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Tagesmail

Mittwoch. 04. April 2012 – Gekaufter Geist

Hello, Freunde der Frauen,

15 Millionen Tonnen Treibhausgase und 60 000 Tonnen Ammoniak würden die Deutschen weniger in die Luft jagen, wenn Männer sich wie Frauen ernährten. Männer brauchen Fleisch, um groß und stark zu werden. Kann man sich ein männliches Firmenessen mit Brokkoli und Kopfsalat vorstellen?

Sollte es etwa damit zusammenhängen, dass Frauen der Natur näher stehen und Männer die weibliche Natur gern in Form von verinnerlichten Steaks und Salami idolisieren?

Eine Finanztransaktionssteuer wird es in Europa nicht geben. Auch nicht in Form einer Börsenumsatzsteuer. Irgendjemand ist in der EU immer dagegen. Diejenigen, die dafür sind, wollen keinen Alleingang, weil sie Abwanderung der großen Gelder fürchten. Die Spekulanten haben sich durchgesetzt, die Politik gibt sich geschlagen.

Was ist Spekulation? „Das spekulative Denken besteht nur darin, dass das Denken den Widerspruch festhält. Das Spekulative ist das Vernünftige, das gedacht wird. Eine Erkenntnis der spekulativen Philosophie ist, dass die Freiheit das einzig wahrhafte des Geistes sei. Das spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion.“

Wenn die Spekulanten sich durchsetzen, hat sich die Freiheit des einzig wahren Geistes durchgesetzt, die

den unhaltbaren Zustand beendet, dass Gelder in entgegengesetzten Händen liegen und sie zur Einheit der eigenen Hand synthetisierte, die zugleich dem Wissen der offenbaren Religion entspricht, wonach alle Reichtümer der Welt von Gott ausgehen und wieder zu ihm zurückkehren.

Wie konnte im Lande Hegels das Ungeheure geschehen, dass ein badischer Finanzminister den Nachfahren des schwäbischen Dialektikers das spekulative Handwerk legen wollte – und keine philosophische Fakultät schritt dagegen ein?

 

Die neue Partei der Piraten will mehr Transparenz in die Gesellschaft bringen. Da sie erfolgreich FDP und Linke überrundet hat und bereits an den Grünen nagt, wird sie endlich ernst genommen, indem sie von verschiedenen Seiten attackiert wird. Das Junggemüse würde die Republik infantilisieren, die Netzautisten spielten die Rolle der Ignoranten und Argumenteverweigerer.

Nun tritt ein veritabler Denker auf und wirft ihnen vor, das Prinzip Transparenz zum Fetisch der Gegenwart zu machen. Transparenz, so der Philosoph mit dem chinesischen Namen, sei ein systematischer Zwang zur Selbstentblößung, zur pornografischen Distanzlosigkeit.

Das führe zu einer Gesellschaft des Geständnisses, der Ausleuchtung, der Entpolitisierung. Ohne Geheimnis aber könne es keine Macht, keine Liebe, kein Vertrauen, keinen Respekt, keine Lust geben. Statt in der „klassischen Öffentlichkeit“ befänden wir uns in einer Art Intimgesellschaft.

Oh, was ist eine Intimgesellschaft ohne Lust? Verpixelt schnell die Fotos unserer allzuöffentlichen PolitikerInnen. Wie kann man sich nur schamlose in täglichen Pornoorgien ablichten lassen? Ein Kopftuchzwang für sexy Angie wäre schon mal ein Anfang. Oder wie wär‘s mit einer Gesamtkörperburka mit Gesichtsschleier, dass wir ahnen dürfen, ob wir’s mit Frau Schavan oder Herrn de Maiziere zu tun haben?

Schwieriger wird’s mit der Camouflage bei Rollstühlen. Ob auch die Originalstimmen verfremdet werden sollen, darüber berät das Kabinett noch.

Wir brauchen mehr Geheimnisse in der Politik, dass wir unsere Regierung wieder lieb haben und respektieren.

Der Verfassungsschutz hat die gesamte erste Auflage des Buches von Byung-Chul Han aufgekauft und an seine Mitarbeiter verteilt. Die Geheimniskrämer fühlen sich angenehm verstanden und wollen das Prinzip der Geheimhaltung verschärfen, um Liebe und Lust unter die überwachten Bürger zu bringen. Nur eine Kleinigkeit monierten die Herren mit den Schlapphüten: das Büchlein habe das Prinzip ihrer Arbeit – Intransparenz – allzu transparent in die distanzlose Öffentlichkeit gebracht.

 

Weg mit der subventionierten Kultur, sprengt die Oper in die Luft – forderte der französische Dirigent Pierre Boulez in der unruhigen Zeit der 68er. Mit paradoxem Erfolg. Kein Kurstädtchen heute ohne Oper, keine rußige Industriestadt ohne Technik- und Kunstmuseen, Filmfestivals, Pop-Hochschulen und Konzertzyklen.

In Freiburg werden heuer alle Bach-Passionen gegeben zu Preisen, die Hartz4-Abstauber blass werden lassen. Am liebsten würden sie das Weihnachtsoratorium in Kooperation mit Tausenden schwimmender Entchen auf der Dreisam aufführen. Lauscht man verbotenerweise den Gesprächen fitter Großmütter auf Spielplätzen, hört man nur graumeliertes Rauschen in höherem Chor: warst du auch im Konzert X mit Sängerin Y?

Wenn Kultur nur zu einem Bruchteil so gesellschaftsverändernd wäre, wie wir‘s von gutbezahlten Oberkulturfunktionären zu hören bekommen, müsste Freiburg bei seiner explosiven Kulturdichte schon mehrere Male in die Luft gesprengt worden sein. Dabei gibt es keine gesättigtere City in der Gemütlichkeitsfalle als das Gemeinwesen der rasenden Radfahrer und vergilbten Ökoweltmeister.

Kommt jemand auf die Idee, subversive Flugblätter vor dem Theater unter die erlesene Menge der Beflissenen zu verteilen, hört er zu 69,9%: Das brauch ich nicht. Flugs erscheint eine wütende Hochkulturbeamtin, um die Störenfriede davonzujagen. Wenn das nicht hilft, assistiert eine stets verständige Polizei, die einem erklärt, man stünde auf städtischem Gelände und das sei für „Werbezwecke“ verboten.

Die so genannten öffentlichen Plätze sind längst im Dienste des städtischen Gewerbeamts virtuell einkaserniert.

Dasselbe hochgestimmte Publikum, das eben noch den berühmten Politsatiriker feierte, geht übelgelaunt an den ortsansässigen Provokateuren vorüber.

Werden den Theater-Musen Etatkürzungen angedroht, machen sie stande pede „Projekte“ mit Schulklassen aus Migrantenvierteln oder mit Latzhosen-Arbeitslosen in „Wilhelm Tell“, und die Bedeutung der Ästhetik ist für die nächsten beiden Jahre gesichert. Wenn das nicht hilft, dürfen die ProtagonistInnen in La Boheme transparent oder entblößt auftreten und der für Kultur zuständige OB-Stellvertreter gibt sich entzückt-empört.

Die Lokalpresse freut‘s, wenn auch die Provinz mit Possen und Leserbrieflawinen von bis zu vier Wochen aufwarten kann, von denen die meisten mit dem obligaten Satz beginnen: Ich bin entsetzt.

Die schwer malochenden deutschen Ästhetiker imitieren die Feuilleton-Abteilungen der Presse bis aufs I-Tüpfelchen, schließlich sind sie von deren Gnaden abhängig.

Kommt eine neoliberale Hochflut übers Land, hält man sich bedeckt und spricht Sätze wie die folgenden: Diese klassenkämpferischen Symbolgesten sind doch von gestern, wir brauchen Stücke, die den Menschen zu ganz neuen Perspektiven verhelfen: Warum bin Ich Ich und nicht ein anderer?

Rollt die Finanzkrise übers Land, schwupps, werden die verstaubten Brechtsongs aus dem Archiv geholt: Eine Bank berauben ist nichts gegen die Gründung einer Bank. Das von Abstieg bedrohte Mittelstandspublikum applaudiert frenetisch: endlich jemand, ders Maul aufmacht. Darauf die Zauberflöte als Leckerli für das treue Stammpublikum.

Man kann es auch kurz sagen. Wenn vier Experten in einem neuen Buch von Kulturinfarkt sprechen, es gebe von allem zu viel und stets das Gleiche, die Hälfte aller Musentempel müsse geschlossen werden, sollte man fragen, wieso nur die Hälfte?

Es ist eine Crux für Musiker und Tragöden, wenn die ganze Welt dem zukünftigen Neuen in den Rachen schaut und sie müssen zum 1000sten Mal Minna von Barnhelm und Händels Messias auf Originalinstrumenten zum Besten geben. Damit der Blick zurück im Zorn nicht auffällt, wird ein wenig Mummenschanz mit Regisseuren getrieben, die vor kreativen Einfällen nicht laufen können und einen Schiller mühelos wie ein in Szene gesetztes Drehbuch nach Henry Miller ausschauen lassen.

Womit wir wieder bei der Spekulation als Einheit des Unverträglichen wären. Je mehr die Modernisten nach vorne schauen, desto mehr lieben sie Ausstellungen für Oldsmobiles oder beglaubigte, uralte Antiquitäten. Momentane Hits sind detektivische Untersuchungen zum Stammbaum oder etymologische Entschlüsselungen des Familiennamens, mindestens bis ins Mittelalter zurück.

Dass der ganze Kulturbetrieb ein Zuschussunternehmen für eine kleine Elite ist, wird gekontert mit dem müden Schulterzucken: War‘s nicht immer so, dass Geist elitär ist?

Nö, in Athen nicht. Da saß das ganze Sklavenhaltervolk gebannt auf den Stufen des Amphitheaters, um die besten Tragödien und Komödien zu küren.

Die ästhetische Religion der Deutschen begann, als sie mit der Revolution scheiterten. Also verlegten sie das Remmidemmi auf die gut geheizte Bühne. Schillers Räuber wurden im Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt, der Verfasser musste sich eine Zeitlang im rechtsrheinischen Oggersheim verstecken, wo 200 Jahre später Helmut Kohl seinen Bungalow baute, woraus wir erkennen, dass Schillers Präsenz auf vorderpfälzischem Boden Früchte trug.

Schillers Ästhetik wollte Politik ursprünglich nicht verdrängen – oder doch? Der von der Französischen Revolution Enttäuschte begann, aller Politik zu misstrauen und wollte den Neuen Menschen auf der Bühne als moralischer Anstalt aus dem Ei springen lassen.

Der Neue Mensch ist zu Unrecht wegen totalitärer Geburtsumstände in Verruf geraten. Es soll schon neue Menschen gegeben haben, die nicht in stalinistischen Laboren gezüchtet worden sind. Schillers Friedrich zum Beispiel. Oder Georg Elser, Hitler-Attentäter, von dem nicht bekannt ist, dass er seinen Mut gegen den Tyrannen bei einem Theaterbesuch von Don Carlos entdeckte. Dass Menschen sich über Lernen und Einsicht verändern, ist unserer lebenslang lernenden Arbeitsgesellschaft nicht vermittelbar.

Was wollte der aufrechte Schwabe, der sich nach jugendlicher Sturm- und Drangphase in die Obhut seines großen Freundes und Gönners nach Weimar begab? Kants Pflichtbegriff wollte er durch Neigung ergänzen, dessen säuerliche Einseitigkeit korrigieren. Der unbeweibte Königsberger hatte eine Vorstellung von Moral wie viele moderne Basislinke von politischem Engagement: das tut man aus Pflicht, nicht aus Spaß.

Was Spaß macht, kann nichts taugen, weshalb die Spaßgesellschaft spätestens ab 9/11 ihren Geist aufgab, damit wir wieder, zum Beispiel am Hindukusch, zur sauren Pflicht des Kriegemachens zurückkehren und tote Helden auf Katafalken heimführen dürfen.

Spaß nannte Schiller Neigung und versöhnte Pflicht und Neigung zur Harmonie – der Persönlichkeit natürlich, nicht der Harmonie der Verhältnisse. Doch wenn ein Mensch allzu harmonisch ist, hat er keine Neigung mehr zur Pflicht, sich auf die Straße zu begeben, wenn Pflastersteine fliegen.

Die Ästhetik sollte den sinnlichen Menschen vernünftig, den vernünftigen Menschen sinnlich machen, weshalb findige Berliner zuerst Salsa tanzen, dann Platons Symposion lesen und anschließend vor das Brandenburger Tor ziehen, um aggressive Bienenvölker gegen die Ausbeuter zu hetzen.

Als nach 1848 alle revolutionären Blütenträume zerstoben, weil preußische Soldaten die letzten Aufmüpfigen in Südbaden nach Frankreich und England vertrieben – unter ihnen ein Friedrich Engels – kam die Ästhetik in asthmatische Schwierigkeiten, die sie durch biedermeierliche Anpassung an Bismarck’sche Verhältnisse – oder durch wagnerische Extremismen ins Messianische zu lösen versuchte.

Aus der moralischen Anstalt wurde eine musikalische Erlösungsmesse mit Heiligem Gral und gottgesandten Führern, weshalb im Linzer Theater ein junger Adolf Hitler sich zum staatlich anerkannten Führer der Deutschen ausbilden ließ. Bayreuth wurde zur zentralen Pilgerkapelle der Nazigrößen, die alles andere als Kulturbanausen waren und sogar in Auschwitz nicht auf ein Orchester verzichten wollten.

Heute grassiert der törichte Spruch, Kultur und Bosheit schlössen sich aus. Wie konnte Heydrich dann ein Bach- und Mozartliebhaber sein? Auch Platon schloss nicht alles Schöne aus, sondern nur das verweichlichende, polis-bedrohende Schöne, gewisse Tonarten oder den Homer, da er die Götter durch den Kakao zog und so die Fundamente des Staates gefährdete. Welche Tyrannei verzichtet auf Fanfarenklänge und gigantische Chorgesänge der Massen?

Doch wozu brauchen wir heute noch Kultur? Antwort des gut katholischen Wolfgang Thierse: um „soziale Exklusion“ zu bekämpfen, also als dienendes Instrument der Sozialarbeit.

Heftiger Protest des SZ-Feuilletonisten Thomas Steinfeld: „Kultur, das war immer auch das Gegenteil von „sozialer Inklusion“. Sie war Bosheit, sie war Widerstand, sie war Verweigerung, sie war weder dem Gemeinwohl verpflichtet noch demokratisch.“

Damit hat sich das Blättchen gewendet, Steinfeld – und fast alle seine Kollegen – sind zu Antagonisten von Schiller geworden. Dort sollte das Gute durch Harmonisierung von Sinnlichkeit und Vernunft entstehen.

Heute soll die Bühne frei sein zur Darstellung alles Schrecklichen. Vernunft wurde ausgetrieben, Sinnlichkeit erhielt eine aparte sadomasochistische Note. Doch zu welchem Zweck, Herr Steinfeld? Wollen die Spießer etwa das Böse von der Bühne in die Gesellschaft herniedersteigen sehen? Da sei Gott vor. Da müssten sie ja vom Verfassungsschutz als potentielle Terroristen observiert werden.

Was aber dann? Dann Aristoteles: durch projektive Ersatzhandlungen soll das Publikum kathartisch von seinen üblen und verdrängten Gefühlen befreit werden. Ist das denkbar? Nach Freud durchaus. Ich reinige mich von meinen asozialen Triebregungen durch Erinnern und Bewusstmachen. Kinder brauchen böse Märchen, um ihre bösen Phantasien unter Kontrolle zu kriegen, schrieb Bruno Bettelheim in einer ausführlichen Untersuchung.

Halten wir fest: die Darstellung des Guten auf der Bühne ist nicht mehr fähig, Gutes zu bringen. Die Vorbildwirkung des Tugendhaften ist vorbei. Bleibt noch die Darstellung des Bösen zu therapeutischen Zwecken.

Einmal unterstellt, das würde funktionieren, müssten wir Steinfeld & Co nicht sofort rehabilitieren? Dann wären sie nämlich keine Gegner Schillers, sondern seine treuen Erben – allerdings mit konträren Mitteln. Alles bestens also?

Überhaupt nicht. Warum gibt es dann – horribile dictu – keine Theaterstücke, Bücher und Gedichte, wo das wirklich Böse dargestellt wird: das Böse des Dritten Reiches? Warum wird jede böse scheinende Äußerung sofort wegen Antisemitismus in die Hölle verflucht?

Warum ist Walsers Buch „Der Tod eines Kritikers“ fast einhellig von deutschen Profi-Ästheten als antisemitische Missgeburt verdammt wurden? Wie könnte zwischen therapeutischer und aggressiv-vergiftender Absicht unterschieden werden? Warum wurde Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ sofort wegen antisemitischer Umtriebe vom Spielplan genommen?

Elementarste Fragen werden von den doppelbödigen Kritikern gar nicht gestellt. Sie begnügen sich mit einem pubertierenden Blick durchs Schlüsselloch und halten sich für heldenhaft, wenn sie der Versuchung des weit entfernten Bösen widerstanden haben. Was aber, wenn das dargestellte Böse auf weniger Gefestigte keine kathartischen Wirkungen hätte – sondern stimulierende und aufhetzende?

Das mangelnde Theoriebewusstsein ist Ausdruck einer gestorbenen Kultur, die nicht mal in der Lage ist, sich selbst abzuschaffen. Alle Kultur kam bislang aus dem Volk, wurde durch eine geerdete Mittelschicht aufgenommen und „veredelt“. Ohne bäuerliche Voralpenmusik ist Mozart nicht denkbar.

Die herrschende Kultur ist keine Herzenssache ökonomischer Eliten, die die Musentempel so unberührt verlassen, wie sie sie betreten haben. Was interessiert einen Sparkassendirektor die Liebesglut einer feurigen Spanierin oder die psychischen Nöte einer Pariser Edelnutte? Sie tragen Kultur wie eine Rolex oder ein kleines Schwarzes von Lagerfeld.

Die hochsubventionierte Kultur ist zum geistlosen Abgrenzungs- und Ausschlussmittel derer geworden, die sich mit gekauftem Geist vom abgehängten Pöbel unterscheiden wollen.