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Hello, Freunde des Lesens,

man stelle sich vor, ein Prophet namens Joseph Smith II würde mit der Fortsetzung des Buches Mormon in der Öffentlichkeit Furore machen. In seiner neuen heiligen Schrift stünden so anheimelnde Sätze wie: „Rottet alle Menschen aus, die dem Buch Mormon nicht gehorchen. Häutet sie, grillt sie, köpft sie, zerstückelt ihre Leichname und werft sie den Schweinen zum Fraß vor. Tut ihr das nicht, werdet ihr selbst von einer höheren Macht zerlegt.

Würde man den Verfasser dieser Offenbarung nicht sofort ins Gefängnis oder in die Psychiatrie stecken? Die Medien wären voller Geschrei über die zunehmende Verrohung und ungeheure Anmaßung selbsternannter Propheten, die den etablierten Religionen das Wasser abgraben wollten.

Smith, der Schreiber der blutrünstigen Postille – pardon, der Empfänger der Offenbarung – wird angeklagt und muss vor Gericht Rede und Antwort stehen:

Was haben Sie sich dabei gedacht, solche Barbarismen als neue Religion zu verkaufen? Das ist ein totalitärer Aufruf zur Ausrottung aller Menschen, die Ihre Offenbarungen als Fieberträume eines Psychotikers ablehnen.

Erstaunt würde der Angeklagte erwidern: Hohes Gericht, das Buch, das ich hiermit der Menschheit vorlege, damit sie den Weg des Heils finde, ist ein geistliches Buch und muss geistlich verstanden werden. Sie, Hohes Gericht, haben nur rohe Buchstaben gelesen. Die wahre Botschaft kann man nur erfassen, wenn man die ordinäre Schrift der Welt durchdringt und den verborgenen Inhalt des Textes entdeckt. Meine Richter, sind Sie nicht Christen? Dann müsste Ihnen

das Prinzip bekannt vorkommen. In Ihrer Heiligen Schrift steht im ersten Korintherbrief 2,12 ff genau das, was ich meine:

„Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist; welches wir auch reden, nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der heilige Geist lehrt, und richten geistliche Sachen geistlich. Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich gerichtet sein. Der geistliche aber richtet alles, und wird von niemand gerichtet. Denn „wer hat des HERRN Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen?“ Wir aber haben Christi Sinn.“

Paulus führt einen vehementen Angriff auf die grundlegenden Kulturtechniken des Abendlands: auf Lesen, Schreiben und Verstehen. Die Schrift wurde erfunden, um die Gedanken der Menschen zu fixieren, damit sie über alle Zeiten, Grenzen, Religionen und Philosophien hinweg ins Gespräch kommen.

„Doch gut Ist ein Gespräch und zu sagen Des Herzens Meinung, zu hören viel von Tagen der Lieb‘, Und Thaten, welche geschehen. Wo aber sind die Freunde?“ (Hölderlin)

Kulturtechniken haben einen hohen Sinn. Fremde Menschen wollen sie durch Lesen, Verstehen, Fragen und Debattieren zu Freunden machen. Lesen ist Überwinden zeitlicher, nationaler und weltanschaulicher Grenzen. Die Angst vor dem Fremden kann durch Lesen und Verstehen überwunden werden. Aus Feinden und Unbekannten können Freunde und Vertraute werden.

Natur kann ich direkt erkennen (wenn ich sie nicht mit Hilfe mathematischer Formeln in meinen Dienst zwingen will), Menschen kann ich erkennen, wenn ich ihre schriftlich fixierten Gedanken lese und zu verstehen versuche. Lesen ist ein stummes Gespräch, das durch ein gesprochenes Gespräch komplettiert werden will.

Platon lehnte Bücher ab, obgleich seine Schriften die europäische Geschichte in hohem Maße mitprägten. Das Gedächtnis würde Schaden nehmen, wenn man sich auf Geschriebenes verließe, meinte er. Gottseidank folgte er nicht seiner eigenen Bücheraversion.

Wer lesen will, um die Welt kennen zu lernen, muss den Menschen – den Verfasser der Schriften – so hoch einschätzen, dass er seine Bücher kauft, sie pfleglich behandelt, um die Schätze verflossener Weisheiten – und Torheiten – nicht zu verlieren.

Die Moderne will von der Weisheit des Vergangenen nichts wissen. Was von gestern ist, muss entsorgt werden. Die Kategorie des kannibalischen Neuen vernichtet die Vergangenheit, das Archiv der akkumulierten Erkenntnisse der Gattung. Der Mensch soll nichts lernen. Also desavouiert die Erkenntnisschätze der Vergangenheit und ergebt euch den Dummheiten einer konturlosen Zukunft, die nur Wert hat, weil ein Messias sich adventisch angekündigt hat.

Die Kategorie der Offenbarung – den passiven Menschen autoritär diktiert –, hat die heidnischen Kulturleistungen frontal in Frage gestellt. Was sündige Menschen schreiben, ist belanglos, irreführend und gefährlich, denn das Geschriebene unterstützt die Hybris der Sterblichen, dass sie etwas zu sagen hätten.

Geschriebenes ist für alle geschrieben, Offenbartes nur für wenige Erwählte. Zum Verstehen des Geschriebenen benötigt man seine Vernunft, die sich mit der Vernunft aller Menschen verbinden, Dialoge führen, vielleicht zu einem gemeinsamen Ergebnis führen kann. Doch schon der Zweck eines mäeutischen Gesprächs, am Ende zu einem gemeinsamen Fazit zu kommen, gilt in der Moderne als totalitäre Einebnung der Unterschiede.

Natürlich gilt das nicht für die alleinseligmachende Lehre der kapitalistischen Wirtschaft selbst. Wer mit Neoliberalen debattiert, muss sich klarmachen, dass er es – wie bei Zeugen Jehovas – mit Dogmatikern zu tun hat. Im Gegensatz zu belanglosen Zeugen Jehovas aber ist der Neoliberalismus die allein herrschende Seligkeitslehre der Gegenwart, die sich einen Spaß daraus machen kann, außerhalb ihrer heiligen Hallen die Postmoderne zu unterstützen. Sollen sie doch daran verzweifeln, Verständigung zwischen Menschen herzustellen.

Wenn Menschen einsehen, dass es keine Wahrheit gibt, werden sie Mühe haben, einem neoliberalen Oberpriester ihre kapitalismuskritische Winkelperspektive der Welt als Wahrheit anzubieten. Neoliberale sprechen wie Stalin, der nach den Bataillonen des Vatikan fragte, um die Relevanz der katholischen Ideologie einzuschätzen.

Dass zwei Menschen sich durch beidseitig-freiwilliges Erkennen verständigen können und nicht durch autoritäres Machtgehabe, ist für außengeleitete Wirtschaftler und Konsumprediger nicht nachvollziehbar.

David Riesman war ein Schüler Fromms, als er seine soziologischen Kategorien vom außen– und innengeleiteten Menschen entwickelte. Ein innengeleiteter Mensch ist heute ein Fall für die NSA, er macht sich verdächtig, wenn er die üblichen Anpassungsleistungen an die amerikanische Kanaangesellschaft verweigert. Zwischen einem philosophischen Eremiten und einem zurückgezogenen terroristischen Bombenbastler kann kein NSA-Algorithmus unterscheiden.

Selbst, wenn es der NSA gelingen würde, an die schriftlichen Gedanken des Philosophen heranzukommen, wären sie unfähig, die Meinungen des Denkers zu erfassen. Sie können nur plakative Handlungen erfassen. Was Menschen denken, bleibt für sie ein Rätsel. Nicht selten passiert es, dass sie Gespräche in der letzten afghanischen Provinz aufzeichnen, da sie aber niemanden haben, der den dortigen Dialekt versteht, bleiben die gesammelten Gespräche ungenutzt.

Sie sammeln ungeheuer viele Daten, können aber nur das Allergröbste abschöpfen. Haben die Schnüffler das Ende der Sowjetunion vorhergesehen? (Vorhersehen ist Sehen, was in der Gegenwart geschieht, Prophetenkünste gibt es nur in Offenbarungsschriften.) Haben sie erkannt, dass Saddam über keine Giftwaffen verfügte? Haben sie die jetzigen Zerwürfnisse in Nahost gesehen?

Es ist wie bei den Pharisäern: sie seihen Mücken und schlucken Elefanten. (Jetzt erst kam heraus, warum die Alliierten im 2. Weltkrieg nicht die Gleise nach Auschwitz bombardierten. Die Fotos von ihren Aufklärungsflugzeugen (1944) wurden erst im Jahre 1978 von der CIA bearbeitet!) Geist kann nur von Geist erkannt werden und nicht von superintelligenten Vollidioten.

Offenbarungsschriften lassen sich durch „natürliches“ Verstehen nicht entschlüsseln. Geistliche Dinge müssen geistlich beurteilt werden. Nur Erwählte haben von Gott jene geistliche Fähigkeit erhalten, um seine heilbringenden Worte zu verstehen. Natürlich-heidnische Vernunft steht vor den heiligen Texten wie der Ochs vor dem Scheunentor.

Die Schriften Gottes oder seine Offenbarungen richten sich – äußerlich betrachtet – an alle Menschen. Doch nur geistlich Begabte besitzen den Decodierungsschlüssel, um den verborgenen Sinn der Schriften zu entziffern. Geistliches muss geistlich beurteilt werden.

Jetzt die unfassbare Schlussfolgerung: „Der Geistbegabte beurteilt zwar alles, er selbst aber wird von keinem beurteilt. Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, dass er ihn unterwiese? Wir aber haben den Sinn Christi.“ (1.Kor. 2,15 f)

Nur Christen können die Welt erkennen, die Welt kann keine Christen erkennen. Nur Christen können ihre heiligen Bücher richtig auslegen. Heiden können die Buchstaben erfassen, sonst aber nichts.

Der Buchstabe tötet, nur der Geist macht lebendig. Das ist das christogene Geheimnis der heutigen Hermeneutik. Obgleich Luther die Deutungshoheit des Klerus abschaffen wollte, hat er heute auf der ganzen Linie verloren. Selbst seine Lutheraner haben sich den hexenhaften Deutungskünsten der geistlichen Klasse unterworfen.

Luther ist an diesem Fiasko nicht unschuldig. Die esoterische Priesterklasse wollte er abschaffen – indem er ein esoterisches Buch an ihre Stelle setzte. Den Papst wollte er abschaffen, indem er einen papiernen Papst in jede Familie einführte. Es ist wie mit dem ganzen Werk Luthers: zwei Schritte vor und drei zurück.

Luther war ein Verhängnis für Deutschland, sagte der Sohn eines lutherischen Pastors Nietzsche: „Luther stellte die Kirche wieder her: er griff sie an …“ Er verscheuchte die vatikanischen Popen und servierte seiner Gemeinde jene besserwissenden orthodoxen Pfarrer, die allen Widerstand der Gemeinde und Andersdenkender mit Schriftkenntnissen niederbügelten.

Es begann der Sieg der Bildung über die unwissende Menge. Die protestantischen Theologen mussten nicht nur Latein, sondern die Bibel in der Urschrift lesen können: hebräisch für das Alte Testament, griechisch für das Neue Testament. Welches Bäuerlein, das seine Bibel mühsam entziffern konnte, war in der Lage, gegen diese überlegenen Bildungskünste anzugehen?

Ab der Reformation wurde Bildung in Deutschland zur esoterischen Herrschaftskunst. Noch heute schwafeln die Medien in „geistbegabter Esoterik“ auf ihren Kulturseiten. Sie schreiben nur für ihre Kollegen und jene Professoren, bei denen sie studiert haben, um ihnen nachträglich zu beweisen, dass sie nicht nur ihre Lektion gelernt, sondern sie in allen Dingen überrundet haben.

Betrüblich, aber wahr: deutsche Edelschreiber sind unfähig, Geistiges und Kulturelles so darzustellen, dass Otto Normalverbraucher es verstehen könnte. Warum wohl werden von den meisten nur die Sportseiten gelesen, der Rest wandert in die Papiertonne? Dies sind die Gründe für den Verfall des deutschen Journalismus und nicht fehlende 3.0-Fisimatenten wie momentan beim bankrottierenden SPIEGEL.

An die Stelle der ätherisch predigenden Kanzelredner sind esoterische Edelschreiber getreten. Erst jetzt, wo der Plebs sich per Internet zu Worte melden kann, merken sie, dass sie mit ihren geistbegabten hohlen Formeln für das Nirwana schreiben.

Deutschland ist von Luthers folgenlosen Kraftgebärden verseucht: zuerst auf dicken Max machen und dann vor jedem Provinzialfürsten in die Knie gehen. Nicht zufällig waren die ersten Opfer Luthers die wahrhaft revolutionären Bauern, die gehofft hatten, dass der Wittenberger tatsächlich etwas von der Freiheit eines Menschen verstünde und sie in ihrem Kampf gegen die Unterdrücker unterstützen würde. Allein, es war nur die illusionäre Freiheit eines Christenmenschen – der in Wirklichkeit ein Knecht aller Dinge und jedermann untertan ist.

Fegt Luther in die Tonne. Deutschland braucht eine wirkliche Revolution im Kopf, die vor deutschen Heiligen nicht Halt macht. Die wird sich nur einstellen, wenn jeder seine Bibel lesen könnte – ohne hermeneutische Büttel, die ihm vorschreiben, wie er zu lesen und was er zu verstehen hat. Die Deutschen kommen von der psychischen Tyrannei ihres heiligen Buches nur los, wenn sie begreifen, was dort für Ungeheuerlichkeiten stehen.

„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, eine ungeheuer kluge Zeitung, hinter der ich meinen dummen Kopf verstecken kann, eine angela-gleiche Regierung, die mir das politische Denken abnimmt – so brauche ich mich nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich mich hinter Großkopfeten verstecken kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“

Keine Rede, dass die gebildeten Eliten um ein Jota freiheitlicher und autonomer wären als ihr dumpf blökendes Publikum. Sie haben nur andere Autoritäten, hinter denen sie sich verstecken. Ihr Über-Ich ist Amerika und Israel:

Oh, sage uns Silicon Valley, welch verheißungsvolle Zukunft uns erwartet, oh, sage uns, Wallstreet, wie wir zocken sollen, um die 99% der Überflüssigen an die Kette zu legen, oh saget uns, Netanjahu & Graumann, was Antisemitismus und Menschenrechte sind, und für wen sie gelten und vor allem, für wen nicht. Wir sind wie Hiob: „Darum haben wir geredet in Unverstand, Dinge, die zu wunderbar sind für uns, die wir nicht begriffen.“

Gestern debattierte Maischberger das Thema: Bedroht dieser Islam auch uns?

„Der Journalist Oliver Jeges hingegen zitierte eine Sure, die angeblich zum „Schlachten der Ungläubigen“ aufrufe und stellte fest: «Der Koran gibt auch den Fundamentalisten ihre Legitimität.»“ (DIE WELT)

Es geschah, was in jeder geistbegabten Erlöserreligion geschehen muss. Eine esoterisch Wissende legt klar, dass der Buchstabe tötet, aber der Geist lebendig macht. Wenn die Buchstaben mit der Kalaschnikow feuern, muss der Geist der Erleuchtung kommen – und siehe, der Sinn der Stelle schlägt um in das Gebot der Lindigkeit und Sanftmut:

„Seine Kollegin Khola Maryam Hübsch erklärte dann, diese Sure beziehe sich auf das Recht zur Selbstverteidigung und sei nur in Bezug auf die Verfolgungserfahrungen der ersten Muslime richtig zu interpretieren.“

Der Geistbegabte beurteilt alles, er selbst wird von niemandem beurteilt. Mündige Menschen lassen es sich gefallen, wenn anmaßende Offenbarungsträger ihnen per ordre de mufti beibringen wollen, wie sie zu lesen haben.

Die babylonische Gefangenschaft der gläubigen Untertanen gilt selbst in Demokratien. Sogar für Gottlose. Götz Werner, der einen bewundernswerten Kampf zur Einführung des BGE führt, fühlte sich gleichwohl genötigt, bei dem bayrisch-katholischen Theologen Biser nachzufragen, was der paulinische Satz bedeutet: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.

Das Todesurteil für Faulenzer, Müßige und Arbeitsverweigerer passt schlecht zum Konzept eines bedingungslosen Grundeinkommens und Götz Werner hätte so gern den geistlichen Segen für seine Idee gehabt. Biser erfüllte die Erwartungen Werners problemlos und wies scharfsinnig nach, dass Paulus im Grunde das Gegenteil dessen gemeint hatte, was er mit irdischen Worten camouflieren wollte.

Wie heißen die Originalzitate Mohammeds?

“Und tötet sie, wo (immer) ihr sie (die Ungläubigen) zu fassen bekommt. Und wenn sie sich abwenden (und eurer Aufforderung zum Glauben kein Gehör schenken), dann greift sie und tötet sie, wo (immer) ihr sie findet, und nehmt euch niemand von ihnen zum Beschützer oder Helfer!”

Kann es die leisesten Zweifel geben, was Mohammed seinen Jüngern befahl? Je unleugbarer der Text, je mehr wollen die humanistischen Deuter des Korans den mörderischen Inhalt ihrer heiligen Schriften verdrängen und ungeschehen machen. Ihr humaner Wille ist unbestritten. Doch sie verfangen sich in einer selbstgestellten Falle. Man kann den Kuchen nicht essen und ihn dennoch haben.

Ihr Humanismus ist Kritik und mit dem Koran in keiner Weise vereinbar. Das wollen die kritischeren Gläubigen nicht zur Kenntnis nehmen. Sie wollen human sein und dennoch mit Haut und Haaren an ihren Texten festhalten. Sie haben Angst, sich von einem göttlichen Text radikal zu lösen – und wenn sie ihn noch so totalitär empfänden.

In praktischer Hinsicht haben sich die meisten Gläubigen vom barbarischen Sinn ihrer Schriften gelöst. Ihre Alltagsmoral hat mit blutrünstigen Stellen des Propheten nichts gemein. Gleichwohl muss man ihnen vorwerfen: es genügt nicht, die Lippen zu spitzen, man muss auch pfeifen. Wenn ihr euch nicht von dem menschenfeindlichen Text löst, legitimiert ihr – ob ihr wollt oder nicht – immer noch die Gräueltaten jener Fundamentalisten, die ihre Verbrechen mit dem Buchstaben ihrer heiligen Schrift begründen.

Es sind die religiösen Terroristen, die den Sinn der Texte unverfälscht bewahren. Sollte Gott denn unfähig sein, seinen Geschöpfen etwas unmissverständlich mitzuteilen? Leidet er unter Wortfindungsstörungen? Versteht er die Sprache seiner Kreaturen nicht?

Wer durch beliebige Deutung den ursprünglichen Sinn der Texte verdreht, ist ein Lügner und Fälscher – auch wenn er aus humanen Motiven handelt. Wo kämen wir hin, wenn dieselbe Verdrehungskunst in der Justiz, in der Wissenschaft, in der Politik gälte?

Wer seine Religion humanisieren will, muss sie schärfstens kritisieren. Alles andere ist Selbstbetrug und dient nur dem mörderischen Hass jener, die ihren Gott mit Töten und Quälen beweisen wollen.

Lesen und Verstehen mit Hilfe des menschlichen Verstandes war die große Errungenschaft der Griechen. Der Herr des Himmels aber ist eifersüchtig auf die Kompetenzen der Menschen. Sie sollen unfähig sein, miteinander auszukommen oder gar ihre Seligkeit zu erringen – ohne seine omnipotente Hilfe. Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, also muss der himmlische Arzt alle Menschen zu Kranken machen, damit der Erlöser gebraucht werde.

Das bezieht sich auf die banalsten Kulturfähigkeiten des Menschen. Selbst Lesen und Verstehen sollen sie ohne seinen Beistand nicht können. Einen Heiden, der Jesaja las, sollte der Jünger Philippus befragen: „Verstehest du auch, was du liesest? Er aber sagte: Wie sollte ich es denn können, wenn mich niemand anleitet?“

Lesen wurde zur Geheimwissenschaft einer erwählten Elite. Soviel zur Lüge: vor Gott sind alle Menschen gleich. Jesus sprach in Gleichnissen, damit sie mit sehenden Augen nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht hören. Lesen und Denken, die humane Kunst aller Menschen wurde zum Selektionsmittel. Den Weizen in die Scheuer, die Spreu ins Feuer.

Weiter als der Hofbeamte aus Äthiopien hat es die christliche Moderne bis zum heutigen Tag nicht gebracht. Das gilt nicht nur für Gläubige. Auch die Ungläubigen lassen sich von esoterischen Zauberkünstlern an der Nase herumführen und trauen sich nicht, ihre eigene Meinung über das Heilige zu gewinnen.

Der Buchstabe ist selbst Geist. Wer lesen kann, wird den Geist nur erfassen, wenn er den Buchstaben respektiert.

„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ (Kant, Was ist Aufklärung?)