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Machiavell

Hello, Freunde Machiavells,

Machiavelli beendete mit einem europäischen Donnerschlag die christliche Doppelmoral des vatikanischen Totalitarismus, indem er eine – ehrliche Doppelmoral des Staates propagierte. Ehrliche Doppelmoral – kein Widerspruch im Beiwort?

Ein Doppelmoralist tut nicht, was er sagt und sagt nicht, was er tut. Doppelmoral ist Heuchelmoral, wenn sie ihre widersprüchliche Moral verleugnet und den trügerischen Eindruck erweckt, als sei sie eindeutig. Heucheln heißt belügen.

Belüge ich andere – und weiß, dass ich lüge –, bin ich ein Machtmensch. Belüge ich mich selbst – verdränge aber, dass ich lüge –, lebe ich im Wahn. Bleibt der Wahn privat, bin ich ein Fall für die Psychiatrie. Ist der Wahn ein Massenwahn, wird er zum politischen Verhängnis.

Massenneurose schützt vor Einzelneurose, Massenwahn rechtfertigt Einzelwahn. Ein Deutscher im Dritten Reich durfte sich völlig normal fühlen als Gläubiger des nationalsozialistischen Massenwahns.

Habe ich Macht und bin im Wahn, werde ich gefährlich für meine Mitmenschen.

Bin ich reich, besitze ein Unternehmen und habe Macht über abhängige Arbeitskräfte, bin ich Kapitalist. Besitze ich politische Macht, um nach Belieben meine Untertanen zu dirigieren, bin ich Diktator, Despot oder Tyrann. Bin ich mächtiger als politische Machthaber und besitze Macht über unsterbliche Seelen, bin ich Papst, Kirchenfürst, religiöser Reformator, Guru oder Sektenführer. Besitze ich politische und religiöse Macht, bin ich totalitärer Faschist.

Totalitär kommt von total: ich besitze totale Macht über Menschen in Zeit und Ewigkeit. Die Macht in der Zeit kann ich wahrnehmen, an die Macht in Ewigkeit muss ich glauben. Ein allmächtiger Gott hat Macht über Menschen – die

seine „Geschöpfe“ aus Dreck und Staub sein sollen – in Zeit und Ewigkeit.

Deus omnipotens ist Urbild und Vorbild totalitärer Faschisten, die in ihrer Gottähnlichkeit von keinem Sterblichen übertroffen werden können. In gottähnlicher Allmacht gebieten totalitäre Faschisten über Leben und Tod der Menschen.

Diktatoren sind „egoistisch“, wollen Macht nur zur Selbstvergötterung der eigenen Person. Totalitäre Faschisten sind „altruistisch“. Ihre Uneigennützigkeit kann sich steigern bis zur Selbstaufopferung. Der allmächtige Erlösergott opferte sich am Kreuz, um Tod und Teufel zu besiegen und die Menschen von deren Macht zu befreien.

Erlöser wollen mit ihrer Macht den Menschen Glück und Heil bringen. Zuerst im Guten. Doch sind die Menschen nicht willig, mit Gewalt.

Totalitäre Führer sind Zwangsbeglücker. Wer sich ihnen beugt, wird selig. Seligkeit ist ewiges Glück im Jenseits. Wer sich Erlösern widersetzt, wird unselig. Unseligkeit ist ewiges Verderben im Jenseits.

Seligkeit und irdisches Glück schließen sich aus. Auf Erden Leid und Kreuz, erst im Himmel ewige Freuden. Ewige Seligkeit muss bezahlt oder verdient werden durch vorgängiges Leid und Elend. Seligkeit ist Belohnung für Bewährung im Glauben, für Gehorsam gegen Gott. Wer bereits auf Erden reich und glücklich ist, hat schlechte Karten im Himmel – es sei, er ist Amerikaner, der davon überzeugt ist, dass sein Land schon hienieden Gottes eigenes Land ist.

In den Augen moderner Humanisten ist christliche Moral eine heuchelnde Doppelmoral: sie predigt Wasser und säuft Wein, tut aber, als trinke sie nur Wasser. Die religiösen Originalschriften aber heucheln keineswegs, offen verkünden sie ihre Doppelmoral.

Eine Doppelmoral ist eine Moral im Widerspruch. Der Widerspruch ist nicht „von Natur aus“. Er beruht auf einer Setzung, einer kollektiven Übereinkunft der Menschen, die dieses Verhalten als gut und jenes als schlecht definieren.

War im triebhaften Urzustand der Menschen alles erlaubt, entwickelt sich ab einer bestimmten Phase der Geschichte ein Bewusstsein für erwünschtes oder unerwünschtes Verhalten. Das erwünschte wird als gutes, das unerwünschte als schlechtes oder böses Verhalten definiert. Obgleich die Definitionen des Guten und Bösen menschliche Erfindungen sind, stellten ihre Erfinder sie gern als Eigenschaften der Natur dar, um ihre Legitimation mit natürlicher Autorität zu erhöhen und abzusichern.

(Die Griechen benutzten die Begriffe physei und thesei; physei war von Natur aus, thesei durch menschliche Setzung. Obgleich die Moral auf menschlicher Konvention beruhte (thesei), galt sie lange Zeit als Stimme der Natur (physei). Der Streit um Moral wurde so zum Streit über gute und böse Natur). Noch war mütterliche Natur die oberste Instanz, allmächtige Götter befanden sich in weiter Ferne.

Je logischer die Menschen dachten, je eindeutiger und schärfer wurde die Moral in ein Entweder-Oder geteilt. Man könnte von Dualismus sprechen. Entweder war etwas gut – oder böse, wahr – oder falsch. Als der Mensch allmächtige Männergötter erfand, verschärfte sich der irdische Dualismus zu einem göttlich-satanischen System.

Dieser „metaphysische“ oder auf Glauben beruhende Dualismus hat mit dem logischen Dualismus – der auf Erfahrungen und folgerechtem Denken beruhte – nichts zu tun.

Heute wird jedem religiöser Dualismus vorgeworfen, der auf Unterscheidung von falsch und richtig, moralisch und unmoralisch besteht. Solch ein Dualist wolle doch nur recht haben. Recht haben gilt heute als Sünde wider den unfehlbaren Geist der Postmoderne. Dabei wollen sie selbst recht behalten, wenn sie Rechthaben als falsch bezeichnen.

Wie wollen dieselben Schnuckelchen, die nie Recht haben wollen, in der politischen Debatte nachweisen, dass einer Unrecht hat, wenn er den Holocaust leugnet oder hasserfüllt gegen Flüchtlinge schnaubt? Die politische Debatte der Gegenwart ist durch Diffamieren des Rechthabenwollens im Kern vergiftet.

Rechthabenwollen ist die Voraussetzung jeder demokratischen Debatte. Worüber sollen wir streiten, wenn niemand recht haben will? Sokrates dachte nicht daran, seinen Anklägern recht zu geben. Er fightete um Punkt und Komma.

Dennoch ist Rechthabenwollen nicht identisch mit selbstgerecht, dogmatisch, unfehlbar oder selbstgefällig. Jeder ist lernfähig, niemand perfekt. Also ist er auch fähig, die besseren Argumente des Streitgegners wahrzunehmen und zu würdigen.

Zugegeben, in einer Kultur, in der die Meinung des Einzelnen nichts gilt, ist es schwer, anderen recht zu geben. Die Meinungen der Kinder und Heranwachsenden werden heute so wenig respektiert, dass jeder, der mit dem eigenen Kopf denken will, leicht in trotzige Uneinsichtigkeit verfällt. Von Politik, Wirtschaft und Medien konditionierte Menschen neigen dazu, in falscher Reaktionsbildung ihre eigene Meinung zu überhöhen und Argumente des anderen nicht zu würdigen.

Die heutigen Debatten sind weit entfernt von einem scharfen, aber klärenden methodischen Streit in Rede und Gegenrede. Talkshows sind unverbundene Monologe, in denen niemand auf niemanden eingeht.

Religiöser Dualismus ist ein durch Menschen nicht korrigierbares Entweder-Oder. Nur Gottes Gnade kann einen Bösen in einen wiedergeborenen Guten verwandeln.

Irdischer Dualismus hingegen ist ein durch Lernen korrigierbares System. Wer falsch liegt, kann durch Einsicht zur „Wahrheit kommen“. Wer böse ist, kann reifend und erkennend gut und weise werden. Irdischer Dualismus ist lernfähig und veränderbar. Jeder kann das autonom definierte Gute und Böse in seinem Leben überprüfen und als wahr oder falsch erleben. Religiöser Dualismus hingegen ist ein Konstrukt, das mit unüberprüfbaren Jenseits-Konsequenzen hantiert.

Eine Moral ist nur sinnvoll, wenn sie ein Entweder-Oder formuliert. Eine Moral, die nicht zwischen gut und böse unterscheidet, sollte nicht Moral genannt werden. Wäre alles erlaubt, könnte der Mensch sich jegliche Denkarbeit ersparen, um eine humane Gesellschaft zu bauen.

In einer überprüfbaren Moral muss ein Entweder-Oder als unvereinbarer Widerspruch formuliert werden. Wenn Handlung A gut ist, muss Handlung non-A böse sein. Gewiss, es gibt graue Felder, in denen Gut und Böse schwer zu unterscheiden sind. Und es gibt – bei Deutschen besonders beliebte – Ausnahmen von der Regel.

Regeln sind für Deutsche autoritäre Zwingmeister, nicht Früchte einer freien Moral. Wenn sie frei sein wollen, schicken sie alle Regeln zum Teufel. Freiheit ist für sie über die Stränge schlagende Regellosigkeit. Ausnahmen aber bestätigen nur die Regeln.

Doppelmoral ist vordergründig eine Moral mit Entweder-Oder, die hintergründig alles erlaubt. Wenn Regel-Moral als fortschrittlichere angesehen werden kann, ist Doppelmoral eine fortschrittliche Moral nach außen, nach innen eine in regellose Urzeit zurückgefallene Nichtmoral.

Biblische Moral ist Doppelmoral, die keinen Hehl aus ihrem „doppelten“ Standard macht. Ihre Urmoral ist der unberechenbare Willkürwille eines allmächtigen Gottes, dem selbst nichts verboten ist, der aber seinen Geschöpfen eine unerfüllbare Moral vor den Latz knallt. In dieser Moral, die den Menschen zerschmettern soll, damit er unter die Gnade seines Heilands kriecht, gibt es durchaus Anklänge an humane Moralsysteme autonomer Nachbarvölker. Gott gebietet Nächstenliebe – und fordert gleichzeitig die Gläubigen auf, heidnische Völker zu vertilgen.

a) „Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, auf daß du nicht seineshalben Schuld tragen müssest. Du sollst nicht rachgierig sein noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der HERR.“

b) „Wenn dich der HERR, dein Gott, in das Land bringt, darein du kommen wirst, es einzunehmen, und ausgerottet viele Völker vor dir her, die Hethiter, Girgasiter, Amoriter, Kanaaniter, Pheresiter, Heviter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind denn du“. „Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie. Und der Teufel, der sie verführte, ward geworfen in den feurigen Pfuhl und Schwefel, da auch das Tier und der falsche Prophet war; und sie werden gequält werden Tag und Nacht von Ewigkeit zu Ewigkeit.“

Für moderne Menschen, gewöhnt an eine klare Entweder-Oder-Moral, wirkt diese biblische Mischmoral wie eine Doppelmoral, in der archaischer Hass und humaner Friede sich absolut ausschließen. Eine christliche Nation wie die amerikanische, die ihre Liebesreligion der Welt vermitteln will – aber mit mörderischen Mitteln des Krieges und wirtschaftlicher Ausbeutung – ist für sie eine Nation mit Doppelmoral. Der Eindruck ist verständlich, aber falsch: die Amerikaner sind fundamentalistische Buchstabengläubige und haben noch nie ein Hehl aus ihrer Mischmoral gemacht.

Doch bei europäischen Christen, die ihre Religion humanisiert haben wollen, würde der Eindruck der Doppelmoral stimmen, denn sie verwerfen die Regellosigkeiten eines Gottes, dem alles erlaubt sein soll. Gottes Gebote gelten nur für Heiden und Ungläubige. Erleuchtete und Erwählte stehen, wie ihr himmlischer Vater, jenseits aller Gebote.

Die biblische Moral ist eine anti-nomische (= wider das Gesetz), die kein Geheimnis aus ihrer Antinomie macht. Sie lieben, was sie töten, sie töten, was sie lieben. Widersprüche? Keine! Rottet das Böse aus, war der Befehl von Dabbelju Bush, als er seine Nation zur Rache für 9/11 aufforderte. Von Feindesliebe keine Spur. Doch wenn Liebe Töten und Unterdrücken nicht ausschließt, sind alle imperialistischen Kriege Amerikas überwältigende Liebesakte.

Parallel zur biblischen Antinomer-Moral entstand im heidnischen Griechenland die scharf und eindeutig formulierte Entweder-Oder-Moral autonomer Philosophen. Sokrates‘ Moral ist von allen archaischen Hasselementen gereinigt: Lieber Unrecht erleiden als Unrecht tun.

Restspuren dieser Humanität sind in die jesuanische Bergpredigt eingedrungen. In kategorischer Ablehnung der alten Vergeltungsmoral heißt es bei dem Nazaräer:

„Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei.“

„Ich aber sage euch“: das soll die Trennformel sein zwischen alter und neuer Moral. Der Wille zu einer humanen Moral ist nicht zu leugnen, doch die Ausführung wird zum Desaster. Indem die neue Moral in den religiösen Rahmen einer uralten Vergeltungs- und Lohnmoral gepresst wird – nur Gläubige werden selig, Ungläubige kommen ins Feuer –, werden alle Impulse der neuen Moral durch einen willkürlich selektierenden Gott vernichtet.

Im 19. Jahrhundert wollten deutsche Theologen ihre graecomanisch erlernte Humanität retten, ohne jedoch auf das liebe Jesulein zu verzichten. Also konstruierten sie Jesus nach dem Vorbilde des Sokrates und verwarfen die Hasselemente seiner Botschaft als Relikte einer alttestamentarischen Antinomie-Moral. Das jüdische Alte Testament wurde zur Offenbarung eines hassenden Gottes, das Neue Testament verkündete die Liebesethik eines germanischen Jesus.

Doch vergeblich. Auch der unendlich liebende Jesus verdammt die Majorität der Menschen und erlöst nur eine kleine Minderheit. Um ein einziges Schaf zu retten, lässt der Hirte 99 Schafe vor die Hunde gehen. Viele sind berufen, wenige auserwählt.

Die Kirche im Mittelalter hatte den europäischen Völkern eine antinomische Moral gelehrt. Das Motto für die Kreuzzüge war: liebet die Heiden, indem ihr sie aus dem Heiligen Land verjagt und tötet.

Kurz nach den Kreuzzügen begann bereits die frühe Renaissance in Italien. Der Geist der griechischen Philosophie zog nach Italien und beeinflusste auch Machiavelli, den stolzen und gelehrten Diplomaten aus Florenz. Geschult im scharfsinnigen Geist Alt-Athens, ertrug der Florentiner nicht mehr die Alles-und-Nichts-Moral des Papstes, die von dem Renaissance-Menschen als Heuchelmoral empfunden wurde. Seine eigene Moral, die er in zwei Büchern formulierte, sollte unmissverständlich und eindeutig sein.

Der schillernden Liebe- und Hassmoral der Kirche setzte er die ehrliche Machtmoral des weltlichen Fürsten entgegen. Besser als heuchelnde Nächstenliebe war eine mannhaft aufrichtige Machtmoral, auch wenn sie das Volk hinters Licht führen durfte. Moral wurde erniedrigt zur Dienerin der Macht.

Zur Erhaltung seiner Macht waren dem Fürsten alle Mittel recht. Gebote einer weichlichen Agape durften seine säkularen Interessen nicht beschädigen. Macht geht vor Moral. Um seine Macht zu erhalten, waren dem Fürsten alle Mittel erlaubt. Selbst das Predigen von Moral, um den Respekt der Untertanen für den Fürsten nicht zu beschädigen.

„Machiavelli formuliert als erster überhaupt die Grundsätze der Staatsräson, dass nämlich ein Herrscher, um die elementaren Notwendigkeiten des Staates zu erfüllen, „die Gesetze der traditionellen Moral verletzen“ müsse, sonst gehe er mit dem Staat zusammen unter. Für einen Herrscher sei es demnach gleichgültig, ob er als gut oder als böse gilt, wichtig sei nur der Erfolg, der voraussetzt, vom Volk nicht gehasst zu werden.“

Staatsraison – Vernunft des Staates – erlaubt dem Staat alle erdenklichen unmoralischen Mittel, um seine Macht zu erhalten und auszubauen. Vernunft wird zur Instanz der Amoral.

Erst die Aufklärer säuberten die Vernunft wieder vom Verdacht des Verruchten und erklärten sie zur obersten Instanz der Moral. Noch heute schillert die Vernunft in Deutschland zwischen kaltblütiger Interessenpolitik und abstrakter, hohler Moral.

Es war ein gewaltiger, wenn auch zwiespältiger Fortschritt, als Machiavelli die heuchelnde Liebesmoral der Christen ersetzte durch die heuchelfreie Machtmoral eines bedenkenlosen Fürsten. Die Leser seiner Schriften kannten seine Selbstermächtigung zur bedenkenlosen Machtmoral. Doch die Untertanen der Fürsten sollten im Dunkeln tappen und ihre Despoten als oberste Moralwächter der Nation verehren.

Der ehrlich-skrupellose Italiener schlug in Europa ein wie eine Bombe. Besonders im jungen Sturm- und Drang-Deutschland, das die Schnauze voll hatte von der besserwisserischen Moral der französischen Aufklärer – und der Lohn- und Strafmoral der Kanzelprediger.

Hegel, Häuptling der Deutschen Bewegung, bewunderte den Italiener über alle Maßen. Wenn es um Interessen des Staates geht, könne es keine falsche Milde und Güte geben: „Brandige Glieder können nicht mit Lavendelwasser geheilt werden; ein Zustand, worin Gift, Meuchelmord gewöhnliche Waffen geworden sind, verträgt keine sanften Gegenversuche. Der Verwesung nahes Leben kann nur durch das gewaltsamste Verfahren reorganisiert werden.“

Eine Parallele zum machiavellistischen Hegel sehen wir bei Adam Smith, der den heuchelnden Altruismus der Kirchen durch einen ehrlichen Egoismus der Kaufleute ersetzte. Nicht länger soll Menschenliebe die Norm einer tüchtigen und aufrichtigen Wirtschaftsmoral sein, der Reichtum der Nation kann nur durch wohlverstandene Eigenliebe produziert werden. „Niemand möchte weitgehend vom Wohlwollen seiner Mitmenschen abhängen, außer einem Bettler, und selbst der verlässt sich nicht allein darauf.“

Ehrliche Unmoral, allergisch gegen nächstenliebende Heuchelei der Kirchen, war der Fortschritt der Europäer, die sich von ihrer despotischen Religion lösen wollten. Dieses seltsame Ehrlichkeitsgebot gilt noch heute, wenn „politische Korrektheit“ oder Gutmenschentum als Gipfel der Heuchelei gelten. Platte Moral gilt als Unmoral, Kokettieren mit Unmoral als Gipfel der Ehrlichkeit. Ein neuer Roman kann kein höheres Lob erhalten als das stereotype Sätzchen: das Buch ist frei von aller Versuchung zum Moralpredigen. Moral steht im Dauerverdacht der Amoral.

Bis vor kurzem stand Merkel nicht im Verdacht, eine moralische Politik zu betreiben. Den Griechen stellte sie die Luft ab, „um sie zu retten“. No bail out, keine falsche Mildtätigkeit, ist das Grundprinzip der europäischen Wirtschaftspolitik, das Merkel bis ins Äußerste exekutiert.

Über Nacht ist sie nun zur Tugendpredigerin geworden. In Madrid deklamierte sie ihr neues Mantra:

»Jeder, der Europa betritt, verdient es, wie ein Mensch behandelt zu werden«, sagte sie. Zudem warb Merkel für mehr Solidarität unter den Europäern. Es gehe, sagte die Kanzlerin, am Ende um eine faire Lastenteilung. »Wir müssen das tun, was wir immer getan haben: fair untereinander teilen. Das ist Europa immer gewesen.«“ (SPIEGEL.de)

Irrer als bei Merkel kann ein Wahn nicht sein. Keine Gazette bemerkt den Widerspruch zwischen No bail out und dem angeblichen Grundwert europäischer Barmherzigkeit. Wie kann in einer gnadenlos rivalisierenden Wirtschaft Solidarität aufkommen? Und käme sie auf, befände sie sich im absoluten Widerspruch zum Wettbewerb auf Hauen und Stechen.

Merkels konservativer Kollege Orban repräsentiert den wahren nationalen Egoismus der Europäer:

»Europa ist reich und schwach zugleich – das ist die gefährlichste Mischung«, sagte Orbán, der wegen seiner harten Haltung in der Flüchtlingsfrage heftig in der Kritik steht. Und auch in Madrid griff Orbán wieder zum gröbsten rhetorischen Werkzeug: »Je heftiger der Angriff, desto stärker müssen wir zurückschlagen«, sagte er wörtlich über die Flüchtlinge.“

Jedem Menschen auf europäischem Boden solle geholfen werden, säuselt die Kanzlerin. Gleichzeitig plädiert sie, ohne mit der Wimper zu zucken, für die Schließung aller europäischen Außengrenzen und küsst Erdogan die Füße, damit er keine weiteren Millionen Flüchtlinge ins heilige Europa eindringen lässt. Merkel – schizophren? Oder machiavellistische Machtpolitikerin, die fragmentierte Moral als Lockmittel der Interessenpolitik entdeckt hat?

In den Augen Josef Joffes betreibt Merkel nach wie vor kalte Machtpolitik:

„Merkel betreibt zugleich kühle und nationale Realpolitik. „Kühl“, weil sie jenseits aller moralischen Parolen einen Autokraten wie Erdoğan einbindet; „national“, weil sie spürt, dass die „gesamteuropäische Lösung“, die sie gern beschwört, so bald nicht kommen wird. Deutschland wird, was die Nachbarn längst ahnen, zur Vormacht, die nicht mehr im Kokon der Gemeinschaft bleibt – erst bei der Euro-Rettung, jetzt im Strategischen. Wer die Macht hat, kann handeln. Und wer im Zentrum sitzt, muss es auch.“ (ZEIT.de)

Joffe, strammer Bewunderer der amoralischen Machtkanzlerin, sieht keine zur Moral konvertierte Madonna. Auf den Konflikt zwischen Moral und Machiavelli geht er nicht ein. Eine moralische Politik scheint für den Herausgeber der ZEIT eine lächerliche Absurdität zu sein.

Solange die europäischen Völker national gegeneinander abgeschlossen waren, war Machtpolitik nicht in allen Dingen verwerflich. Es bestand keine Pflicht, sich von einer fremden Macht wehrlos überfallen zu lassen. Freilich diente die Macht vor allem dazu, die Nachbarn mit ewigen Kriegen zu überziehen.

Seit Kriegsende haben die Völker sich zusammengeschlossen. Nicht nur in Europa. Die UN-Charta definiert die neue Weltpolitik nicht mehr als martialische Außenpolitik, sondern als friedliche Welt-Innenpolitik. Würden die Völker das neue Prinzip realisieren, müssten sie sich von der klassisch-machiavellistischen Machtpolitik radikal verabschieden.

Die Welt ist ein globales Dorf. Dieser Slogan der ersten Öko-Phase ist spurlos verschwunden. In einem Dorf ist jeder von jedem abhängig. Machiavellistische Bedenkenlosigkeit würde die Dorfgemeinschaft im Nu zerstören.

Die zukünftige Weltpolitik der Völker muss Abschied nehmen von aller fremdenfeindlichen Macht- und Gewaltpolitik früherer Jahrhunderte. Nur eindeutige Moralpolitik kann die Völker vor der Selbstzerstörung retten.

Merkel kennt nur barmherzige Einzelsituationen als gnädige Ausnahmen von der Regel. Ihre eisenharte Grundregel bleibt nach wie vor: Abschotten, Einigeln, Abschrecken der Schwachen und Hilfsbedürftigen. Falsche Mildtätigkeit verschärft nur die Probleme wettbewerbsunfähiger Völker.

Helft euch selbst, dann helft euch Gott. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf und die Deutschen gehören zu den Seinen. Ihre florierende Ökonomie ist der göttliche Beweis ihrer Auserwählung. Machiavelli hätte es nicht trefflicher sagen können als der neutestamentliche Schriftsteller:

Denn jedem, der hat, wird gegeben werden und er wird Überfluss haben. Dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen, was er hat. Die unnützen Fremdlinge aber lasset nicht nach Europa. Sondern stoßet sie in die Finsternis, die draußen ist.