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Tagesmail

Mittwoch, 09. Mai 2012 – Faschismus und Europa

Hello, Freunde Hochhuths,

den Holocaustleugner David Irving hielt er für einen ehrenwerten Mann. Das käme nahe an das Grass’sche Irrlichtern heran, meint der TAGESSPIEGEL.

Sein Stück „Der Stellvertreter“ habe raffiniert von der Schuld der Deutschen abgelenkt, indem es die Verstrickungen des Papstes mit dem Nationalsozialismus dargestellt habe.

Ist es kein Thema wert, die Verträglichkeit des Heiligen mit dem Unheiligen zu zeigen? War der römische Katholizismus kein Teil der Deutschen?

Aus Protest gegen Grass verlässt Rolf Hochhuth mit Aplomb die Berliner Akademie der Künste. Kaum eine Zunft habe den eigensinnigen Dichter so vehement verteidigt wie die der deutschen Künstler und Schriftsteller: ein „Kreis von ideologisch Gleichgepolten“, meint die Zeitung. In Zeiten dogmatisch verehrter Ungleichheiten wahrhaft ein Sakrileg.

Merkwürdig ist, dass die Gleichgepolten in der Öffentlichkeit kaum zu hören waren, Grassens Gegner aber aus allen Weltteilen angekarrt wurden.

In kleinen übersichtlichen Demokratien gibt es das Forum des Marktplatzes, dort kann jeder seine Meinung kundtun. In großen unübersichtlichen Demokratien gibt es kein zentrales Forum, sondern viele Foren, die in den Händen kapitalstarker Privatiers liegen.

Jeder Zeitungsleser muss sich selbst eine Meinung bilden, ob

gewisse Vorgänge „Eins zu Eins“ abgebildet werden. Der Kampf um eine gerechte oder wahre Abbildung der Dinge in den Medien ist eine der wichtigsten Auseinandersetzungen der Demokratie.

Das setzt aber jene Wahrheitstheorie voraus, die von der Mehrheit der heutigen Intelligentsia abgelehnt wird. Die Theorie, dass Wahrheit Abdruck der Wirklichkeit ist.

Abdruck ist Klischee, Klischees aber gelten als verzerrte Vorurteile. Abdruck gilt als Imitation der Realität, Imitationen aber werden von der Moderne verabscheut.

Nicht nur in der Kunst, auch in der Philosophie soll jeder seine eigene, unverwechselbare Realität kreieren. Wenn aber die Medien ihre von Privatiers interessengelenkte Realität in ihren Magazinen nach Belieben hervorbringen, gibt’s dennoch Proteste. Wie reimt sich das?

 

Der jähzornige Arnulf Baring gehört zu den wichtigsten Talkgästen der Republik. Bei Maischberger neben Scholl-Latour Dauergast.

Er ist 80 geworden, hat als Kind den Dresdner Feuersturm mit seiner Großmutter überlebt. War Stipendiat Kissingers in den USA, kehrte zurück und wurde von den 68ern als CIA-Agent nicht willkommen geheißen. Dann wurde er Willy Brandt-Anhänger und ging in die SPD.

Heute ist er da gelandet, wo alle Erfolgreichen hinnavigieren: irgendwo in der Mitte der Talkshows.

Was sagt ein 80-Jähriger? Dass er ein viel schöneres, reicheres und vielfältigeres Leben erlebt hat, als er in seiner Jugend dachte. Eine Generation, aus Ruinen auferstanden, die in die wohlhabendste, freieste und friedlichste Epoche der Deutschen hineinwuchs.

Der bayrische Kabarettist Gerhard Polt, ein Trumm von einem gestandenen Mann, wurde 70 und erzählte, als er mit 10 nach München übersiedelte, sei er in die schönste Stadt der Welt gekommen.

(Nebenbei: warum werden politische Kabarettisten in Interviews nie zu Politik befragt?)

Für Kinder gäbe es nichts Schöneres als – eine Stadt aus Ruinen. Wovon leben heute geborene Kinder, die nicht das Glück haben, eine einzige Ruine zu sehen? Kinderspielplätze werden von Event-Fachleuten so hergerichtet, dass Kinder sie wie halbfertige Abenteuerspielplätze erleben: als künstliche Ruinen, um die Phantasie der Kinder anzuregen.

 

Phantasie scheint etwas zu sein, das von Fertigem und Abgeschlossenem abgestoßen wird, weswegen wir so gern imperfekt bleiben, damit wir uns so herrlich anregend empfinden.

Wir brauchen durchgeknallte Typen, sagen die Vertreter „junger, innovativer“ Firmen oder des „deutschen Films“, die davon leben, dass sie Ideen oder Phantasie produzieren, um Produkte und Filmfiguren zu entwickeln, die die Welt noch nicht gesehen und worauf sie dringlich gewartet hat.

Seitdem die Finanzwelt das Regiment über die Erde antrat und die biederen Produzenten überflüssiger Dinge beiseite schob, hört man nicht mehr so viel von Deutschlands höchster Tugend, der Fähigkeit zu phantasieren.

Für stocksteife, linkische Deutsche ist Phantasie das Zeichen der Genialität, sich etwas vorzustellen, was es noch nie gegeben hat: das Neue und Unerhörte.

Phantasielose Leute begnügen sich mit dem Alten, in dem sie sich biedermeierlich oder entsagungsvoll einrichten.

Bei Aristoteles war Phantasie Wahrnehmung der Realität, wenngleich unabhängig von unmittelbarer Sinneswahrnehmung, reproduzierbar im Denken, in der Erinnerung oder im Traum. Doch solche Gebilde können richtig oder phantastisch falsch sein. Sie hängen von vielen Umständen ab, die die ursprünglich realistische Wahrnehmung verfälschen können.

Die Prüfung, ob Phantasie das Objekt richtig wiedergibt, also wahr ist, „kann nur dem Logos zufallen“, schreibt Max Pohlenz in seinem Buch über die Stoa.

In der Moderne muss die Phantasie jegliche Verbindung zur Realität wie ein ehebrecherisches Verhältnis leugnen. Würde man ihr Reelles nachweisen, wäre sie durch Imitation oder Klischeebildung kompromittiert.

Phantasie muss so frei sein, als kreierte sie alles spontan aus dem Nichts, womit sie sich als gottebenbürtig decouvriert.

Nichts Altes und bereits Bekanntes darf dem Hirngespinst angesehen werden, womit wir elegant ins messianische Fach gewechselt wären. Siehe, das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.

Die Firma mit der innovativsten Phantasiekompetenz ist der Familienkonzern Vater & Sohn, dessen beide Chefs über eine Phantasie verfügen, die nach Belieben Welten aus dem Hut zaubern und wieder verschwinden lassen wie die Illusionisten im Zirkus.

Auch hier sind die Deutschen folgsame Phantasieimitatoren oder Klischeemacher, aber einer ganz bestimmten logos-freien Art. Denn ob das Phantastische, das man sich beim Kiffen aus dem Finger saugt, der Realität standhält, gilt als ketzerische Frage.

Entweder machen die vierschrötigen Germanen Realpolitik mit dem Hammer oder blasen einschrötig Luftballons in den blauen Äther.

Wie heißt der typische Satz phantasievoller deutscher Filme? Richtig: „Hol mir den Regenbogen vom Himmel, Papa“. Wie heißt die typische, aus Amerika übernommene Antwort? Richtig: „Versprochen“.

Bei solchen Phantasmen ist der Logos kein gern gesehener Gast und muss heulend vor der Türe warten.

 

Europa driftet nach rechts. Wirklich? Kann es nicht sein, dass der alte Kontinent nur jene liebreizenden Elemente ans Licht bringt, die schon lange im kollektiven Gedächtnis ihr Unwesen treiben, aber ins Fach des kollektiven Es verdrängt worden waren?

Ein Kontinent ist wie ein Elefant, der nichts vergisst. Mitten in der friedlichsten Elefantenprozession kann es geschehen, dass eine wunderbar geschmückte ehrwürdige Elefantendame die Contenance verliert und einen neugierigen Zuschauer zu Mus trampelt, weil der Bösewicht sie vor Jahren im Erziehungscamp schikaniert hatte.

Man steckt nicht drin in diesen Kolossen. So wenig wie in degenerierten Kontinenten. Wenn man dem Satz der Kausalität folgt – was sich heute in logosfreien und phantasievollen Zeiten nicht geziemt –, könnte nichts driften, es wäre denn nicht schon driftungs-schwanger.

Im Grunde müssten wir froh sein, dass überhaupt etwas driftet. Das wäre ein sicheres Zeichen, dass die pontinischen Sümpfe im Unbewusstsein des Kontinents ausdünsten und sich therapeutisch trocken legen.

Man wundert sich gelegentlich, dass nicht jeder zweite Zeitgenosse auf diese naheliegende und hoffnungsreiche Deutung der politischen Verhältnisse kommt. Denn jeder zweite hat hierzulande schon eine Therapie absolviert, wenn nicht unbedingt auf einer ungemütlichen Ikea-Couch, so doch bei jovialen Desensibilisiern, linguistischen Neuprogrammierern oder positiv denkenden Pilates-Rückendehnungsphysiologen, die dummerweise nicht so viel vom System Unbewusstsein halten.

Doch diese verlockenden Abgründe betreten wir an diesem schönen Sonnentag nicht und wundern uns nur, dass der therapeutische Gedanke hartnäckig Individuen vorbehalten sein soll, hingegen alte Kontinente, aufgeklärte Nationen und vor Wohlhaben strotzende Gesellschaften therapiefreie Produktionsbereiche bleiben sollen.

Was wir für ungerecht halten und flugs ändern, indem wir ein mäeutisch-anamnestisch-driftendes Kontinental-Psychoprogramm (mad-KP) entwickeln.

Da kommt uns der Fall des französischen Faschisten und Schriftstellers Pierre Drieu de la Rochelle wie gerufen.

Allein der Name klingt wie altadliger Minnegesang, was aber bei näherem Hinsehen täuscht. Denn die Minne gilt nur den Eigenen, der Hass den Anderen.

Mit Nietzsches Zarathustra im Tornister kämpfte er als Infanterist vor Verdun gegen die Landsleute Nietzsches, was ihn eigentlich in Gefühlsverwirrungen hätte stürzen müssen.

Später ließ er sich von der deutschen Begeisterung anstecken, wurde Faschist und gab den Glauben an die Demokratie auf, was uns schon ein wenig an die gegenwärtige postdemokratische Bewunderungsbereitschaft erinnert.

Als es den Franzosen nicht gelang, trotz vieler Hitlerbewunderer, einen hauseigenen gallischen Faschismus zu erfinden, begrüßte Drieu (was nicht zufällig wie Dieu klingt, Faschisten sind gottgläubige Menschen) die Kapitulation seines Landes im Jahre 1940. Frankreichs Niederlage sollte die Basis werden für ein neues geeinigtes germanisches Europa.

Zeitgenossen halten die Idee Europa für eine ganz neue Vorstellung der Nachkriegs-Europäer, die die Schnauze von Kriegen voll hatten und für immer auf Frieden machen wollten.

Doch selbst Master-Historiker wissen, dass das Mittelalter ein großer europäischer Dombau war, der von zween Herren kujoniert wurde, die sich so lange um die Vorherrschaft stritten, bis sie beide – ganz schön blöd – unterm Schutt des eingestürzten Domes verschwanden. Der deutsche Kaiser und der römische Stellvertreter Christi.

Gemäß der Zweischwerterlehre kämpften sie verbissen um die Beantwortung der Frage, wessen Schwert dem Himmel am nächsten wäre und die von Gott verliehene Lizenz besäße, um dem andern die Gurgel durchzusäbeln, wenn er nur frech genug wäre, das erste Schwert Gottes zu sein. Zwei erste Schwerter kann es schließlich nicht geben.

Von Geburt an hatte der weltliche Staat in Europa einen schweren Start. Immer musste er sich mit einem anderen, geistlichen Staat herumplagen, der ihm ständig ins Kontor hagelte und seinen lästigen Inkubus spielte.

Kein Wunder, dass der moderne Staat noch heute unter dem Trauma eines aufdringlichen Gottesstaates leidet, der der irdischen Räuberhorde – wie Augustin den irdischen Staat nannte – zeigen wollte, wo der Heilige Geist den Most holt.

Heute ist der Plagegeist, der den Staat ständig ducken, demütigen und vorführen will, nicht mehr der Papismus – obgleich der inzwischen schon wieder mächtig die Trommel rührt, um seine alte Rolle zurückzuerobern –, sondern der Gott des Mammons. Doch Gott ist Gott und der Zaster sein Prophet.

Den modernen Faschismus kann man nicht verstehen, wenn man seine unglückliche Kindheit nicht verstanden hat.

Auch politische Ideologien sind nach unserem mad-KP nichts anderes als Menschen, wenngleich von der Riesengattung Behemoth, die anamnestisch zu verstehen und erinnernd zu therapieren sind. Da beißt kein Soziologe der Maus einen Faden ab.

Die primären Wurzeln des europäischen Elends liegen noch tiefer: im unvereinbaren Gegensatz zwischen der antiken Idee des irdischen Staates, der das Ein und Alles der Griechen und Römer war, die Götter seiner Kavallerie unterstellte und das Schicksal des Menschen allein bestimmte – und der christlichen Idee eines jenseitigen Staates, der die Schwertgewalt über das ganze schnöde und verkommene Menschengeschlecht ausübt.

Was konkret bedeutet, die Popen stehen über den Kaisern und sonstigen Weltregenten. Im direkten Vergleich zwischen dem perfekten Gottesstaat, wo der Auferstandene seine Füße auf die Erde legt, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, wer wen mit denselben tritt, war der weltliche Staat ein jämmerlicher Hellebardenhaufen.

Das merkt man noch heute, wo der oberste Staatsvertreter Wulff sich mit seinem billigen Schloss Bellevue nicht begnügt, sondern wie magisch angezogen in die hell erleuchteten Räume diverser Mammonisten eilt, um ein wenig vom Glanz jenes Erfolgs abzukriegen.

Es muss schon bitter sein, wenn man als oberster Repräsentant des Pöbels sich plötzlich mit Lichtgestalten konfrontiert sieht, die nicht ein Leben lang in verräucherten Hinterzimmern buckeln mussten, um eines ungewissen Tages für ein Appel und ein Ei den Grüßonkel der Nation zu spielen.

Wir sehen, die alte Rivalität zwischen antiker Polis und transzendentem Reich, zwischen weltlichem und geistlichem Staat dringt den Protagonisten noch immer aus allen Poren.

Noch immer sitzen die Vertreter des Himmels mit geistlicher oder ökonomischer Gewalt unseren armen weltlichen Würstchen und Politikern im Nacken, um sie ihres Weges zu führen.

Das ist eine tief schwärende Wunde, die das Baby Europa schon intrauterin von seinen beiden sich feindlich gesonnenen Eltern per genetischer Grundausstattung mitbekam.

Den Faschismus haben wir sofort verstanden, wenn wir ihn als den immer wiederkehrenden Versuch verstehen, diese Wunde auszubrennen und für immer zu heilen, indem er beide Schwerter miteinander versöhnt. Fürst und Papst, Soldat und Priester, weltliches und geistliches Schwert sollten identisch werden und den himmlischen Staat mit dem irdischen in Ewigkeit vereinigen.

Hitler, der Sohn der Vorsehung, wollte den Deutschen die Lichtgestalt von oben sein, die überirdisches Heil und irdischen Ruhm miteinander verband. Das 1000-jährige Reich war das Ende des kläglichen Bruderstreites zwischen himmlischem und irdischem Staat. Der einst auf Erden leidende Messias hatte seine Auferstehung hinter sich gebracht und war mit blutendem Schwert zwischen den Zähnen auf Erden zurückgekehrt, um ultimativ Remedur zu machen.

Der irdische Gottesstaat war keine Originalidee des Christentums. In den vorderasiatischen Weltreichen am Nil und im Zweistromland war jeder Herrscher der oberste Vertreter seiner Götter. Ein Dualismus aus geistlichem und weltlichem Heil wäre undenkbar gewesen.

Platon war längere Zeit in Ägypten und hatte die Idee nach Griechenland gebracht, um seinen perfekten Staat unter Leitung philosophischer Weiser – einer Mischung aus Königen und Priestern – in weit ausholenden Gedankengängen zu entwickeln.

Die Politeia war ein perfekt abgezirkeltes Kleinod auf Erden, beherrscht von Menschen, die das Licht der Erleuchtung erlebt hatten und in tief empfundenem Glück nicht mehr in die irdisch-jämmerliche Erdenhöhle zurückwollten. Allein, sie mussten, um ihren Mitmenschen das Glück weiterzugeben, das sie selber erfahren hatten.

Wie der Galiläer am Kreuz leiden und in die Hölle niederfahren musste, um das Böse in seiner verworfensten Gestalt zu besiegen und allen Menschen das Heil zu bringen, so die Weisen, die die Höhlenmenschen mit einem gerechten Staat zu ihrem perfekten Glück führen sollten.

Die Weisen mussten mittellos bleiben, denn sie wussten, dass Glück aus Einsicht und Gerechtigkeit kommt und nicht aus schnödem Mammon. Das asketische Moment der idealen Herrscher findet man nicht nur bei herrischen Priestern, sondern auch im Privatleben des Führers, das seine Erwähltheit durch schlichte Genügsamkeit bezeugen sollte.

Der ideale Staat war Inbegriff des Guten, dem sich jeder beugen musste. Für den Fall, dass sich Rebellen der Herrschaft der Weisen widersetzen sollten, erfand Platon den Urtypus des KZs, um die Verirrten durch Umerziehung zur Raison zu bringen. Sollte auch die Umerziehung nicht zur erwünschten Gesinnung führen, blieb nur noch der Tod.

Sokrates, Platons Schüler, hätte durch sein freies und kritisches Leben keine Überlebenschance im perfekten Staat gehabt, bemerkte Popper.

Faschismus ist eine verführerische Idee. Er will das Gute für die Menschen, will sie von allen irdischen Makeln befreien und sie zum kollektiven Glück führen. Sollten die Menschen sich dieser Beglückungsidee verweigern, müssen sie dazu gezwungen werden. Faschismus ist das Gute durch Gewalt.

Das abschreckende Beispiel des platonischen Urfaschismus veranlasste Popper, alle Utopien als Zwangsbeglückungen zu verwerfen. Leider war er nicht mehr in der Lage, den Spuren seines geliebten Sokrates zu folgen und eine Verbesserung menschlicher Verhältnisse allein durch demokratisches Lernen und Streiten für möglich zu halten.

Seit seinem Verdikt steht jedes utopische Streben unter Faschismusverdacht. Dabei hätte Popper nur seine Stückwerktechnologie hochrechnen müssen und er wäre nicht gezwungen gewesen, menschliche Zielverhältnisse a priori zu verwerfen.

Das Christentum ist nicht nur durch das Judentum geprägt, sondern auch durch den Hellenismus. Ab Alexander den Großen war das heilige Land von Griechen besetzt, die viele Städte gründeten und ihre griechische Kultur verbreiteten.

Übrigens ohne Gewalt. Die Anziehungskraft der in allen Menschen beheimateten Vernunft verfehlte nicht ihre ansteckende Wirkung.

Platons jenseitige Ideenlehre wurde von den Kirchenvätern als Fleisch vom eigenen Fleisch, als Vorbereitung des Evangeliums anerkannt. Seinen idealen Staat extremisierte Augustin zu einem Gottesstaat, dessen endgültige Realisierung die abendländischen Faschismen auf ihre Fahnen schrieben.

Als zu Beginn der Neuzeit der europäische Dombau in viele Einzelnationen zerbrach, war die Idee Europa nicht tot, sondern verschwand nur von der offiziellen politischen Agenda, bis sie in der Aufklärung allmählich wieder an Deck kam.

Auch die Romantiker entwarfen, ohnehin dem Mittelalter zugeneigt, neue europäische Gesamtperspektiven unter katholischen Vorzeichen.

Doch der unerbittliche Wettkampf der Nationen um Vorherrschaft in Europa und in der Welt musste erst noch zwei furchtbare Weltkriege überstehen, um den Völkern endlich zu zeigen, dass das Zentrum der Welt nicht mehr in Europa lag und der Kontinent bei weiterem Gezänk in der Gefahr war, vollends in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Inzwischen sind die Flitterwochen des neuen Dombaus vorüber. Der eigentliche Gott der Welt, das unendliche Geld, ist erneut dabei, die anfängliche Geschwistersolidarität in frühere Gehässigkeiten und Prahlereien zurückzuwerfen.

Drieu, der schreibende Faschist, dessen Werke ohne nennenswerten Widerstand in die angesehenste Verlagsreihe Frankreichs aufgenommen wurde, zeigt, dass Europa seine Vergangenheit noch nicht losgeworden ist.

Professor Lepenies, der Verfasser des Artikels, verweist noch auf die Gefahren der Rehabilitierung faschistischer Schriftsteller. Auf der einen Seite die alles akzeptierende Position: „Ein Schweinehund? In der Literatur macht das ohnehin keinen Sinn.“ Auf der anderen Seite de Gaulle, der Kunst mit moralischer Verpflichtung verband: „Ein Talent? Das verpflichtet zur besonderen Verantwortung.“

Versteht sich, dass deutsche Schreiber keine Stellung beziehen. Auch Lepenies gehört zur Walsergruppe der Mutisten, die nichts mehr fürchten, als Recht zu behalten. Also bleiben sie stumm und unwiderlegbar.

Mit Verboten wäre hier ohnehin nichts ausgerichtet. Dämonen lassen sich nicht verbieten, sie weichen allein dem Bann der auf der Agora streitenden Vernunft.