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Mittwoch, 06. Februar 2013 – Gnade und Gesetz

Hello, Freunde der Statistik,

etwa 250 000 Jugendliche gelten als versorgt, obwohl sie keine Lehrstelle haben. Davon sind 168 000 im „Übergangssystem“: „Das ist ein Bündel von Warteschleifen, schulischen Nachqualifizierungen und Weiterbildungen, die fast alle ohne Abschluss bleiben und in denen die Jugendlichen auch nichts verdienen. Fast 90.000 Jugendliche sind einfach aus der Statistik verschwunden – darunter befinden sich viele Zuwandererkinder oder schlicht Jugendliche, die es satt haben, im Übergangssystem eine staatliche Ehrenrunde nach der anderen zu drehen.“ Christian Füller, sonst TAZ, heute im SPIEGEL.

 

Harry Nutt hält die Aberkennung des Doktortitels bei Annette Schavan für ein verjährbares Delikt. Die Dame ist oberste politische Wächterin der Wissenschaften in Deutschland. Wie will sie Vorträge über das Ethos der Wissenschaft halten, wenn sie Forschen mit Betrügen für vereinbar hält?

 

Mit 36 Milliarden ist die Bill-Gates-Stiftung die größte private Stiftung der Welt. Allein im Jahre 2011 investierte der reichste Mann der USA 2,5 Milliarden Euro. (Zum Vergleich: Deutschland machte 6,3 Milliarden an Entwicklungshilfe locker.)

Der Sprecher des katholischen Misereor (= ich erbarme mich) hält solche guten Werke grundsätzlich für gut, im Fall der Agrarpolitik hingegen sagt er: Nein. „Problematisch ist die enge Verknüpfung privater Stiftungen mit

Unternehmen, wie im Falle der Gates-Stiftung die enge Zusammenarbeit mit Monsanto“, sagt er. Das umstrittene Unternehmen wolle mit genmanipuliertem Saatgut Hunger und Mangelernährung bekämpfen – und damit auch geschäftlich profitieren.

Für Bill Gates scheint das kein Problem zu sein. „Wir fördern Forschungsprojekte im Bereich der grünen Gentechnik“, sagte er während der Pressekonferenz. Ob die dann eingesetzt werde, sei Sache der Regierungen vor Ort.

Das ist eine seltsame Kritik, besonders von einem Mann der Kirche, die durch Gutestun auch nicht ärmer wird. Wenngleich mit der Strategie des abgenötigten Almosengebens. Die einen verdienen mit kapitalistischen, die anderen mit caritativen Methoden. Mit letzteren wurde die katholische Kirche zur reichsten Grundstückbesitzerin im Mittelalter. Richtig ist, dass mit genmanipulierten Pflanzen den afrikanischen Bauern nicht geholfen werden kann.

(Martin Mühlfenzl, Antonie Rietzschel und Thorsten Denkler in der SZ)

Verschiedene Fragen müssen gestellt werden. Ist Entwicklungshilfe auf Dauer sinnvoll oder fördert sie die Apathie der Empfänger?

Beim deutschen Länderfinanzausgleich beschwören die reichen Geberländer genau diese Gefahr des trägen Bedientwerdens und wollen weitere Zahlungen reduzieren. Würde das Argument stimmen, müsste auch die staatliche Entwicklungshilfe radikal überdacht werden.

Hilfe zur Selbsthilfe war offenbar nur ein schlaues, aber nicht ernst gemeintes Motto. Die Geberländer schwanken zwischen der Unlust, den Säckel weiter zu öffnen und der Angst vor zukünftigen Konkurrenten, die man am besten durch Abhängigkeit an der kurzen Leine führt.

Ist staatliche Entwicklungshilfe besser als private? Angeblich ist staatliche Entwicklungshilfe transparenter als private, genaue Zahlen des jeweiligen Erfolgs aber gibt es nicht. An welchen Kriterien sollte der Erfolg gemessen werden? Das einzig sinnvolle Erfolgskriterium wäre die wachsende Initiative der Einheimischen und ihr wirtschaftlicher Aufschwung. Das wäre aber nicht nur der Erfolg der Geberländer, sondern der Bevölkerung der „Drittweltländer“.

Ist die exorbitant scheinende Nächstenliebe des bekennenden Christen Gates nicht der Beweis der kapitalistischen Überlegenheit über alle anderen Wirtschaftssysteme: je mehr Geld man machen kann, je mehr kann man an Hilfsbedürftige weitergeben – vorausgesetzt, die Milliardäre öffnen ihre Herzen und Tresore? Was sie lange Zeit nicht taten. Jedenfalls nicht als Gruppe.

Der Strom milder Gaben in diesen Ausmaßen wurde erst von Gates initiiert, sein guter Freund Warren Buffet, zweitreichster Mann der USA, schloss sich an. Noch dieser und jener Mogul. Was aus der Kampagne wurde, interessiert offenbar keinen deutschen Korrespondenten, der die Folgen der lautstarken PR-Kampagne einmal unter die Lupe nähme. Die Tagesschreiber haben weder das Bedürfnis, kausale Ketten aus der Vergangenheit herzuleiten, noch die beabsichtigten oder unbeabsichtigten Folgen der Wohltaten zu überprüfen.

Nicht uninteressant wäre die Hilfsbereitschaft jener Mogule, die ihre goldenen Taler (Dollar kommt von Taler) in Politik und Wahlkampf steckten. Adelson, Freund Netanjahus, war der große Geldgeber von Mitt Romney, um Barack Obama am Wiedereinzug ins Weiße Haus zu verhindern. Ohne Erfolg.

Die Probleme lassen sich nicht entwirren, ohne die beiden sozialen Grundmuster des Abendlands im Kontrast zu vergleichen. Gerhard Uhlhorn in seinem Grundwerk „Die christliche Liebestätigkeit“ (1895) spricht von der antiken liberalitas und der christlichen caritas.

Caritas ist die lateinische Übersetzung von Agape, Luther sprach von Nächstenliebe. Agape war ein nicht häufig gebrauchter Begriff bei den Griechen. Zumeist sprachen sie von Filia, Freundschaft, und von Eros.

Eros ist nicht nur Sexualität, sondern auch Zärtlichkeit, geistige Freundschaft, Begierde nach Erkenntnis, Energie des Denkens und Erforschens, Sehnsucht nach dem Guten. Der platonische Eros ist keineswegs „platonisch“ im heutigen Sinne des Wortes: asexuell, sinnenfeindlich.

Sublimieren heißt bei Freud, eine asoziale Triebregung in eine kulturell wertvolle Tätigkeit veredeln und umwandeln. Beispiel: ein Sadist schlägt dem Nachbarn nicht die Zähne ein, wie er’s gerne täte, sondern studiert Zahnmedizin. So kann er seine Quälsucht ins Positive verkehren und den Menschen mit veredeltem Sadismus Gutes tun.

Freud benennt alles mit dem lateinischen Wort Libido = Begierde, Wollust, Maßlosigkeit. Die Wurzel alles Libidinösen sieht Freud in der rohen, triebgesteuerten Sexualität. Auch die ätherische Nächstenliebe entstammt bei Freud dem biologischen Sex und keinem Heiligen Geist, was fromme Christen nicht sonderlich erfreut.

Die Deutschen sagen zu allem Liebe und verwirren ihre labilen Gehirne mehr als sie müssten, wenn sie die einzelnen Phänomene nicht kunterbunt in einen Sack stecken würden.

Die brisanteste Liebe der jüngsten Vergangenheit war der platonische Eros, der von pädophilen Elitelehrern – etwa in der Odenwaldschule – benutzt wurde, um ihre Macht über SchülerInnen in sexuell abgenötigte Dienstleistungen zu verwandeln. Ergebnis: das Odenwald-Institut ist bis zum heutigen Tag unfähig – oder unwillens –, seinen Augiasstall auszumisten.

Man darf nicht vergessen, dass einflussreiche Eltern und Intellektuelle offenbar kein Interesse haben, die Ursachen des Skandals effektiv aufzuarbeiten. Schon die frühen Versuche verschiedener Eleven, den Skandal an die große Presse zu bringen, scheiterten an der so genannten „protestantischen Mafia“, zu der die damalige ZEIT-Verlegerin Gräfin von Dönhoff gehörte, die ihren früheren adligen Gutsnachbarn aus Ostpreußen Hartmut von Hentig auf keinen Fall einem öffentlichen Shitstorm aussetzen wollte. Hentigs schwuler Freund war zufällig der langjährige Leiter der Odenwaldschule und der eifrigste, fast allmächtig agierende Knabenschänder im Vorzeigeinstitut der Reformpädagogik.

Zeitweiliger Vorsitzender des Elternbeirats war ein gewisser Richard von Weizsäcker, dessen Sohn Schüler des Internats war und – nach eigenem Bekunden – von nichts gewusst haben will. So wenig wie das große intellektuelle Vorbild der freiheitlich gesonnenen Reformpädagogik Hartmut von Hentig, der inzwischen in der Versenkung verschwunden ist.

Nur nebenbei: fast alle großen alten Männer der BRD sind unrühmlich in der Versenkung verschwunden. Außer Helmut Schmitt gibt es keinen alten Herrn, der der Öffentlichkeit noch was zu sagen hätte. Eine Riege der Weisen existiert nicht.

Deutsche Hoffnungsträger beginnen fast immer jugendlich revolutionär und enden in den Armen jener alten Mächte, die sie als Jugendliche abservieren wollten. Zwischen 16 bis 18 aufmüpfig, ab 25 promoviert, ab 30 habilitierender Sklave eines professoralen Gottes, ab 40 – wenn’s gut gegangen ist – ein weiterer Gott im bundesrepublikanischen Polytheismus und nebenberuflicher Politberater für ZDF und ARD.

Nehmen wir nur die alten einst knorrigen SPD-Granden wie Eppler, Vogel, die allesamt den neoliberalen Aufweichungskurs eines Herrn Schröder absegneten. Erhard Eppler wurde von Schröder extra zum Parteitag einfliegen lassen, um dem hartnäckigen linken Kritiker Othmar Schreiner die Leviten zu lesen. Mit Schlägen unter dessen persönliche Gürtellinie. Es gab so gut wie keinen nennenswerten Widerstand gegen Schröders Hetze gegen die faule Unterschicht, die nichts könne, als dem Staat auf der Tasche zu liegen. (Große Ausnahme Albrecht Müller.)

Aufklärer Habermas machte mit Ratzinger seinen Frieden. Alexander Kluge wurde zum skurrilen Oberlehrer Lämpel. Grass unterstützte den Schröderkurs. Die Figur des großen alten Weisen wurde von den Medien begraben, die keine Konkurrenz ihrer Unvergleichlichkeit duldeten.

Weisheit war für Platon die Frucht des Eros, der mit sinnlicher Sexualität in der Jugend beginnt, mit zunehmendem Alter und gesättigten Körperbedürfnissen sich immer mehr den wichtigen Wahrheitsfragen zuwendet: Was ist der beste Staat? Was ist Gerechtigkeit? Wie kann man mit dem Tod mitten im Leben umgehen? Wie ideal ist der Kosmos? Ist die Seele unsterblich? Wie kommt Erkenntnis zustande? Was ist ein echter Dialog? Was unterscheidet Rhetorik von Dialektik, der philosophischen Gesprächskunst?

(Heute gibt’s nur noch Rhetorik als Ableger der protestantischen Kanzelrede: eine einzige Rede unter der sichtbarlichen Wirkung eines charismatischen Furioso – und du bist Kanzlerkandidat der SPD. Kanzel und Kanzler werden in allen Parteien als Synonyme verstanden.)

Ist der platonische Eros eine Sublimierung à la Freud? Nein, die körperlichen Bedürfnisse sollen jederzeit befriedigt werden, sodass der reife Mensch von verdrängten sexuellen Bedürfnissen nicht mehr belästigt wird.

Bei Freud muss der erwachsen werdende Abendländer ständig psychische Kraftakte verüben, um die rohen Triebe auf ein höheres Niveau zu hieven – immer in der Gefahr, die sublimierte Hülle zu verlieren und ins „Tierische“ zurückzufallen.

Das Abendland ist übersexualisiert, weil es untersexualisiert ist. Hungrige, die sich nie richtig satt essen dürfen, leiden unter ständigen Hungerattacken. Man denke an den Jojo-Effekt der Gewichtsreduzierer: immer zu viel, immer zu wenig. Wer mit seiner irdischen Körperhülle in religiös geschädigter Beziehung steht, kann sein subjektives Maß nicht erkunden und lernen. „Schon seid ihr satt geworden,“ beschimpft der Völkermissionar die Gemeinde in Korinth. ( Neues Testament > 1. Korinther 4,8 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/4/“>1. Neues Testament > 1. Korinther 4,8 / http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/4/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/1_korinther/4/“>Kor. 4,8)

Befriedet sein in sündiger Natur ist Blasphemie, weil die Bedürfnisse nach einem Gott umso mehr sinken, je mehr der Mensch sich hienieden seines Lebens erfreut. Hungern und dürsten soll man in frommen Kreisen einzig nach dem Jenseits und jenseitigen Tugenden. „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“ Sie werden im Jenseits gesättigt werden.

Auf Erden bleiben alle Bedürfnisse unbefriedet, müssen aber tun, als ob ihre Himmelspeise die wahre Sättigung ihrer unendlich scheinenden Bedürfnisse wäre. Weshalb der Kapitalismus unendlich wachsen muss, damit die Christen auf Erden nie auf ihre Kosten kommen. Sie sollen au fond unbefriedigt bleiben, damit sie der verlockenden Seligkeit Gottes lebenslang hinterhecheln.

Das Geheimnis des Kapitalismus ist: der Mensch kann auf Erden nicht gesättigt werden. Seine Bedürfnisse sind unendlich. Doch er muss tun, als ob durch unendliche Progression des Angebots die maßlose Nachfrage gestillt werden könnte. Es ist wie bei jenem Hund, dem man die Bratwurst vor die Nase hängt, die er nie erreichen wird.

Irdische Bedürfnisse können irdisch nicht gestillt werden. Das sagte schon SPD-Schiller in einem Interview mit Friedrich Nowotny, der ihn fragte, wie viele Bedürfnisse der Mensch befriedigen müsse? Antwort: Herr Nowotny, unendlich viele. Woran wir erkennen, dass die SPD noch nie eine ernsthafte Alternative zum Kapitalismus hatte. Alles, was sie will, ist, die schlimmsten Übertreibungen der unausrottbaren Raffgier ein bisschen zu mildern. Thats all.

Was ist die Parallele zwischen dem Pädophilen- und dem Sexismusskandal? Jeder Skandal wird im christlichen Deutschland dadurch gelöst, dass Eros und Sex gestaucht werden. Vom platonischen Eros darf heute niemand mehr sprechen, will er sich nicht dem Verdacht einer verborgenen und krankhaften Neigung zu Jugendlichen aussetzen. Der Eros ist spurlos vom Erdboden verschwunden.

Desgleichen die galante Kunst erotischer Annäherungen, das reizvolle Tändeln der Geschlechter. Über Sex darf öffentlich nicht mehr gesprochen werden, was die Pornoindustrie hoch erfreut.

Wir nähern uns amerikanischen Verhältnissen, wo jeder Lehrer seine Tür offen lassen muss, damit jeder Vorbeikommende überprüfen kann, ob er sich beim Gespräch mit Schülern und Schülerinnen nicht mit der Hand verirrt. Zu zweit Fahrstuhl fahren – undenkbar. Wer gerne mit Kindern spielt, macht sich fast schon der Pädophilie verdächtig. Setz dich auf eine Bank am Spielplatz und schau versonnen den Kindern zu. Die Mütter werden dich unfreundlich mustern.

Jeder ist verdächtig, jeder ein verborgener Triebtäter. Jeder ist dem andern ein appetentes Raubtier – die allesamt auf dem Boden christlich-abendländischer Grundwerte stehen. Christliche Agape heißt, all diese Raubtiere zu lieben, als seien sie deine besten Freunde, wohl wissend, dass sie deine Feinde und Gegner im Kampf um die wenigen Himmelsplätze sind.

Haben wir uns verfranst? Sind wir vom Thema abgekommen? Eigentlich nicht. Es ging um Liebe. Alle beschriebenen Phänomene können als Regungen der Liebe – zum Kind, zur Sexualität, zum Erfolg, zum Menschen im Allgemeinen und Besonderen – definiert werden. Die Deutschen unterscheiden nicht zwischen Eros, Sex, Freundschaft und großzügiger Philanthropie. Alles wird zum Einheitsbrei verrührt, entweder als Nächstenliebe verklärt oder als frevlerische Triebregung verdammt.

Das Phänomen erotischen Wissenwollens gibt es in der Nächstenliebe nicht. Im Gegenteil, die Weisheit der Welt ist vor Gott eine Torheit. Freundschaft kann keine echte Liebe sein, weil sie auf „egoistischer“ Gegenseitigkeit beruht. Sexuelle Regungen sind verwerfenswert, wenn sie nicht zum Zwecke der Zeugung im kirchlich abgesegneten Raum betätigt werden. Libidinöse Gedanken sind des Teufels, geschweige offene Gesten des Begehrens.

Allzu oft fühlt sich im Geschlechterkampf das schwächere Geschlecht besudelt, wenn es sich begehrt – oder von einem Falschen begehrt fühlt. Auch wenn Machtverhältnisse keine Rolle spielen.

Was ist der große Unterschied zwischen der demokratisch-antiken liberalitas und der christlich-apolitischen caritas?

Der emotionale Kern einer stabilen Demokratie war nüchterne Freundschaft, keine überkandidelte Himmelsliebe. Die soziale „Liebe“ der Athener wollte Benachteiligten und Notleidenden mit politischen Gleichheitsgesetzen Hilfe leisten.

Die politikfeindliche Agape hielt das Ansinnen einer Bedürfnisbefriedigung auf Erden für Sünde wider den Geist. Almosengeben als materieller Liebesakt durfte keine Sättigung im irdischen Leben, keine grundsätzliche Abschaffung von Not und Armut beabsichtigen.

Demokraten mussten Gesetze erlassen, um nach Regeln der Gleichheit und irdischen Gerechtigkeit die sozialen Ungleichheiten der Polis auf ein Minimum zu reduzieren. Christen hatten keine irdische Gerechtigkeit, sondern die Gerechtigkeit Gottes zu erbitten, eine Metapher für die exklusive Erlöserschaft des Herrn.

Demokraten suchten durch rationale Gesetze den gleichen Wert aller Bürger in Realität umzusetzen. Der christliche Gott kennt keine Gleichheit unter seinen Kreaturen – außer der Gleichheit der primären Sünde, die durch einen willkürlichen Gnadenakt in Heiligkeit verwandelt werden kann.

Gesetz gegen Gnade. Rationale Allgemeinheit und Gleichheit gegen irrationale Gnadenwahl und selektive Erwählung.

Bill Gates Almosenprinzip folgt seinem subjektiven Selektionsprinzip, das sich vor keinem gewählten Parlament verantworten muss. Gates kann sich fühlen wie der Töpfer im Römerbrief: Also erbarmt sich Gates, wessen er will und verwirft, wen er will. Oh Demokrat, jawohl, wer bist du, dass du mit Bill Gates rechten willst? Wird etwa das Gebilde zum Bildner sagen: Warum hast du nur mir in Somalia geholfen und nicht meinem verhungernden Bruder in Kenia? Oder hat Bill Gates nicht Macht über seine Milliarden, den einen zu helfen und die andern verhungern zu lassen?

In christogenen Demokratien gilt das Liebesgnadenprinzip als etwas unvergleichlich Sittlicheres denn ein „unpersönliches“ Gesetz. Weil es um persönliche Liebe gehen soll und nicht um Egalisierung ohn Ansehen der Person.

Wer nach dem Prinzip der Gleichheit behandelt wird, fühlt sich wie ein verwechselbarer Klon des Staates, der seine Untertanen nach Schema F behandelt. Wer auf die Liebe eines Gottes hoffen darf, empfindet sich wie eine einmalige Persönlichkeit. Der Gott der Liebe ist keine Gleichheitsmaschine, sondern ein persönlicher Gott, der dich „bei deinem Namen gerufen hat“.

Gnadenliebe kennt nur unverwechselbare Namen, Gleichheit nur verwechselbare Nummern. Gnade ist unvergleichlich, unberechenbar, einmalig und entzieht sich der Vernunft. Gleichheit ist berechenbar, langweilig-rational und öde zuverlässig. Gnade erfindet sich ständig neu, Gleichheit hält fest am Alten, das sich bewährt hat.

Sloterdijk wollte Steuern nach dem willkürlichen Liebesprinzip verteilen – um von den Liebesobjekten wiedergeliebt zu werden. Ein Staat ist ein kaltes Monstrum, zu keiner sympathischen Gefühlsregung fähig. Die Christen hassen den Staat – besonders in Amerika –, weil er ein heidnisches Vernunftprodukt ist.

In westlichen Demokratien kämpfen zwei unverträgliche Prinzipien um Sein oder Nichtsein: politische liberalitas und apolitische caritas.

Juden erfüllten die Werke des Gesetzes, um sich die Akzeptanz des Herrn durch nachweisbare Leistungen zu verdienen. Christen sind kreatürliche Bankrotteure und sind zu keiner Leistung fähig. Sie verabscheuen das Prinzip Gesetz und verlassen sich aufs Betteln um Gnade. „Jetzt aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart worden. … So halten wir nun dafür, dass der Mensch durch den Glauben gerechtgesprochen werde ohne Werke des Gesetzes.“

Ein gerechter Staat besteht aus Gesetzen, die für alle Menschen gleich sind. Wenn jeder Mensch dem andern gleicht, ist er kein namenloses Rädchen einer seelenlosen Maschinerie. Der gleiche, einmalige Mensch sagt seinem gleichen unverwechselbaren Mitmenschen: In Dir erkenne ich mich. Wir sind unverwechselbar. Denn wir sind gleich.