Kategorien
Tagesmail

Mittwoch, 11. Januar 2012 – Welttheater

Hello, Freunde des heiligen Narren,

wer hat den Namen des Bundespräsidenten gerufen? Vortreten und schämen. Da wollen sie das Amt abschaffen, das wir als Abfuhrfunktion dringend benötigen.

Autoritätenschleifen macht frei, macht versöhnlich und vereinigt die Medienmeute zu einer großen Familie, in der BILD & SPIEGEL Hochzeit feiern. Herrn Leyendecker müssen wir aus dieser Versöhnungsorgie heraushalten, standhaft hält er „die mächtigste Zeitung Europas“ für ein Lügenblatt. Sein Beitrag in BILD war geklaut, ohne sein Einverständnis.

Unternehmen aber will er gegen die Verrohung der Sitten nichts, wie er unserer Mailbox anvertraute. Begründung: Doppelleser, die sowohl SZ wie BILD läsen, gäbe es zu wenige. Lieber Hans, Sie werden doch kein taktisches Verhältnis zur Wahrheit haben? Was für Politiker gilt, gilt erst recht für moralische Ratingagenturen. Meiden Sie den bösen Schein und kippen Sie beim nächsten Presseball Herrn Dieckmann ein Bier übers gegelte Haupthaar. Muss ja kein bayrisches sein, ein Kölner genügt.

Nebenbei: warum gelen deutsche Prachtburschen wie der Lügenbaron und der BILD-Chef ihr stolzes Haar? Bibelfeste Freudianer, die die Geschichte von Simson kennen, wissen, es kann sich nur um männliche Potenzprobleme handeln. (Hat die hämische TAZ nicht mal mit Dieckmann wegen Verlängerung eines hier nicht

näher bezeichneten männlichen Gliedes prozessiert? Das ist nun wirklich ordinärster Freudianismus, gleichwohl ist das Thema sexuelle Minderwertigkeit und seine edelfedernde Sublimierung von Medienwissenschaftlern noch unzureichend erforscht. Hier tut sich eine schmerzliche Lücke auf.

Wenn Feministinnen wie Bascha Mika beim Thema Silikon-Implantate nicht wissen, ob sie weinen oder heulen sollen, so sind wir beim analogen Geschlechterproblem. Sind Frauen selbstbestimmt, wenn sie ein Tuch überm Kopf tragen oder naturidentisch ihren Rundungen nachhelfen – oder glauben sie es nur? In Wirklichkeit richten sie sich nach den Wünschen und Direktiven der Männer?

Nicht leicht zu beantworten, vermutlich beides. Man glaubt es nicht, manche Frauen würden einen Teil ihres Gehirns opfern, nur um ihren oder seinen ästhetischen Idealen zu entsprechen. Warum wundern wir uns? Machen viele Erfolgsmänner nicht längst den Eindruck auf uns, als seien sie von Teilen des vorderen Gehirnlappens befreit? Ob digital angereichertes Silikon dem Gehirnverlust nachhülfe?

Seitdem Männer von hinterlistigen Frauen überrundet werden, flüchten sie zunehmend in Männergruppen, wo sie nach Herzenslust heulen, jammern und im Kreise herum Indianergeheul ausstoßen dürfen. Gefühle, ja, die hätten sie wohl, sagt der Männertherapeut, der schon ins Heulen kommt, wenn er es nicht schafft, seinen Zweijährigen grenzensetzend ins Gitterbett zu verfrachten. Was tun, um Machos ihren verleugneten Gefühle näher zu bringen?

Wobei es, wie immer in hiesiger Kreuzeskultur, um Klagen und Trauern geht. Nicht um Anklagen, nein, das würde schnell zu einem ideologisch verfestigten deutschen Selbstmitleid werden. Stopp. Wie kann deutschen Recken die Gefühlskompetenz fehlen, wenn ihnen seit Kaiser Willem die Unart des Selbstmitleids nachgesagt wird? Heulten und flennten nicht schon die Romantiker, weil ihnen eine blaue Blume vorenthalten wurde?

Mit allen Geschöpfen soll man Mitleid fühlen, nur nicht mit sich selbst? Heißt das Gebot der Nächstenliebe nicht klipp und klar: Bemitleide deinen Nachbarn wie dich selbst? Wäre das kein passgenaues neues Programm für die FDP? Würde jeder sich selbst bemitleiden, wäre für das Mitleid aller gesorgt?

Selbst der Heiland und Erlöser hatte Mitleid mit sich selbst und flehte: Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch dann tat er, was ein Mann tun muss: er ermannte sich und unterwarf sich der männlich-väterlichen Autorität: doch dein Wille geschehe.

Da sollen sie jammern und Trauer tragen, aber als Opfer fühlen dürfen sie sich nicht? Schon gibt’s wieder autoritäre Über-Ich-Blockierungen der anderen Art. Wie kann ich trauern, wenn ich nicht fühlen darf, wie ich mich fühle: als Opfer der Verhältnisse?

Der neue Mann soll schwach sein dürfen, Rotz und Wasser heulen, gleichzeitig stark sein wie ein Amerikaner, der das Schicksal in seiner Brieftasche trägt? Merkt ihr nichts, liebe Brüder? Vorsicht vor feministisch bezahlten Männertherapeuten. Sie wollen euch effeminieren, während gefühlsselige Frauen eiskalt an euch vorüberziehen.

Jeder Mensch ist Opfer seiner Geworfenheit. Welcher Embryo mit ein bisschen Verstand würde, wenn gefragt, sich für gefühlskalte Neogermanen entscheiden? Wie sollte man in der Kultur eines Kreuzesopfers daran vorbeikommen, sich zum folgsamen Nachbild dieses Opfers zu stilisieren?

Wie schrieb ein Alt-68er über das entscheidende Aha-Erlebnis seines revolutionären Erwachens? Erst, als er sich die Erlaubnis gab, sich als Opfer der Verhältnisse zu sehen, errang er die Freiheit.

Woher bezieht die skurrile Männerbewegung ihre haarsträubenden Erkenntnisse? Bislang sollen Mütter die selbstverständlichen Gesprächspartnerinnen ihrer erwachsenen Kinder gewesen sein? Mütter waren dazu da, die Wäsche ihres Abgenabelten so lange zu übernehmen, bis der Infant ein neues Mütterchen fand.

Das defizitäre Gefühlsleben der Männer soll die Kehrseite ihrer abnorm-überheizten Gehirntätigkeiten sein? Müsste man den rationalen Exzess nicht an den Früchten des maskulinen Tuns erkennen? Schon längst müsste die männerbeherrschte Welt im Vorhof des Paradieses angelangt sein, wenn ihre politischen Umtriebe nur zu einem Bruchteil so rational wären, wie ihre Urheber sie einschätzen. Hört, ihr Bubis: Gefühle ohne Verstand sind leer, Vernunft ohne Gefühle taubstumm und blind.

Zurück zum Bundespräsidenten, dessen Autorität man inzwischen geschleift, dessen Persönlichkeit man inzwischen zum Narren hält. Ob zu einem heiligen, werden wir sehen.

Was ist eine Autorität? Eine eminente Person, die bei andern etwas wachsen lassen kann. Wenn es um Wirtschaft ginge, wären alle neoliberalen Wachstumsfanatiker von Natur aus Autoritäten. Das können wir natürlich nicht zulassen und reden lieber von geistigem Wachstum.

Die Figur des heiligen Narren ist völlig untergegangen, obgleich wir sein Spiel in kollektiver Form mit wachsender Begeisterung spielen.

Nicht zufällig ist „Narrativ“ das Lieblingswort der Intellektuellen. Ein Narrativ ist jene Geschichte, die sie uns ständig in unendlichen Variationen erzählen wollen: die Geschichte vom heiligen Narren.

Dessen Tradition gründet im Satz des 1. Korintherbriefes „Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen, und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen.“ (Zwei Traditionen dieses Narren um Christi willen sind bekannt. Der erste Typ spielt nur den Narren, um mit absonderlichem Verhalten Ungläubige zu gewinnen. Eine Art paradoxe Intervention.

Dieser Narr war nicht geisteskrank, er mimte den Verrückten. Sein Repertoire umfasste Hüpfen, Tanzen, Hinken, Torkeln (siehe Käßmann, die trunkene Närrin), verworrene Dinge reden (siehe die Worte-zum-Sonntag-Redner), sich in Lumpen kleiden, in Unrat wälzen (siehe die christlichen Skandaleure) und sonstigen Frohsinn im Herrn. Nachts lebte der Schauspieler Gottes als strenger Beter und Asket.

Der zweite Typ war der wirklich naive und ungespielte Narr wie Franz von Assisi, der zur Narretei fähig war, den Tieren zu predigen. Als ob die Tiere uns nicht allseits überlegen wären und uns predigen müssten.

Darf ein Christ schauspielern um Gottes willen, darf er einen Menschen darstellen, der er nicht ist? Ihm bleibt keine Wahl: „Denn ich halte dafür, Gott habe uns, die Apostel, als die Geringsten hingestellt, wie zum Tode verurteilte; denn ein Schauspiel sind wir der Welt geworden, sowohl Engeln als Menschen.“ (Sie spielen uns ein Schauspiel vor, die Christianer. Das Theaterstück lautet: wir tun, als wären wir zum Tode verurteilt. Als wären wir die Geringsten und Letzten unter den Kreaturen. In Wahrheit sind die Letzten die Ersten, die zum Tode Verurteilten werden das ewige Leben erlangen.

Das ohnmächtige Kind in der Krippe – bei dem Prantl noch immer feuchte Augen bekommt – ist die exzellent gespielte Rolle des Ohnmächtigen, hinter der sich der Weltenherrscher verbirgt. Nichts ist, wie es scheint: der Standardsatz jeder Soap-Opera ist ein neutestamentarisches Inszenierungsdogma.

Christus hat alles Weltliche, Heidnische und Griechische auf den Kopf gestellt. Doch nur zum Schein – aber eindrucksvoll und außergewöhnlich inszeniert. Wenn‘s heute nur so von Inszenierungen im realen Leben hagelt und niemand mehr echten Boden unter den Füßen spürt, hängt es mit dem Theatrum Mundi zusammen, das die Schauspielertruppe von Golgatha für den unheiligen Rest der Welt dauerinszeniert.

Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen, als Jesus allein: so klingt das Drehbuch für die Werbung. Dabei erobern sie die Welt, zerstören die Natur und verschärfen täglich die apokalyptische Beschleunigung.

„Regieren, bis Jesus kommt“, wie der südafrikanische Präsident Zuma predigt. Dreiviertel aller Amerikaner sind überzeugt, die Wiederkehr Jesu zu ihren Lebzeiten zu erleben. Sie spielen Schwachheit, Demut, Edelmoral und Armut, trumpfen aber auf mit Stärke, Reichtum und Gewalt, wie die Welt es noch nie gesehen hat.

Das heilige Theater nennen sie Glauben, um sich sakral zu immunisieren und der politischen Überprüfung zu entziehen. Dabei geht es um gnadenlose Weltherrschaftspolitik, die sich hinter Devotionalien verbirgt. Fundamentalistische Amerikaner, die ihren Kinderglauben nicht mit Vernunftphrasen kontaminieren, haben diese karnevalesken Umtriebe nicht nötig. Ganz sicher aber deutsche Christen, die sich einbilden, gläubig und rational zu sein.

So spielen sie ihre Rollen, als wären sie jemand, der sie gar nicht sind. Nur um sich zu täuschen, dass ihre Rollen echt, ihre Echtheit gespielt und rollenhaft ist. Dem Juden sind sie ein Jude, dem Schwachen ein Schwacher, allen sind sie alles geworden, damit sie alle gewinnen.

Ihr Als Ob kennt keine Grenzen. Jede athletische Marterlrolle ist ihnen auf den Leib geschrieben, die sie vor Gott als Narretei um der Missionierung willen anschreiben dürfen. Sündiget und schauspielert, so viel ihr wollt, nur glaubet. Seid echte oder mimische Narren: nur glaubet. Der Zweck heiligt alle Mittel, nur glaubet.

Nichts ist ausgeschlossen: das Schlimmste und Verworfenste, jeder Kehricht und Abschaum gehören zum Repertoire: „Wie Kehricht der Welt sind wir geworden, ein Abschaum aller bis jetzt.“ (In seinem Roman „Der Narr“ hat Dostojewski das Drama des naiven Narren als imitatio Christi mitten in der heidnischen Welt beschrieben. Dass es eines Tages noch ganz andere Narren in Christo geben wird, die keinerlei Hemmungen haben würden, zum absoluten Abschaum der Welt zu werden, wäre ihm nicht im Traum eingefallen.

Charly Chaplin kam der Sache am nächsten, als er den gottgleichen Führer als Narren spielte. Was er sich selbst nicht vorstellen konnte: die Narretei fiel derart grauenvoll aus, dass der Welt Lachen, Sehen und Hören verging.

Da können wir froh sein, dass Wulff einen harmloseren Narren spielt, den die Nation benötigt, um ihre eigenen Torheiten stellvertretend loszuwerden. Wir erleben die Oberammergauer Festspiele als gesellschaftliches Reinigungsdrama, das keinerlei subjektiven Glauben erfordert, um nachhaltige Wirkungen zu erzielen.

Hinter dem Als Ob theatralischen Fürwahrhaltens in Sanftmut und Lindigkeit steht das harte Dass einer bedingungslos planetarischen Herrschaft. Selig die Sanftmütigen, sie werden das Erdreich gewinnen.