, sondern gegen eine bestimmte historische Form der Rationalität, die auf der Ausgrenzung des Heterogenen basiert.“

Warum spricht der Franzose von Erzählungen, nicht von Systemen? Was wissen wir mehr, wenn wir einen unklaren Begriff mit einem andern austauschen? Immerhin ahnen wir jetzt, warum es in allen Zeitungen von Geschichten widerhallt. Jeder neue Sachbuchautor, der durch die Medien gereicht wird, will nur eine Geschichte erzählen. Mit dem schönen Fremdwort: ein Narrativ. Woran erkennt man den Narren? Dass er ein Narrativ hat, wo vernünftige Leute Argumente haben. Nur klingt nach Bescheidenheit. Soll wohl bedeuten: im Gegensatz zu großkotzigen Systematikern?

Erzählung gegen System? System ist ein Gebilde, das verschiedene Elemente zu einer Einheit verbindet. Einheit heißt logisch durchdacht und folgerichtig. Wo ist das Problem? Ist bereits der Versuch verwerflich, Einheit herzustellen oder gibt es keine Einheit, die man herstellen könnte?

Was hingegen soll an Erzählung besser sein? Eine Erzählung erzählt eine Geschichte. Warum und wozu? Kindern erzählt man Geschichten, weil sie spannend sind. Spannend sind sie, wenn sie nachvollziehbar und stimmig sind. Und nicht reiner Klamauk, den ein Kind nur einmal im Monat erträgt. Will man allzu oft blödeln, wird jedes Kind sauer und man kriegt einen strengen Verweis: heute kein Blödeln, Papa. Sonst musst du nachsitzen und wirst in diesem Jahr wieder nicht als Papa versetzt. Mit schriftlicher Benachrichtigung an Oma und Opa, die dieses Blödeln schon immer für blöd hielten. Eine sinnvolle Erzählung ist selbst ein System, sonst ist sie keine Erzählung, sondern ein dadaistisches Stammeln sinnloser Worte und Silben. Jandl ist auch schon lange tot.

Lyotard will verhindern, dass das Heterogene ausgeschieden wird. Wer scheidet denn das Andersartige aus? Denkt er an die Macht der mittelalterlichen Kirche, die andersdenkende Ketzer aufs Schafott brachte? Meint er totalitäre Despoten, die jede Opposition umbringen lassen? Oder denkt er an die Wahrheit, die die Unwahrheit ausschließt?

Wenn eins und eins zwei sind, darf der Mathelehrer das Ergebnis drei nicht ausschließen? Schließt Demokratie nicht Totalitarismus aus? Schließt Postmoderne nicht selbst die Moderne aus? Darf Demokratie nicht wehrhaft sein und alle feindlichen Bestrebungen nach Regeln des Rechtsstaates unterbinden?

Die Postmoderne scheint noch immer gegen die mittelalterliche Kirche und gegen Hitler zu kämpfen. In der Demokratie ist sie noch nicht angekommen. Das ist Philosophie als Stammeln. Ohne die geringste Fähigkeit, sinnvolle Fragen zu stellen und zu beantworten. Im Übrigen sind alle Fragen nach absoluter und relativer Wahrheit bereits in aller Gründlichkeit von der griechischen Philosophie gestellt und erörtert worden.

Sokrates glaubte an die absolute Wahrheit, ohne Anspruch, sie theoretisch zu erfassen. Was ohnehin nicht nötig wäre, um für die Wahrheit einer humanen Moral standfest einzutreten.

Platon verriet seinen Lehrer und vertrat eine Wahrheit, die er theoretisch und praktisch für unwiderlegbar hielt, indem er alle anders Denkenden ausschloss, ja dem Ketzertod übergab.

Die Postmoderne stammelt vor sich hin, als ob sie das Rad neu erfunden hätte. Dabei ist sie unfähig, zu erfassen, was die Vergangenheit schon geleistet hat. Der forcierte Neuigkeitscharakter der Gegenwart beruht auf Amnesie und bedeutet einen Rückfall ins Barbarische. Denn wer beim Heterogenen nicht unterscheiden kann zwischen Wahrheit und Unwahrheit, Demokratie und Totalitarismus, Recht und Barbarei und alles als gleichberechtigt betrachtet, akzeptiert aus falscher Toleranz den Einbruch der totalitären Barbarei.

Niemand hat ein Monopol auf Wahrheit. Was noch lange nicht bedeutet, dass es keine Wahrheit gibt, der wir im demokratischen Diskurs nachstreben sollten. In Missachtung der Vergangenheit hat die Postmoderne die Vergangenheitsallergie der Neoliberalen philosophisch abgesichert. Im haltlosen Relativismus – alles soll gleich viel wert sein – hat sie der qualitativen Wertlosigkeit Tür und Tor geöffnet.

Wenn alles gleich viel wert sein soll, können wir verseuchtes Pferd genauso essen wie eine kostbare Biogans. Wenn alles gleich wahr sein soll, können wir uns den Streit auf der Agora ersparen. Das beste Leben wäre identisch mit dem verwerflichsten. Humanität wäre Barbarei, Menschenliebe wäre Foltern und Vernichten der Menschen. Kein Wunder, dass in der französischen Postmoderne das Wort Humanität ersatzlos gestrichen wurde. Es war zu heterogen für die Allmacht des Relativen.

Wie verwirrt muss die Gegenwart sein, um die labyrinthische Anhäufung von Begriffen für eine Philosophie zu halten? Wenn Philosophie sich derart ruiniert, kann sie kein Gegengewicht mehr bilden gegen die Dominanz der Wirtschaft, hat sie sich zugunsten von Zahlen und Diagrammen abgeschafft. Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie haben die Gegenwart im Griff.

Die Geisteswissenschaften mit der Philosophie als Kern haben abgewirtschaftet. Sie befinden sich in einem beklagenswerten Zustand. Schirrmacher will die Wurzeln der Malaise den Physikern und Mathematikern in die Schuhe schieben, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, warum die Philosophie seit langem mausetot ist und den Masters of Universe kein Paroli bieten kann. Der alte Streit zwischen den beiden Kulturen ist entschieden. Die Wissenschaft denkt nicht, die Philosophie schon längst nicht.

Die griechische Philosophie ging unter, als die Polis, der Platz ihrer ständigen Erneuerung, von der römischen Großmacht geschleift wurde. Zwar gelang es den Stoikern noch viele Jahre, die Eliten der Römer zu prägen. Als jedoch die letzten demokratischen Elemente aus dem römischen Gemeinwesen verschwanden und die Epoche despotischer Kaiser begann, war Schluss mit der Macht eigenständigen Denkens.

Die Verhältnisse der pax romana waren derart heruntergekommen, dass nur noch die Allmacht des Himmels die Ruinen übernehmen konnte: das Christentum. Kirche obsiegt, wenn es dem Menschen nicht gelingt, seine res publica friedlich und freundlich zu gestalten. Die Heilande leben von den schwärenden Wunden der Menschheit. Je kränker der homo sapiens, je strahlender das Licht des Heils.

Was erleben wir momentan? Die Militanz christlicher, muslimischer und jüdischer Erlöser steigt unaufhörlich.