Kategorien
Tagesmail

Maß und Ziel

Hello, Freunde der Krim,

ist der Konflikt um die Ukraine lösbar? Wie sollte er lösbar sein, wenn die Weltvölker kein Ziel haben?

Probleme sind nicht dazu da, gelöst zu werden. Wir richten uns ein. Gibt es keine Koordinaten im endlosen Universum, weiß niemand, wo wir stehen und wohin wir gehen. Die nächsten Schritte aus dem Desaster könnten nur getan werden, wenn wir wüssten, wohin wir uns wenden sollen.

Die kleinste Reform hängt vom großen Ziel ab, damit die „Richtung stimmt“. Ein Lieblingssatz der Politiker lautet: Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Woher wissen sie das, wenn sie jedes Ziel negieren?

Doch halt! Ziel? Die Menschheit darf kein Ziel haben. Ziel ist Paradies, und Paradies ist Langeweile und Stillstand. Soll Geschichte etwa aufhören? Die Entwicklung der Menschheit muss endlos sein. Zu diesem Zweck erfindet Craig Venter gerade die passende Software: das ewige Leben.

Gibt es kein Ziel, gibt es auch keine bevorzugte Richtung. Der kleinste Schritt aus dem Morast ist willkürlich, wenn die ganze Welt rings um uns her ein einziger Morast sein soll.

Doch leben wir nicht in einer Heilsgeschichte mit göttlich festgelegtem Ende? Ein von Gott bestimmtes Ende schließt jedes von Menschen bestimmte Ziel aus. Es wäre eine Blasphemie vor dem Herrn der Geschichte, wenn der Mensch konkurrierend sein eigenes Ziel festlegte.

Als Dogma der Jetztzeit gilt das Wort: Der Weg ist das Ziel. Das ist nur sinnvoll, wenn der Weg – ins Ziel mündet. Unterwegs sein ist alles, das Ziel ist nichts? Das

ist die Ideologie der Desorientierten – oder der faustischen Deutschen, die aus ihrem labyrinthischen Lebensgefühl eine Philosophie machen.

„Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt“, sagt der Teufel zum deutschen Professor, der sich rastlos betätigen muss, um nicht zur Besinnung zu kommen. Glück, Freude und ein behagliches Leben: das sind schnöde Trivialitäten, vor denen Faust sich ekelt. Alles, was dem Menschen erreichbar und möglich ist, ist unterhalb der Würde des Faust, dem nur das Unmögliche, Unerreichbare und Grenzenlose angemessen ist. Er will das Unendliche, obgleich, nein, weil er weiß, dass er scheitern wird.

„Ich fühls, vergebens hab ich alle Schätze

Des Menschengeists auf mich herbeigerafft,

Und wenn ich mich am Ende niedersetze,

Quillt innerlich doch keine neue Kraft;

Ich bin nicht um ein Haarbreit höher,

Bin dem Unendlichen nicht näher.

Faust ist süchtig nach Scheitern. Seinem Bankrott geht er zielgerichtet und offenen Auges entgegen. Faustisches Streben will den Ruin, den Untergang, den Tod. Das Leben an sich hat keinen Sinn, es ist nur ein Vorlaufen zum Tod. Drum hat er sich der Magie ergeben, damit er im Rausch, im rasenden Tempo, in besinnungsloser Beschleunigung sein Leben verschleißen und hinter sich bringen kann.

„Vor mir verschließt sich die Natur.

Des Denkens Faden ist zerrissen,

Mir ekelt lange vor allem Wissen.

Lass in den Tiefen der Sinnlichkeit

Uns glühende Leidenschaften stillen!

In undurchdrungenen Zauberhüllen

Sei jedes Wunder gleich bereit!

Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,

Ins Rollen der Begebenheit!

Da mag denn Schmerz und Genuss,

Gelingen und Verdruss,

Miteinander wechseln, wie es kann

Nur rastlos betätigt sich der Mann.“

Die Deutschen mögen den Kapitalismus nicht leiden, doch seine Philosophie beten sie als Weisheit an. Weisheit? Kann weise sein, was lebenslanger Vollrausch, Zauberei, Wunderglaube und dionysische Wechsel- und Neuerungssucht ist?

Des Denkens Faden ist zerrissen: das ist Absage an Vernunft und Aufklärung. Denken ist sinnlos, Zudröhnen mit ständig Neuem, das ist die Stimmung – der unendlichen Konsumsucht des Kapitalismus.

Der Untergang des Abendlandes ist das Ziel der deutschen Ziellosen, die das Leben als prophylaktisches Scheitern und Sterben betrachten. In diesem Leben gibt es keine „glühenden Leidenschaften“, die gestillt werden könnten, denn Stille wäre Erfüllung und Ruhe. Genau das ist verboten. Der Mensch darf nicht zur Ruhe und Besinnung kommen.

Wenn der Tod der Orgasmus des Lebens ist, ist Unterwegssein das bloße Vorspiel, um den Gevatter mit der Sense anzulocken. Ein faustisches Kollektiv ist eine Horde Volltrunkener und Bekiffter, die mit dem Tod ihrer Feinde den eigenen Tod herbeiführen müssen – um zu spüren, dass sie noch am Leben sind.

Vor allem nicht zur Besinnung kommen, das ist peinlich maßvoll und zielgerichtet. Wer im irdischen Leben auf seine Kosten kommt, muss ein Kretin und ein Spießer sein.

„Den schlepp ich durch das wilde Leben,

Durch flache Unbedeutenheit,

Er soll mir zappeln, starren, kleben,

Und seiner Unersättlichkeit,

Soll Speis und Trank vor gierger Lippe schweben,

Er wird Erquickung sich umsonst erflehn,

Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben,

Er müsste doch zugrunde gehen.

Das war das Todesurteil für die faustische Nation. Kollektiver Suizid durch postmodernen Eventrausch. Wer ständig seine Grenzen überschreiten muss, um sich zu spüren, braucht den Kick, den Kitzel als praeparatio mortis.

Doch zuvor müssen seine heftigsten Konkurrenten beseitigt werden, dass nach seinem Abgang niemand den großen Triumphgesang über ihn anstimmen kann. Erst muss ich andere töten, bevor ich mich selbst ins Messer stürze. Im Tode will ich nicht alleine sein.

„So ist mir das Dasein eine Last,

Der Tod erwünscht, das Leben mir verhasst.“

Wie viele junge Deutsche mussten dies verinnerlichen und als Weisheit letzter Schluss anbeten? Die Sucht nach Schmerzen, Leid und Tod erfüllte die deutsche Jugend, die sich lächerlich vorkam, wenn sie ein erfülltes Leben geführt hätte. Nur Weltgewinnung durch blutige Verbrechen konnte das Außerordentliche versprechen.

„Du hörest ja: von Freud ist nicht die Rede!

Dem Taumel weihe ich mich, dem schmerzlichen Genuss,

Verliebtem Hass, erquickendem Verdruss,

Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,

Soll keinen künftigen Schmerzen sich verschließen,

Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,

Will ich in meinem innern Selbst genießen,

Mit meinem Geist das Höchst und Tiefste greifen,

Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,

Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,

und, wie sie selbst, am End auch ich zerscheitern.“

Das also ist der Klassik letzter Schluss: paulinischer Lebenshass in Knittelversen. Faust opfert sein Leben, um erlöst zu werden. Er verschmäht das triviale Glück der Aufklärung und nimmt sein Kreuz auf sich: Weh und künftige Schmerzen.

Erst im Tod wird sein Leiden beendet sein. Dann wird die Last der monadischen Vereinzelung vorüber sein. Im Tod erst ist Faust mit der Welt und der Menschheit vereinigt. Sterbend wird er sein Selbst zu ihrem Selbst erweitern.

Der einsame Deutsche findet im Leben keinen sinnvollen Kontakt zu seinem Mitmenschen. Die Leibniz‘sche Monade ist ein unaufbrechbarer Panzer und nur mit Gott verbunden. Die Sehnsucht nach herzlicher Verbundenheit muss im Leibe unerfüllbar bleiben.

Die wahre Liebe zum Menschen erfährt Faust erst im Tod. Im Tode erst zerbricht der Panzer der Individualität und alle Monaden verschwimmen zur völkischen Einheit.

Goethes Liebe zum Griechentum ist nur aufgesetzt. Hinter graecomanen Posen sehen wir die Sucht nach Erlösung durch Selbstaufopferung des eigenen Lebens. Das Leben im Fleisch muss hassenswert sein, dass man es möglichst schnell wegwerfe.

„Wer sein Leben retten will, der wird es verlieren,

wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.

Wer sein Leben liebt, verliert es,

und wer sein Leben in dieser Welt hasst,

wird es ins ewige Leben bewahren.“

Der Sturm und Drang war eine verbale Absage an dogmatische Glaubenssätze, aber eine emotionale Vertiefung des christlichen Lebenshasses. Der Kopf der jungen Deutschen verwarf die Dogmen, doch der Mensch in seinem dunklen Drang war besessen vom Unwert seines irdischen Lebens, das er so schnell wie möglich loswerden wollte.

Die klassische Periode war kopfgesteuerter Abgesang auf das himmlische Eiapopeia – und emotionale Verwandlung christlicher Todessehnsucht in die weltberühmte deutsche Kultur.

Was davon soll moralisch oder gemäßigt-griechisch sein? Edle Einfalt und stille Größe? Keine Stille, keine Einfalt, nichts Edles und Großes, sondern lebenslange Sucht nach verbrecherischen Abenteuern. Das Leben ist kurz und schmutzig, machen wir es zum Rausch, aus dem wir nie mehr aufwachen, damit wir es ertragen können.

Nietzsche, der Pastorensohn, erfasste das Geheimnis seines bewunderten Goethe: „Die Wahrheit ist hässlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“

Warum sind die Deutschen in Kunst und Ästhetik vernarrt? Weil sie nur im Rausch der Besinnungslosigkeit – oder des Kriegs – das Leben ertragen. Bei Wagner ist das ganze Leben der deutschen Rienzis und Parsefale ein einziger Dauerrausch. In Bayreuth musst du stundenlang deine Musikdroge inhalieren, bis dir Hören und Sehen vergangen ist.

Zur deutschen Kunst gehört auch die nachklassische Philosophie, die ein „Wüten gegen die Voraussetzungen des Lebens ist“, was Nietzsche das Dionysische nennt, im Gegensatz zum klassisch Apollinischen:

„Die Geschichte der Philosophie ist ein heimliches Wüten gegen die Voraussetzungen des Lebens, […] gegen das Parteinehmen zugunsten des Lebens. Die Philosophen haben nie gezögert, eine Welt zu bejahen, vorausgesetzt, dass sie dieser Welt widerspricht, dass sie eine Handhabe abgibt, von dieser Welt schlecht zu reden. Es war bisher die große Schule der Verleumdung: und sie hat so sehr imponiert, dass heute noch unsere sich als Fürsprecherin des Lebens gebende Wissenschaft die Grundposition der Verleumdung akzeptiert hat und diese Welt als scheinbar, diese Ursachenkette als bloß phänomenal handhabt.“

Seit der Geburt der Deutschen aus dem Geist des faustischen Strebens ist die Nation lebensfeindlich. Ihre Lebensunfähigkeit tarnt sie als Kunst, Philosophie und Ästhetik – und als lebensfeindliche Politik. Sie haben ein gestörtes Verhältnis zur Natur und zum Menschen. Vor ihnen „verschließt sich die Natur“.

Kant nennt Natur das unerkennbare Ding an sich. Natur, du dummes Ding! Du bist es nicht wert, erkannt zu werden. Als Adam sein Weib erkannte, war er mit ihr ein Leib und eine Seele. Die Deutschen erkennen keine Natur und sind von ihr für immer getrennt. Wodurch?

Durch ihr Erkennen. Ihr Erkenntnisapparat ist es, der es ihnen verbietet, die Natur zu erkennen, wie sie an sich ist. Das Ding an sich ist „die Wirklichkeit, wie sie unabhängig von aller Erfahrungsmöglichkeit für sich selbst besteht, die absolute Realität.“

Der Mensch ist ein Alien, der keinen Zutritt zur irdischen Natur erhält. Er bleibt ein Fremder unter allen Lebewesen, die er nach Belieben vernichten kann, weil er keine emotionale und ursprüngliche Beziehung zu ihnen aufbringen kann. Er bleibt an Phänomenen, an Äußerlichkeiten, hängen.

Problemlos kann er die Natur zur Strecke bringen, weil er keinen empathischen Draht zu ihr hat. Das Fremde und Unbekannte kann er so ungerührt vernichten, wie die Guten unter den Menschen die Bösen vernichten können. Denn sie kennen sie nicht. Mit Bösen haben Gute keine Wesensähnlichkeiten. Im Bösen und Fremden erkennt der Mensch sich nicht als Mensch. Er vernichtet nur fremde Bestien.

Auch Kant bewegt sich im engen Rahmen neutestamentlichen Denkverbots. Auf Erden ist das Erkennen des Menschen unvollkommen. „Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, denn wir sehen nur wie mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt. Dann aber von Angesicht zu Angesicht.“

Im Jenseits hindert uns kein Erkenntnisapparat an der vollständigen Erkenntnis aller Dinge. Die moderne Philosophie mit Betonung der Unvollkommenheit ihres Erkennens bewegt sich im Rahmen des von Gott erlaubten Wahrnehmens der sündigen Natur. Weil wir Natur nicht im Innersten erkennen, haben wir die Erlaubnis, sie zu vernichten.

Faust beginnt seinen großen Anfangsmonolog mit dem resignativen Bekenntnis, dass „wir nichts wissen können“. Das will ihm schier das Herz verbrennen. Doch so ernst ist‘s mit dem Verbrennen nicht, denn seine Erkenntnisunfähigkeit gibt ihm die Erlaubnis, sich der Magie zu widmen:

„Ob mir durch Geistes Kraft und Mund

Nicht manch Geheimnis werde kund;

Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß

Zu sagen brauche, was ich nicht weiß,

Dass ich erkenne, was die Welt

Im Innersten zusammenhält.“

Die menschliche Erkenntnisart verwirft er, um mit Hokuspokus einen übernatürlichen Zugang zu den Elementen zu gewinnen, indem er die Barriere der Sprache und Begriffe überspringt und nicht mehr in Worten kramen will.

Das war die Absage an Kant. Kant erkannte die Natur, indem er ihre Unerkennbarkeit erkannte. Goethe will alle menschlichen Erkenntnisbedingungen überspringen und – wie Gott – den Dingen ins Herz schauen. Entweder Nichts oder Alles.

Nein, die Deutschen lernten bei den Griechen kein Maß und Ziel. Entweder schwärmten sie, als wären sie im Himmel oder sie fluchten auf die Armseligkeit und Bedeutungslosigkeit alles irdischen Tuns und Erkennens.

Am Ende vom Lied kuscht der größte aller Deutschen wie ein frommes Schaf vor den Engeln, die ihn erlösen müssen. Durch eigene Weisheit hätte er nicht in Frieden sterben können.

„Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen

Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

Und hat an ihm die Liebe gar

Von oben teilgenommen.

Begegnet ihm die selge Schar

Mit herzlichem Willkommen.“

Semipelagianischer Schluss. Nach Kirchenvater Pelagius muss der Mensch sich durch eigene Kraft den Himmel verdienen. Beim Kompromiss zwischen Pelagius und seinem Gegner Augustin ergänzt die Gnade Gottes die Bemühungen des Menschen, um ihn zu erlösen. Goethe, der dezidierte Nichtchrist, bemüht zwei uralte Kirchenväter, um seinem vorbildlichen Deutschen einen würdigen Abgang zu verschaffen.

Fausts Ziel war nicht die Erde, sondern der christliche Himmel, der seinem Leben den finalen Segen geben musste. Es gibt kein irdisches Ziel für Faust. (In Safranskis Goethe-Biografie fehlen die Stichworte Politik und Demokratie.) Deshalb muss er sich mit Unterwegsein begnügen. Sein Ziel auf Erden hat er verfehlt:

Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, lässt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find’ er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!

Fausts Unendlichkeitsstreben war ein Zurückkriechen in die Hände der Religion. Zur Autonomie des Menschen auf Erden hat er es nicht geschafft. Der Christ in Goethe hat über den dezidierten Nichtchristen den Sieg errungen.

Die Fähigkeit, sich auf Erden einzunisten, um ein freudiges und erfülltes Leben zu führen, haben Goethes deutsche Schüler bis heute nicht gelernt. Es fehlt ihnen Maß und Ziel.

Nun wuchert es gegenaufklärerisch an allen Ecken und Enden.