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Tagesmail

Lust an der Wahrheit

Hello, Freunde der Wissenschaft,

wann starb die unabhängige Wissenschaft? Im 13. Jahrhundert, als Doktor mirabilis Roger Bacon sie zur wirksamsten Missionierungsmethode des neuen christlichen Glaubens erkor. Nicht mehr nutzlose Predigtworte, sondern unerhörte Waffen gegen die Feinde Christi, um sie zu blenden, zu durchbohren, in Brand zu stecken, zu atomisieren – oder sie zur Unterwerfung zu nötigen und zur Anbetung, dass der christliche Gott der Wahre und Allmächtige sei: das war der neue Sinn der Wissenschaft.

Einst war sie von den Griechen entdeckt worden, um den Kosmos als Heimstatt des Menschen zu besingen. Nun, im tiefen Mittelalter, wurde sie zu einem Herrschaftsinstrument. Nicht belangloses Wissen, sondern Nutzen wurde zum Zweck des Naturerkennens.

Nur wenige Jahrhunderte später erfand Francis Bacon die griffige Formel: Wissen ist Macht. Präziser hätte er formulieren müssen: Gottes Wissenschaft ist Allmacht.

Wann wurde die allmächtige Wissenschaft zur Geheimwissenschaft? Als Amerikaner in den Katakomben unterhalb des Chicagoer Stadions die Atombombe entwickelten. Hier verlor die Wissenschaft vollends ihre Unschuld und wurde

zur Sklavin des technisch-militärischen Komplexes, der Politik oder der religiösen Weltherrschaftsidee.

Wann wurde die Wissenschaft offiziell zum Blinddarmfortsatz der Wirtschaft? In jüngster Vergangenheit in Österreich, als das Wissenschaftsressort auch amtlich dem Wirtschaftsressort einverleibt wurde. Das ist ehrlich und auch den Deutschen zu empfehlen. (Martina Powell in der ZEIT)

Auch hierzulande werden Wissenschaftler nicht nach Einstein-Qualitäten beurteilt, sondern nach ihren Raff- und Imponierqualitäten. Je mehr Drittmittel von der Industrie, je genialer der Jungforscher. Auch bei uns hat der Mammon das Wissen längst im Griff. Silicon Valley wäre ohne die Gelder des Pentagon und der NSA eine belanglose Schwatzbude.

Was hat die abendländischen Forscher in ihrer jahrhundertealten Geschichte am meisten inspiriert und zu kreativen Höchstleistungen angestachelt? Der Krieg. Ohne Kriege gäbe es heute keine fantastischen Weltzertrümmerungsbomben, keine genialen Weltüberwachungsmaschinen und keine begnadeten Naturausrottungsroboter.

Das Aphrodisiakum der Wissenschaft war Überwältigen der Feinde, Füsilieren und Massakrieren der Ungläubigen und Konkurrenten. Vernichten ins Nichts war die kreative Ekstase der Schöpfung aus dem Nichts. Nichts inspirierender als Nichts, das ist das Credo des christlichen Abendlandes. Wenn sie die Erde à la Hollywood in einem Inferno vernichten, haben sie endgültig erkannt, was die Welt im Innersten zusammenhält: das Nichts.

Warum heißt der Heros der Deutschen Faust? Weil er mit der Faust die Welt erschlagen muss.

Weh! weh!

Du hast sie zerstört

Die schöne Welt,

Mit mächtiger Faust;

Sie stürzt, sie zerfällt!

Ein Halbgott hat sie zerschlagen!

Wir tragen

Die Trümmern ins Nichts hinüber,

Und klagen

Über die verlorne Schöne.

Mächtiger

Der Erdensöhne,

Prächtiger

Baue sie wieder,

In deinem Busen baue sie auf!

Neuen Lebenslauf

Beginne,

Mit hellem Sinne,

Und neue Lieder

Tönen darauf!

Erst muss alles zerschlagen werden, dann kann der kleine Gott sich und die Welt neu erfinden.

Anfänglich begnügten sich die Deutschen mit Neuerschaffen im Busen. Später erweiterten sie ihren Busen zur Welt, die sie zertrümmerten, um einen „neuen Lebenslauf mit neuen Liedern“ zu beginnen.

Wie entsteht neues Leben in der Natur? Durch Zeugen und Gebären. Wie entsteht neues Leben in der Religion? Durch die Kreation des Todes. Der Tod ist der mäeutische Akt des Neuen, welches das Alte aus dem Weg räumen muss.

Man füllt nicht neuen Wein in alte Schläuche, sonst zerreißen die Schläuche und der Wein wird verschüttet und die Schläuche gehen zugrunde. Sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, dann bleiben beide miteinander erhalten. Niemand setzt aber ein Stück neues Tuch auf ein altes Kleid; denn von dem Kleid reißt sein Flickstück einen Teil ab und der Riss wird schlimmer. Ziehet den alten Menschen aus. Siehe, ich schaffe den neuen Himmel und die neue Erde. Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden.

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Wie kann jemand neu geboren werden? Ihr müsst von Oben neu geboren werden. Ersäuft den alten Adam im Bad der Wiedergeburt. Der Herr wird ein Neues im Land schaffen, mit den Menschen wird er einen neuen Bund schließen.

Die Religion des Neuen Testaments musste die des Alten Testaments aus dem Wege räumen. Die Deutschen waren die Vorbildlichsten unter den Erneuerern, die die Alte Welt in Trümmer legten. Erwache Deutschland, ist eine vergleichbare Metapher. Erwachen aus dem Tode der Nacht und des Schlafs ist Neuwerden im Licht des Tages, dem seligen Licht der Erleuchtung. Ihr seid das Licht der Welt. Darin aber besteht das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht.

Amerikaner sind keine Menschen, wenn sie nicht neu geboren werden.

Deutsche sind keine Menschen, wenn sie sich nicht täglich neu erfinden.

Das eine ist identisch mit dem anderen.

Die sokratische Gebärkunst war das Entbinden neuer Erkenntnisse, die uralt waren, mit Hilfe schlüssiger Fragen. Erkennen war nichts als Erinnern, Einsicht war Anamnese.

In der Religion gilt Erinnern als Verhaftetsein an das Alte und Sündige: Gedenket nicht des Früheren und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues. Wir schauen nicht zurück, wir blicken nach vorn in die Zukunft. Das ist das vergangenheitstötende Motto heutiger Leistungsträger, die – sofern sie deutsch sind – nicht wissen, dass sie den Spuren Jesajas folgen. So modern sind sie.

Die theologische Mäeutik stellt keine Fragen, sie predigt. Mit Allmacht vertilgt sie das Alte. Aus dem Leichnam des Alten kommt das Neue.

„Heulet, denn des HERRN Tag ist nahe; er kommt wie eine Verwüstung vom Allmächtigen. Darum werden alle Hände schlaff und aller Menschen Herz wird feige sein. Schrecken, Angst und Schmerzen wird sie ankommen; es wird ihnen bange sein wie einer Gebärerin; einer wird sich vor dem andern entsetzen; feuerrot werden ihre Angesichter sein. Denn siehe, des HERRN Tag kommt grausam, zornig, grimmig, das Land zu verstören und die Sünder daraus zu vertilgen. Denn die Sterne am Himmel und sein Orion scheinen nicht hell; die Sonne geht finster auf, und der Mond scheint dunkel. Ich will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen. Und sie sollen sein wie ein verscheuchtes Reh und wie eine Herde ohne Hirten, daß sich ein jeglicher zu seinem Volk kehren und ein jeglicher in sein Land fliehen wird, darum daß, wer sich da finden läßt, erstochen wird, und wer dabei ist, durchs Schwert fallen wird. Es sollen auch ihre Kinder vor ihren Augen zerschmettert werden, ihre Häuser geplündert und ihre Weiber geschändet werden.“

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber erstirbt, trägt es viel Frucht. Wer sein Leben liebt, verliert es und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.“

Der Hass aufs Leben ist die beste Zukunftsinvestition. Wer das Leben auf Erden liebt, verspielt sein ewiges Heil und verdirbt die Welt. Du Tor, was du säst, wird nicht lebendig gemacht, wenn es nicht zuvor stirbt.

Abendländische Kreativität und Erneuerung beruht auf restloser Beseitigung dessen, was besteht. „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“ (Faust)

Die Hegel‘sche und Marx‘sche Dialektik ist ohne Negation des Bestehenden nicht möglich. Negieren ist nicht nur Widersprechen, sondern Auslöschen. Die fruchtbare Zerstörung Schumpeters ist die westliche Variante der östlichen Negation. Erst zunichte machen, dann erscheint das Neue. Gegenwärtig befinden wir uns in einer Phase des Überflüssigen und Überdrüssigen. Es wird Zeit für eine totale Negation.

„Nehmen wir ein Gerstenkorn […] es keimt; das Korn vergeht als solches, wird negiert, an seine Stelle tritt die aus ihm entstehende Pflanze, die Negation des Korns. Aber was ist der normale Lebenslauf dieser Pflanze? Sie wächst, blüht, wird befruchtet und produziert schließlich wieder Gerstenkörner, und sobald diese gereift, stirbt der Halm ab, wird seinerseits negiert. Als Resultat dieser Negation der Negation haben wir wieder das anfängliche Gerstenkorn, aber nicht einfach, sondern zehn -, zwanzig -, dreißigfacher Anzahl. (Engels, Anti-Dühring)

„Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“ Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche. Erst musste Jesus den Tod finden, damit er Herrscher des Universums werden konnte. Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es retten. Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, nähme aber Schaden an seiner Seele? Entweder Seele oder Welt. Die alte Welt ist mit der neuen Kreatur nicht vereinbar.

Die Gesetze der Marx‘schen Heilsgeschichte können wir nicht ändern, wir müssen ihnen gehorchen. Nur ihre Wehen können wir verlängern oder verkürzen. Die Wehen der Geschichte bestehen im Absterben der alten Ausbeuter. Ohne Tod und Verderben der alten Welt – bei Marx „Vorgeschichte“ genannt – kein Reich der Freiheit.

Warum sind Proleten die wahren Erben des Reiches der Freiheit? Weil sie nichts zu verlieren haben außer ihren Ketten. Sie sind Kandidaten des Todes, die zu Siegern der Geschichte werden, indem sie den Tod an die Ausbeuter weitergeben. Auf den Knochen der alten Geschichte erhebt sich das paradiesische Reich der Freiheit.

Ohne Opfer kein Heiliges. Es muss Blut fließen, es muss gestorben werden. Im Kapitalismus muss es Reinigungskrisen geben, in denen die Überflüssigen und Fehlangepassten aussortiert werden. Krisen sind not-wendend und fruchtbar. Nur Bankrott, Tod und Verderben bringen die Menschheit weiter.

Das ewige Stirb und Werde war bei den Griechen kein Sterben ins Nichts, sondern Zurückkehren in die Natur. Die Moderne kennt Sterben nur als Produktion von Abfall, der der Natur Tod und Verderben bringt. Der Liebling Gottes lebt auf Kosten der außermenschlichen Natur.

Michael Braungart ist der einzige unter den bekannten Ökologen, der den Kreislauf des Werdens und Vergehens in Technik übersetzt. Technik allein aber wird nicht genügen. Wir müssen auch verstehen, was wir tun.

Die gesamte deutsche Ökologie ist mit jener Ideologie kontaminiert – der Theologie –, die den Tod der Natur fordert, um Neues entstehen zu lassen. Heraklit betont Werden und Vergehen der Natur, aber kein Entstehen aus Nichts und Vergehen ins Nichts.

Wirtschaft und Wissenschaft sind die lebensgefährlichsten Disziplinen, die das abendländische Credo hervorgebracht hat. Wirtschaft schaufelt den Reichtum der Menschheit in wenige Hände, doch Wissenschaft zerstört die natürliche Basis seines Überlebens.

Die Anfänge der Wissenschaft liegen in Hellas, dort sollte sie der Bewunderung der Natur dienen. Die Christen lehnten sie zunächst als heidnische Weisheit ab. Dann aber bemerkten sie das Machtpotential des Wissens und machten es zum Instrument des biblischen Auftrags: macht euch die Erde untertan.

Sie wollten kein Wissen an sich – Wissen war verbotene Neugierde auf Gottes Schöpfungsgeheimnisse –, sie wollten Nutzen. Nutzen als Frucht des Erkennens lehnten die Griechen als Blasphemie ab.

Die beiden Bacons in England gingen den umgekehrten Weg. Nutzloses Wissen lehnten sie als Müßiggang ab und begründeten die moderne Naturwissenschaft als Disziplin des disseccare naturam, des Zerstückelns der Natur. Bei Descartes war der Mensch der omnipotente Meister der Natur, die er nach Belieben schikanieren konnte.

Das Wissen, das die Naturwissenschaftler sammelten, war kein göttliches Wissen an sich – das war Gott vorbehalten –, es war nur brauchbar zur Machtdemonstration. Echtes Wissen hätte den Menschen von der Vergewaltigung der Natur abgehalten.

Es ist wie bei jenen Vergewaltigern, die nur fremden oder verachteten Frauen zur Strafe ihrer Minderwertigkeit Gewalt antun. Nutzanwendung ist die von Gott erlaubte, ja gebotene Vergewaltigung der in Sünde gefallenen Natur. Frauen, die man kennen und schätzen würde, könnte man unmöglich schänden. Weibliche Natur muss fremd und unerkennbar sein, damit man sich an ihr vergehen kann.

Bacon verwarf alle Philosophien, die nur Worte machten, als „nutzlose Mythen“ und setzte jene Wissenschaft an die Stelle des Denkens, die technische Folterwerkzeuge versprach. Seit Francis Bacon ist das Ansehen der reinen Wissenschaft auf den Nullpunkt gesunken. Auch die Philosophie wird seitdem mit Verachtung bestraft.

Für Marx, selbst gelernter Philosoph, war sein Fach nichts als vergeudetes Schwatzen. Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.

Heute müsste man sagen: Wissenschaft und Technik haben die Natur bisher nur verschandelt, es kömmt darauf an, sie als Heimstatt des Menschen zu behüten und zu bewahren.

Bacon sah das Ziel der Wissenschaft nicht in der Mehrung der Wahrheit und in der Fülle des Geistes, sondern in der Vermehrung und in der Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse. Der Antike warf er vor, kaum ein Experiment ersonnen zu haben, „das zur Erleichterung und zur Hebung der Lage der Menschen diente“.

Ab jetzt wurde der Fortschritt zum Maßstab des Lebens. Nicht Fortschritt im Erwerb von Weisheit und Klugheit, sondern im Übermächtigen der Natur. Kompaß, Schießpulver und der Buchdruck „verwandelten das Gesicht und den Zustand der Welt und hatten unendliche Veränderungen zur Folge, sodass kein Reich, kein Stern mehr Macht und Einfluss auf das Leben ausübte, als diese Erfindungen.“

Diese Erfindungen waren für Bacon „Nachahmungen der göttlichen Werke“, denen er Schöpfungsqualitäten zusprach. Die technische Überlegenheit der Europäer über die Wilden Neu-Indiens begründete ihm das spätere Hobbes-Wort von dem homo hominis Deus oder der Gottgleichheit des homo faber.

Bacon widersetzte sich jenen Theologen, die den neuen Wissenschaftsgeist als Hybris und neue Erbsünde verteufelten. Bacon fühlte sich hingegen im Einklang mit der Bibel. Wenn es ihm nicht um Wissen an sich ging, traf die paulinische Verdammung des heidnischen Wissens nicht seine nutzenbasierte Technik.

Erkenntnis bläht auf? Natürlich, aber Bacons novum organum strebte nach Untertanmachen der Erde, nicht nach grundlegendem Erkennen, welches Gott vorbehalten war. Viel Wissen bringt viel Unmut? Wer die Wissenschaft mehrt, mehrt den Schmerz? Die biblischen Warner vor dem Wissen hatten völlig recht. Doch die Warnungen betrafen nicht Bacons neue Methode, die man nicht als Wissen-schaft, sondern als Nutzen-schaft hätte bezeichnen sollen.

Betrachtet man Bacon als Begründer der modernen Wissenschaft, müssen wir festhalten, dass Naturwissenschaft und Technik der Neuzeit keine Grundlagenwissenschaften sein können. Ihnen geht es nicht um Wissen um des Wissens willen, ihnen geht‘s um Beute und Herrschaftsinstrumente. Der desolate Zustand der gegenwärtigen Wissenschaft scheint diese Diagnose zu bestätigen. Von Anfang an ging es den Szientisten nicht um Erkennen und Verstehen der Natur. Bis heute geht es ihnen um Nutzen-,Macht- und Geldzuwachs. (Gerd Antes im SPIEGEL)

Die moderne Wissenschaft ist zur gefährlichsten Waffe der Menschen im Vernichtungskampf gegen die Natur geworden. Dass es ihnen nicht ernst ist um wahre Einsicht, erkennt man schon an den Wissenschaftsclowns der Medien, die – wie lärmende Marktschreier – ihre Berichte und Sendungen enervierend mit „faszinierend“ und „sensationell“ anpreisen. Würden sie wahre Erkenntnisse vermitteln, könnte sich das Gefühl mäeutischer Einsicht bei Lesern und Zuschauern von selbst einstellen.

„Einsicht und Leidenschaft“ nannte ein Philosoph sein Buch über das platonische Wissen. Platon sprach vom philosophischen Eros, von der Lust an der Wahrheit. Wer Natur in ihrer Schönheit erkannt hat, der will sie nie mehr zerstückeln.