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Mittwoch, 19. Dezember 2012 – Freiheit und Waffen

Hello, Freunde des Gottes,

Frau Schröder geht doch noch unter die Feministinnen, unter die bibelfesten natürlich. Wenn sie ihrem Kind Märchen vorliest, vermeidet sie das Wort Negerkönig. Vermutlich umschreibt sie korrekt – so viel Zeit muss sein – „König mit afrikanischem Migrationshintergrund“. Auch über die korrekten Geschlechtsteile des Herrn der Heerscharen hat sie so ihre männerfeindlichen Vermutungen. Der bestimmte Artikel „der liebe Gott“ habe nichts zu sagen, meinte sie. Man könnte auch sagen: Das liebe Gott.

Ja was nun? Ist Gott Zwitter oder geschlechtslos? Vermutlich ein Geheimnis. Hat Gott doch ausdrücklich verboten, dass seine Geschöpfe sich Bilder über ihn machen sollten. Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen, weder dessen, was oberhalb, noch unterhalb meiner Lenden ist. Oliver Kahn rügt alle Fußballer, die keine Eier haben. Und Gott sollte keine haben? Hier müssten die Edelkicker ernsthaft darüber nachdenken, ob sie ihren Schöpfer übertreffen wollen.

Worte können viel Schaden anrichten, meinte die fromme Ministerin. Da hat sie Recht. War doch am Anfang schon das vermaledeite Wort, und mit ihm begann das ganze Schöpfungselend.

Man sollte nicht nur sexistische und gewalttätige Märchen gründlich säubern – da kann die Frauenministerin viel vom amerikanischen Bible Belt lernen, der schon alle Schulbibliotheken von gefährlicher Weltliteratur so gesäubert hat, dass kaum noch Bücher übrig blieben –, man sollte auch mal Gottes Wort unter die Lupe nehmen, damit unschuldige Kinder gefahrlos drin herumblättern könnten.

Nehmen wir nur den folgenden harmlosen Vers über die Dinge, die

demnächst über unsere Kinder hereinbrechen sollen: „Da entstand Hagel und Feuer, mit Blut vermischt und wurde auf die Erde geworfen; und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte und alles grüne Gras verbrannte.“ ( Neues Testament > Offenbarung 8,7 / http://www.way2god.org/de/bibel/offenbarung/8/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/offenbarung/8/“>Offbg. 8,7)

Und wie erklären fromme Schöpfungsbewahrer ihren naturliebenden Kindern diese Stelle? Wie viel % der heiligen Schrift müsste, um Kinder vor Schaden zu bewahren, geschwärzt oder getilgt werden? Genügen 99,9% oder 110%?

Nein, zensieren ist so martialisch. Es geht viel einfacher: die Kinder sollen gar nicht richtig lesen lernen, dann ist die Kuh vom Eis. Sollten sie trotzdem in der versteckten Hausbibel herumbuchstabieren, muss man ihnen eindringlich vorhalten, dass der schnöde Buchstabe tötet und nur kinderliebende Priester ihnen erklären können, was sie gerade entziffert haben.

Weswegen der deutsche Staat die christliche Grundschule und die bekenntnisorientierten Kitas erfunden hat, damit man den Kindern ein X für ein U vormachen kann. Im frommen Freiburg werden Kinder katholischer Kitas geschlossen ins Münster geführt und mit Weihwasser beträufelt, welches, so die Erklärungen gutwilliger Tanten, das unauslöschliche Siegel Gottes sei. (Das Wort „unauslöschlich“ wurde natürlich kindesgemäß umschrieben.) Man könnte auch von Nottaufe sprechen oder von skalpellfreier Beschneidung. Nimm Wasser für Blut, so fortschrittlich geht’s zu in Zollitschs idyllischem Heimatrevier.

(Die Ministerin und „das liebe Gott“ in der SZ)

Wie soll man Gottes Wort den Kleinen erklären, ohne sie in seelische Betrübnisse zu stürzen, dass möglicherweise sie in den Himmel kommen, nicht aber ihre Eltern und Freunde? Ganz einfach, man gibt eine „Comic-Bibel für Kinder und Erwachsene“ heraus. Wählt die „wesentlichsten Inhalte“ und erzählt sie in dialogischer Vereinfachung, damit auch die Eltern mal verstehen, was sie schon immer geglaubt.

Dann erzählt man von einem guten, menschenliebenden Gott, den man gesichtslos mit weißen Haaren zeichnet. Würde man einen Menschen gesichtslos nennen, wäre das schon Rufmord. Jesus ist ein hübscher junger Mann, mit langen Haaren und Kulleraugen. (Was würde Frau Schröder zu den „Kulleraugen mit afrikanischem Migrationshintergrund“ sagen?)

„Überhaupt ist alles weichgezeichnet“, schreibt der wortgewaltige Streiter Gottes Dirk Pilz von der BLZ, der immerhin schon weiß, dass die Frohe Botschaft keinen Kuschel-Gott verkündiget, der die Menschen mit einem „Rundumsorglospaket“ versorgt. Die Bibel sei, hört, hört, eine komplexe Erzählung „voller Ungereimtheiten, Widersprüche,“ die sich nicht verrechnen ließe mit „kleinen Münzen menschlichen Liebes- und Harmoniebedürfnisses“. Schon gar nicht mit der „womöglich noch kleineren Vernunft“. Aber bestimmt mit der großen weichzeichnenden Unvernunft.

Hitlers Leib- und Magenstelle, die Juden mit der Geißel aus dem Tempel zu jagen, wird so kuschlig gemalt, dass es einem ganz warm wird ums philosemitische Herz: „Macht meines Vaters Haus nicht zum Kaufhaus.“ Das nennt der freundliche Rezensent eine „sanft- und duldsame Aufräumaktion“.

Die Juden bleiben ad usum delphini (zum Gebrauch der Kinder) so namenlos wie ihr Vater im Himmelreich gesichtslos. Das Ganze ist ein „zeitgemäßer Einstieg in die größte Erzählung der Menschheitsgeschichte.“ Man könnte auch sagen: das Lügenbuch ist der Einstieg in den ganz ordinären Antisemitismus, versteckt hinter Kulleraugen.

Die Bundesprüfstelle gegen kinder- und judenfeindliche Umtriebe sollte das brandgefährliche Verharmlosungsmachwerk sofort aus dem Verkehr ziehen. Der Verlag plant schon das nächste Buch in Weichzeichner: Mein Kampf – die rührende Geschichte eines verkannten Künstlers. Für Kinder zum Kullern und Kuscheln.

(Dirk Pilz in der BLZ)

 

Vier Tage hat die amerikanische Lobby geschwiegen. Um die Trauer der Hinterbliebenen nicht zu stören. Man sollte sie Lobby für feinfühlige Empathie nennen. Nun hat sie „ihr Schweigen gebrochen“, wie die ARD formuliert, und kündigte Konsequenzen an, doch welche, das hat sie nicht verraten. (Weshalb sie ihr Schweigen nicht gebrochen hat.)

Daniel Haufler, BLZ, hat einige Zahlen zusammengestellt. In der Amtszeit Obamas hat es 14 Amokläufe gegeben. 67 Menschen starben, 73 wurden schwer verletzt. Zwischen 2003 und 2010 starben 247 131 Menschen durch Schusswaffen, 400 000 wurden verletzt. Das ist eine mittlere Großstadt, die in einen Friedhof mit Lazarett verwandelt wurde.

In Australien wurden nach einem Amoklauf die Waffengesetze verschärft. Amokläufe und die Zahl der Erschossenen gingen erheblich zurück. „Solche Regulierungen würden zwar aus der gewalttätigen US-Gesellschaft noch keine friedliche machen, aber eine weniger tödliche.“ (Daniel Haufler in der BLZ)

Norman Birnbaum ist ein amerikanischer Altlinker, wie es hierzulande keinen mehr gibt. Er hat mit seinem Kommentar zum Amoklauf die Betroffenheits-Verrohung fast der gesamten deutschen Journaille zur Kenntlichkeit entlarvt. Vor lauter Betroffenheit haben die deutschen Schreiber sich ihre Augen wund geheult. Sie ähneln einem Chirurgen, der vor lauter Tränen seinen schwerkranken Patienten nicht operieren kann und ihn lieber verrecken lässt, als über eine sinnvolle Diagnose und Therapie nachzudenken.

Die deutschen Heuler wissen von vorneherein, dass es keine Diagnose gibt, schon gar keine Therapie. Wer über solche Profanitäten schon nachdenkt, ist ein roher Geselle. Das Böse ist weder erklär- noch kurierbar. Zu diesem Zweck hat man das Böse ja auch erfunden, dass die Schuld bei den Bösen bleibt.

Der emeritierte Soziologe kennt den Begriff Gesellschaft noch. Sogar den einer militarisierten und gewalttätigen Gesellschaft. War der Schüler Autist? Der Täter hätte sich verbrennen können, ohne etwas zu spüren, sagte ein Lehrer über seinen Schüler, der Pädagoge muss ein ausgewiesener Autismusexperte gewesen sein.

Birnbaum widersteht der Verhöhnung des Opfers, der zum Täter abgerichtet wurde. Im Gegensatz zum SPIEGEL, der sich in philisterhafter Selbstgerechtigkeit für berechtigt hält, ihn erbärmlich zu nennen. Vielleicht ist die Gehirnforschung schon dabei, das Erbärmlichkeits-Gen ausfindig zu machen.

Birnbaum weiß auch noch etwas über die Geschichte jenes Staates, der regelmäßige Amokläufe seiner Kinder und Jugendlichen benötigt, um sich selbst in Unschuld zu beweinen und zu beklagen. Im Gegensatz zu Abraham hören die heutigen Amerikaner keine Stimme von oben, die ihnen verbietet, ihre Täterkinder zu schlachten und in Sündenböcke zu verwandeln.

Birnbaum weiß auch noch, dass es anderswo wesentlich mehr Kinderopfer gibt als in Connectitut, „aber niemand denkt an die Hochzeitsgesellschaften in Asien, die von unseren Drohnen getroffen werden: Wir bereiten uns längst auf den nächsten Horror zu Hause vor.“

Birnbaum weiß noch, dass Kinder von ihren Familien und Familien von der Gesellschaft geprägt sind. Um zu wissen, wie Kinder sein können und werden müssen, muss man sich die Gesellschaft und ihre Geschichte angucken. Die Folterpraxis in den USA hat nicht erst mit Guantanamo begonnen. Schon lange hat die Polizei Verdächtige beim Verhör gefoltert. In früheren Kriminalfilmen hieß das „der dritte Grad“.

Die Selbstjustiz begann mit den Erfahrungen der ersten Siedlungsphase im Kampf mit den Indianern. 1846 begann der erste nationale Krieg gegen Mexiko, hierauf gegen Spanien 1898, sodann die ganze Latte der Kriege, die heute kaum noch jemand aufzählen kann. „Die Idee einer von Feinden umzingelten Nation entstand nicht erst an Nine-Eleven.“

Da gibt’s nicht geringe Ähnlichkeiten mit Israel und – mit Deutschland, das sich als Land der Mitte stets von Feinden umzingelt fand. Der Kampf gegen Gewaltkriminalität war immer ein Vorwand zur Kontrolle von Immigranten und Minderheiten.

Es gibt in den USA so viele Waffen wie Einwohner. Das meistgenannte Motiv für Waffenbesitz ist Schutz vor Verbrechen. Jeder Amerikaner muss fast jeden Amerikaner für einen Verbrecher halten. Die Militarisierung der Gesellschaft, vorangetrieben von Politikern, Professoren und Publizisten, „ist Teil einer allgemeinen Legitimierung von Gewalt“. Trotz mannigfacher Fürsorge engagierter Bürger überwiege das Prinzip „Selbstbehauptungswahn“. Wie Gemeinden und Schulen mit psychischen Problemen umgingen, „kann nicht gerade als Modell der Präventivmedizin gelten. Die Seelsorge der Kirche lässt vieles außen vor.“

In einer kapitalistischen Gesellschaft gebe es nun mal immer mehr individuelle Abstürze, die jede Menge Hass hervorbringen würden. „Diese verlorenen Seelen wandern durch eine Landschaft, die von Gewaltdarstellungen in Filmen und Druckerzeugnissen, im Fernsehen und im Internet verseucht ist.“

Das ist die vorbildliche Selbstkritik einer Gesellschaft, die ständig Opfer braucht und Opfer der ersten und zweiten Reihe ständig produziert.

(Ein Kommentar von Norman Birnbaum in der TAZ)

Amerika hat schärfere Selbstkritiker als alle deutschen Medien zusammengenommen. Deutschland ist nicht nur unfähig, Israel zu kritisieren, sondern auch seine anderen Freunde. Kritik gibt’s keine, weil sich niemand für andere Nationen – außerhalb der Konjunkturzahlen – interessiert. Die Deutschen sind die eifrigsten Touristen der Welt, doch sie kommen nach Hause und haben kein einziges interessantes Volk entdeckt.

Was verstehen die Deutschen von ihren besten Freunden, den Franzosen? Was wissen sie über Judentum und israelische Geschichte? Was über Polen, Russland, ja was über Amerika, den grossen Freund, der sie befreit hat von den Übeln?

Freunde kritisiert man nicht. Jeder wusste über die inneren Kalamitäten der Griechen beim Eintritt in die EU. Niemand sprach ein klares Wörtchen, dass das Ländchen sich ändern müsste. Heute wird Griechenland von der chauvinistischen Presse plattgebügelt.

Hinzu kommt, dass es Kritik als Normalfall gar nicht geben kann. Wer Israel kritisiert, ist Antisemit, wer Amerika, Antiamerikaner. Nach dem Krieg war es nachvollziehbar, dass die Befreier in verklärtem Licht gesehen wurden. Deutsche Nachwuchstalente gingen in die USA und schwärmten von „Meinem New York“, „Meinem San Francisco“.

Das war die Entdeckung einer ganz anderen und faszinierenden Welt. Amerikanische Literatur, Hemingway, Faulkner, Henry Miller, amerikanische Musik von Jazz über Elvis bis zu Bob Dylan, die amerikanischen Filme, das ganze amerikanische Lebensgefühl war berauschend und wurde hemmungslos imitiert.

Der Vietnamkrieg und der Kapitalismus zeigten die Kehrseite und Amerika wurde bei marxistischen Linken zum Reich des Profits und des Bösen.

Actio und Reactio, Verklärung und Dämonisierung. Bis heute gibt’s keine durchwachsene Wahrnehmung der Vorteile und Schwächen der Weltmacht Nummer Eins.

Als Dabbelju die Macht übernahm, wurde wieder dämonisiert, als ob der Texaner seine rüden Methoden nicht zumeist vorgefunden hätte. Als dann Lichtgestalt Obama mit charismatischen Reden die Dabbelju-Epoche zu überstrahlen begann, ging das amerikanische Fieber erneut in Deutschland um. Verhasst oder idolisiert, eine selbstbewusste Beziehung zu einer andern Nation sieht anders aus.

Selbst die legendären Gründerjahre der USA waren von enormen Schattenbildungen der ersten Demokratie der Neuzeit nicht frei.

„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Männer gleich erschaffen, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden.“

Wenn Athens Urpolis nur Freiheit für Männer kennt, Frauen und Sklaven ausschließt, gilt das heute als Grund, das alte Griechenland als falsche Demokratie auszuschließen. Bei Amerikanern gelten dieselben Fakten als lässliche Sünden, die wir zu ignorieren haben. Selbst Lincoln soll nicht der große Sklavenbefreier gewesen sein, Thomas Jefferson hatte selbst noch Sklaven. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter Johnson begann die Befreiung vom unterwertigen Status der Schwarzen.

Dass in der Verfassungsurkunde die Urlüge des christlichen Westens steht, Demokratie und Freiheit seinen Geschenke eines Schöpfers, interessiert in Deutschland niemanden, wo man Luther für einen Aufklärer hält.

In Amerika maßte sich die christliche Moderne an, sich die Errungenschaften des heidnischen Griechenlands unter den Nagel zu reißen. Wie Europa sich anmaßte, das Schießpulver, die Buchdruckerkunst, die Nudeln, die Seidenspinnerei als eigene Erfindungen auszugeben, anstatt als importierte Erfindungen Chinas, so fühlte sich Neu-Kanaan als Originalerfinderin von Freiheit und Demokratie.

Natürlich blieben die Frauen außen vor und mussten bis ins 19.Jahrhundert warten, bis sie wählen durften. Auch die Französische Revolution hatte die Frauen aus dem Katalog der zu Befreienden ausgeschlossen. Dass alle Männer gleich seien, ist zum abgedankten Dogma einer Gesellschaft geworden, in der Ungleichheit als Erwählungsphänomen gilt.

Calvinismus und Gleichheit der Aufklärung, das passte zusammen wie Selbstbestimmung und Glaubensdemut. Diese Ursünde stand schon bei Locke, dem englischen Stichwortgeber der amerikanischen Verfassung. In seinem „Second Treatise“ sprach er von politischen Rechten, ignorierte aber die Kleinigkeit der bestehenden Ungleichheiten an Eigentum.

Wie können Menschen gleich sein, wenn sie Welten an Macht und Money voneinander getrennt sind? Auf dem Papier sind sie alle gleich, doch zu Hause haben sie eine der ungleichsten und ungerechtesten Gesellschaften der Weltgeschichte. Die Freiheit dient der Absicherung der ungleichen Verhältnisse, als ob Freiheit nur das Recht unbegrenzten Eigentumerwerbs wäre.

Was soll das für eine Freiheit sein, die mich zu einem bloßen Raffgierleben zwingt? Der homo oeconomicus muss fieberhaft Ausschau halten, um auf Kosten seiner Freiheitsgenossen Reibach zu machen. Auf solche Idiotien muss man erst mal kommen. Freiheit ist, wenn ich selbst bestimme, wie ich leben will.

Aus welchem Land kam das soziologische Buch über den außengeleiteten Menschen? Nach David Riesman ist ein außengeleiteter Mensch, wer sich nicht nach seinen eigenen inneren Werten richten darf, sondern sich den Vorbildern der Öffentlichkeit und der Massenmedien unterwerfen muss.

Die Ungleichsten der Weltgeschichte denken unisono an Geld, essen dieselben Whoppers und tragen dieselben blauen Nietenhosen. Zeigen unisono die Zähne bei der ersten Begegnung und haben dich bei der zweiten schon wieder vergessen.

Wenn jemand sich irgendwohin zurückzieht, gilt er als asozialer Autist und als potentieller Terrorist. Der Gruppendruck der ersten Kirchengemeinden hat sich zum allgemeinen Überwachungsfieber der politischen Gemeinden ausgebreitet. Wenn der Große Bruder im Himmel dich den ganzen Tag beäugen kann, dann kann es seine geniale Kreatur genau so gut.

Amerika hat sich – wie Mutter England – zum überirdisch-irdischen Überwachungsstaat entwickelt. Die Schwächen Lockes, auf den sich die Amerikaner gern berufen, sind zu Schwächen des ganzen Landes geworden: die puritanische Hypokrisie. Locke forderte Glaubens- und Meinungsfreiheit und Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Doch mit der kleinen Ausnahme der Gottlosen und Papisten.

Das war der schaurige Witz des Jahrhunderts. Die gesamte Aufklärung war das Werk von Christenkritikern und Atheisten. Genau diesen sollte Reden und Publizieren verboten werden. Eine Fortsetzung der Aufklärung war damit beendet, bevor sie ihre internen Widersprüche überwinden konnte.

Unendliche Fluten an frommen Einwanderern sorgten dafür, dass die ursprüngliche Gentlemen-Atmosphäre englischer Aufklärer in den USA in ein gelegentliches Salem mit Hexenprozessen umkippen konnte, wie Arthur Miller in seinem Theaterstück „Hexenjagd“ beschrieb. McCarthys Kommunistenhatz war nur eine Fortsetzung der Locke‘schen Entscheidung, gegen alle tolerant zu sein, nur nicht gegen diejenigen, die mit ihrem eigenen Kopf denken wollten.

Wären nicht so viele europäische, vor allem deutsche Gelehrte und Intellektuelle nach Amerika geflohen, sähe es mit der freigeistigen Brillanz an der Ostküste eher mickrig aus. Allerdings muss man sagen, dass ihre kritisch-demokratische Potenz die der deutschen noch immer um ein Vielfaches übertrifft. Kein Wunder, dass hierzulande niemand den brillanten Historiker Howard Zinn kennt. Noam Chomsky hält die NYT für den einflussreichsten Intellektuellen der Welt, in Deutschland ist er eine Nichtperson.

Doch die Minischicht unbestechlicher Demokraten ändert nichts an der religiös dominierten und anti-aufklärerischen Atmosphäre der Mehrheit. Creationistische Wissenschaftsfeindlichkeit und obligatorische Glaubensbekenntnisse gehören fast zum Pflichtprogramm derer, die etwas werden wollen. War es schon ein kleines Wunder, dass ein Schwarzer – pardon Halbschwarzer – Präsident werden konnte, ein Gottloser wird in 100 Jahren noch keine Chance haben.

Offiziell war Locke gegen die Sklaverei. In Wirklichkeit war er am Sklavenhandel beteiligt. Als Berater von Nord- und Süd-Carolina schlug er eine Regierungsform von Sklavenhaltern vor.

Locke war ein unermüdlicher Befürworter des Kapitalismus und bedauerte, dass die Arbeitskraft von Kindern der Gesellschaft verloren ging. Als Gegenmittel schlug er vor, dass Kinder, die Armenunterstützung empfingen, so genannte Arbeitschulen zu besuchen hatten, damit sie sich von „früher Kindheit an Arbeit gewöhnen sollten.“

Der Prophet demokratischer Rechte unterstützte die Ungleichheit zugunsten der Reichen und Mächtigen auf allen Ebenen. Die Früchte seiner halbherzigen Arbeit, seiner gespaltenen Persönlichkeit und schizophrenen Aufklärung kann man heute in Amerika besichtigen.

Locke redete viel vom Volk. Doch was die Eliten unter Volk verstanden, definierte ein Genosse Lockes: „Ich meine nicht den Pöbel, ich meine die mittleren Leute von England.“ Wenn heute in Deutschland alle von der bürgerlichen Mitte sprechen und die Unterschichten abdriften lassen, können wir von den Langzeitfolgen einer unausgegorenen demokratischen Umwälzung sprechen.

Arbeitslose Unterschichten waren von Anfang an der gehasste Ballast der Frühkapitalisten. Selbst Marx sprach vom Lumpenproletariat. Wie erklären wir uns, dass der Begriff Freiheit und Demokratie in beiden Büchern von Adam Smith so gut wie nicht vorkommen?

Lockes Trilogie der Urwerte waren Leben, Freiheit – und Eigentum. Was war mit jenen, die in die Freiheit nur ihre nackte Haut hinüber retten konnten? Waren die Startchancen ins demokratische Leben auch nur ungefähr gleich? Die einen kamen mit riesigen Vermögen an den Start, den andern hatten sie ihren bäuerlichen Hof und die dörfliche Allmende mit List und Gewalt unter den Füßen weggezogen. Danach wurden sie als zerrütteter Pöbel abgefertigt, wenn sie nicht dem Kommando der neuen Fabrikbesitzer folgen wollten.

„Der Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein“: Lockes Definition von Freiheit galt für den Naturzustand, der aber im Staat nicht mehr gilt.

Bei Bildung eines politischen Gemeinwesens ist es mit dem Zustand vollkommener Freiheit vorbei. Hier wurden die Amerikaner ihrem Mentor untreu. Warum faseln sie noch immer von vollkommener Freiheit, obgleich sie seit 100en von Jahren einen funktionierenden Staat besitzen? Warum beharren sie auf persönlicher Selbstjustiz, obgleich sie Polizei und Gewaltenteilung haben?

Das lässt sich nur tiefentheologisch erklären. Eine Nation zwischen Demokratie und Calvins absoluter Vorherbestimmung muss unentwegt Freiheit deklamieren, um sich selbst und der Welt zu beweisen, dass sie nicht mehr an der unverrückbaren Leine Gottes laufen.

Gott hat die Menschen in zwei Gruppen eingeteilt und vor Erschaffung der Welt bestimmt, wer in die Gruppe der Seligen und wer in die Gruppe der Verdammten kommt. „Somit kommt es nun nicht auf den an, der will, noch auf den, der läuft, sondern auf Gott, der sich erbarmt.“ Oder nicht erbarmt.

Das war Calvins Hauptstelle aus dem Römerbrief ( Neues Testament > Römer 9,14 ff / http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/9/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/roemer/9/“>9,14 ff), um seine vollständige und zweiseitige Prädestination des Menschen zu begründen. Das steckt allen Amerikanern noch in den Knochen.

Wer am lautesten Freiheit schreit, muss auch am freiesten sein. Besonders mit einem halbautomatischen Schnellfeuergewehr.