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Konvergenz, Divergenz

Hello, Freunde der Konvergenz,

oder der gegenseitigen Anpassung. Unterschiede werden abgetragen, Differenzen verschwinden, Gegensätze nähern sich an, Ungleichheiten nivellieren. Am Ende ist alles ein Einheitsbrei – sagen die einen. Und die andern: ungerechte Verhältnisse werden durch Gleichheit gerecht, Gleichheit schafft Gerechtigkeit.

In regelmäßigen Abständen lesen wir, die Reichen werden immer reicher. Zuckerberg hat in kurzer Zeit sein Vermögen verdoppelt. Denen, die haben, wird gegeben, denen, die nichts haben, wird noch genommen, was sie haben. Die Bibel ist das Rechtfertigungsbuch der Ungleichheit.

Die Heilsgeschichte endet in unüberbrückbaren Gegensätzen der Menschheit. Wahre Menschen und Lieblinge Gottes werden gerettet, menschenähnliche Feinde Gottes verdammt. Erwählte betrachten Unerwählte als Untermenschen. Ohne Selektion der Erlöserreligionen keine Rassenselektion. Rasse war das scheinwissenschaftliche Erbe der wahren Religion, die alle anderen ausschließt.

Für Erlösungsgläubige ist die gesamte Geschichte ein Selektionsprozess. Die einen werden erwählt, die anderen verworfen. Ein christlicher Westen kann keine Gleichheit herstellen. Gleichheit muss er als heidnische Nivellierung verwerfen. Unumkehrbare Ungleichheit des Finales soll im Laufe der Geschichte in vorauseilendem Gehorsam vorweggenommen und hergestellt werden.

Geschichte hat keinen anderen Sinn als auf das ultimative Ende vorzubereiten. Der Sinn des Lebens besteht nicht im Leben, im Jetzt, im Hier, sondern im Durchhasten der irdischen Zeit, um der Ewigkeit in die

zwiespältigen Arme zu fallen. Ewige Pein für die einen und ewige Seligkeit für die anderen. Kein Tod als Ende aller Qualen. Die Fähigkeit zu sterben und nicht mehr zu sein, wäre größte Seligkeit – die von unfehlbaren Peinbereitern eliminiert worden ist.

Der Tod ist der große Gleichmacher. Also muss er mit Ewigkeitsphantasien beseitigt werden. Religionen mit Ewigkeitsperspektiven wollen den Gleichmacher Tod besiegen. Der Messias hat den Tod überwunden, das unendliche Leben an seine Stelle gesetzt. Ab jetzt wird nur scheinbar gestorben. In Wirklichkeit ist der Tod nur eine Übergangszeit, um eines Tages ins Stadium ewiger Todlosigkeit überzugehen.

Eine Menschheit, die nicht sterben kann, kann nie Gleichheit herstellen. Anbeten der Ewigkeit ist Vergöttlichung der Ungleichheit. Wenn die Menschheit sich nicht mit dem Tod versöhnt, ist sie zu ewiger Pein verurteilt.

Und nun das schreckliche Geheimnis: auch die ewig Seligen leiden ewige Pein. Sie leiden unter der Pein derer, die von ihnen getrennt wurden, um von ewiger Pein bestraft zu werden. Es sind ihre Lieben, die ewig von ihnen getrennt endlose Pein ertragen müssen. Und darüber sollen sie sich ewig freuen und tun, als hätten sie keine Gefühle für die Verdammten?

Bei solchen Brutalitäten versinkt alles. Das sollen die größten Freuden der Erwählten sein, wenn sie die ewigen Qualen ihrer Lieben ewig mit ansehen müssen:

„Was wird da der Gegenstand meines Staunens, meines Lachens sein? Wo der Ort meiner Freude, meines Frohlockens? Wenn ich so viele und so mächtige Könige, von welchen es hieß, sie seien in den Himmel aufgenommen, in Gesellschaft des Jupiter und ihrer Zeugen selbst in der äußersten Finsternis seufzen sehe; wenn so viele Statthalter, die Verfolger des Namens des Herrn, in schrecklicheren Flammen, als die, womit sie höhnend gegen die Christen wüteten, zergehen; wenn außerdem jene weisen Philosophen mit ihren Schülern, welchen sie einredeten, Gott bekümmere sich um nichts, welchen sie lehrten, man habe keine Seele, oder sie werde gar nicht oder doch nicht in die früheren Körper zurückkehren – wenn sie mitsamt ihren Schülern und von ihnen beschämt im Feuer brennen, und die Poeten nicht vor dem Richterstuhl des Rhadamantus oder Minos, sondern wider Erwarten vor dem Richterstuhl Christi stehen und zittern! Dann verdienen die Tragöden aufmerksameres Gehör, da sie nämlich ärger schreien werden in ihrem eigenen Mißgeschick; dann muß man sich die Schauspieler anschauen, wie sie noch weichlicher und lockerer durch das Feuer geworden sind; dann muß man sich den Wagenlenker ansehen, wie er auf flammendem Rade erglüht; dann die Athleten betrachten, wie sie nicht wie in der Ringschule (mit Sand), sondern mit Feuer beworfen werden. (Tertullian „Über die Schauspiele“)

Der Kirchenvater stellt sich den Himmel als Loge der Seligen vor, die das Schauspiel der Verdammten genießen wie einst die Römer die schrecklichen Wettkämpfe in der Arena. Dabei sagt er an anderer Stelle, die Teilnahme an den Todesspielen widerstrebe der Heiligkeit, die Spiele würden wütende Leidenschaften erwecken. Das Anschauen der Spiele würde sittliche Gefühle ersticken. Der Anblick der Spiele mache rasend und lenke von göttlichen Dingen ab. Im Himmel aber sollen solche sadistischen Voyeurismen zu höchsten Leckerbissen, zur wahren Freude der Erwählten werden?

„Solches zu schauen und darüber zu frohlocken, das kann dir kein Prätor, kein Konsul, kein Quästor oder Götzenpriester mit all seiner Freigebigkeit gewähren. Und doch haben wir diese Dinge durch den Glauben im Geiste und in der Vorstellung bereits gewissermaßen gegenwärtig. Wie aber mag vollends das beschaffen sein, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat, und was in keines Menschen Herz gekommen ist! Ich denke denn doch, lieblicher als der Zirkus, beide Arten des Theaters und die Rennbahn.“

Ernst Benz kommentiert lakonisch:

„Hier ist in einer grausigen Gerichtsvision das Grundschema geschaffen worden, das dann später zu einem bleibenden Bestandteil der christlichen Endzeiterwartung werden sollte: der Anblick der Qualen der Verdammten ist ein wesentlicher Inhalt der Freude der Erlösten.“

Hier werde deutlich, dass es nicht um abstrakte Ideen logischer Gerechtigkeit gehen könne, sondern um „gewaltige affektive Verdrängungserscheinungen, in denen die ungestillte Rache, die durch das christliche Liebesgebot während dieses Lebens an ihrer Realisierung verhindert wird, sich ihre Erfüllung in eschatologischen Lusterfüllungen vorspiegelte.“ (Ernst Benz in „Der Mensch und die Sympathie aller Dinge am Ende der Zeiten.“)

Die Heilsgeschichte nimmt Ewigkeit im Probehandeln vorweg. Die Seligkeit der Erwählten in Reichtum und Macht, die ewige Pein der Verworfenen in Erniedrigung, Ohnmacht und lebenslangem Elend. Die Hölle ist Ort akkumulierter Hassgefühle der Gläubigen, die sich in Liebe verbiegen, verkrümmen und ihre wahren Gefühle unterdrücken mussten. Wie wütend gegen sich selbst müssen die Gottesfreunde sein, dass eine Ewigkeit voller Pein gerade mal ausreicht, um ihre Rache auszukosten.

Angesichts unendlicher sado-masochistischer Gefühlsmassen, die während des irdischen Lebens zur Hölle aufsummiert werden, sollte man sich über winzige Völkermorde auf Erden nicht mehr aufregen. Die Summe des gesamten Menschenelends, das durch den christlichen Westen produziert wird, ist nichts als eine kleine Annäherung an den Ort ewiger Pein, der in den Logen des Himmels orgiastisch gefeiert wird.

Dies ist die verborgene Psychologie des Westens, die täglich in Weltpolitik umgegossen wird. Verborgen im aufgeklärten Deutschland, offen propagiert im biblizistischen Amerika, der führenden Macht der Welt. Himmel und Hölle beginnen nicht im Jenseits. Sie sind die beiden Hauptfaktoren der eschatologischen Vorbereitung auf das Ende aller Zeiten, wo Gläubige sehen dürfen, was sie bislang nur geglaubt. „Denn wir sehen jetzt nur mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“

Christliche Erdenpolitik ist Schaffen von Ungleichheiten. Sie ist irdische Vorwegnahme ewiger Ungleichheiten. Für Gläubige ist Gleichheit die anmaßende Erbsünde der Heiden, die untergepflügt werden muss, um Oben und Unten, Himmel und Hölle, ewige Seligkeit oder ewige Pein zu schaffen. In diesem Gelände unversöhnlicher Divergenzen ist kein Platz für Ausgleich und Verständigung.

In christlicher Geschichtsauffassung gibt’s keine Konvergenz der Gegensätze. Christliche Welt ist dualistisch, unversöhnlich und für immer in Diesseits und Jenseits geschieden. Wer nicht für IHN ist, ist gegen Ihn. (Der Spruch, wer nicht gegen mich ist, ist für mich, betrifft nicht die endgültige Entscheidung des Menschen. Wer noch unentschieden ist, kann eines Tages noch immer für Ihn sein.)

Wer an die Gleichheit der Menschen glaubt, für den können alle Widersprüche konvergieren. Sie können aufeinander zugehen und sich ausgleichen.

Welche Richtung nimmt die Weltpolitik: die Richtung auf globale Konvergenz aller Gegensätze? Oder auf fortschreitende Divergenz aller Konflikte?

Amerika ist eine chemische Verbindung aus Elementen divergenter Christlichkeit und Elementen konvergenter demokratisch-humanistischer Gesinnung. Welche Anteile überwiegen? Welche werden sich durchsetzen? Wir werden es sehen, wenn wir ihre Weltpolitik betrachten.

Ob die Mischungsverhältnisse in Europa sehr viel anders sind als in Amerika, darf bezweifelt werden. Das europäische Bewusstsein leugnet die Kluft zwischen Vernunft und Offenbarung. Amerikas noch junger Kampf der Selbstvergewisserung war ein ununterbrochener Kampf zwischen Pietismus und Rationalismus, griechischer Demokratie und biblischer Theokratie, Welt und Überwelt. Doch am schärfsten getrennt werden Amerika und Europa – vom Christentum.

Während das amerikanische Christentum unverhüllt einen divergenten Glauben predigt und praktiziert, ist das deutsche Christentum kapitalismuskritischer, somit ansatzweise konvergenter.

Nun hängt es davon ab, ob in Amerika die Konvergenten stärker werden und den Kurs des Kontinents prägen und ob in Europa die Divergenten gezähmt werden können. In diesem Fall werden die beiden Hauptteile des Westens zusammenrücken und können der Welt eine Hilfe sein, die bestehenden Konflikte peu à peu zu lösen. Sollten sich aber zunehmend neoliberal-christliche Divergenzen durchsetzen, nähern wir uns der selbsterfüllenden Apokalypse.

Wer unter dieser Perspektive die Zukunft wissen will, sollte aufmerksam das letzte Buch des Neuen Testaments lesen – oder sich Hollywoods Endzeitschinken reinziehen. Hollywood macht kaum noch anderes als Endzeit in cineastische Bilderbücher zu übertragen.

(Warum gibt es keine sinnvollen Filme mehr? Weil alles apokalyptisch kontaminiert ist. Das erfüllte Leben außerhalb heilsgeschichtlicher Phantasmagorien scheint es nicht mehr zu geben. Die Illusionskunst ist zur Bebilderungskunst religiöser Illusionen geworden. Der Wortschatz deutscher Christine Neubauer-Filme ist zusammengeschnurrt zum Tausch knurriger Gebrauchsformeln. Unsere durch jahrhundertelanges Denken bereicherte Sprache wird nicht mehr benötigt, um irdische und alltägliche Probleme zu lösen, die ohnehin nicht mehr lösbar scheinen. Es verbreitet sich die Stimmung: Alltag ist etwas, was längst nicht mehr der Fall ist. Begnügen wir uns mit digitalen Signalkürzeln und der Nennung von Zahlen, dann können wir uns zum erlösenden Finale durchstammeln.)

Die Erlöserreligionen haben uns mit der Fata Morgana einer todlosen Ewigkeit in die Falle gelockt. Der Tod – ein Freund aller Lebewesen, wenn man ihn nicht mit unzeitiger Gewalt herbeizwingt – kann nicht bezwungen werden. Es sei durch Lug und Selbstsuggestion. Nur eine Menschheit, die sterben gelernt hat, kann Leben lernen.

Das Leben ist kein Vorlaufen zum Tod, keine Einübung ins Sterben – insofern der Tod als Sünde und Strafe eines übernatürlichen Wesens vorgestellt wird. Nur wer keine Angst vor dem Tod hat, kann das Leben als Glück erleben. Nur im Sinne der Angstvermeidung kann Einübung zum Sterben zum wahren Leben verhelfen. Ein lebenslang drohender Tod in Angst und Schrecken macht Leben zum lebenslangen Sterben.

Der Schriftsteller Elias Canetti hat den weit verbreiteten christogenen Hass auf den Tod auf den Begriff gebracht:

„Aber ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder.“

Canetti hat kein Sterben akzeptiert, auch nicht das Sterben der Tiere. (Die meisten Tiere sterben nicht, sie werden getötet.) Der Tod ist bei Canetti der Feind schlechthin, er greift uns an und bedroht uns ständig. Der Tod ist der einzige Widersacher des Menschen und in „bedrückender Übermacht“. Die Lebenden sollten mit allem Frieden schließen, aber nie mit dem Tod. „Im Namen der Todgeweihten, der Sterbenden und Gestorbenen muss der Tod kritisiert werden, in utopischer Sehnsucht nach den „Freudentränen der Toten über den ersten, der nicht mehr stirbt.“

Damit hat Canetti das Lebensgefühl von Silicon-Valley vorweggenommen, wo Maschinen erdacht werden, mit deren Hilfe wir der Todlosigkeit entgegen gehen.

Dabei ist es umgekehrt. Nur wer den natürlichen Tod akzeptiert, sich gegen seine Endlichkeit und Begrenzheit nicht sträubt und sich der Wiedervereinigung mit der Natur freudig ergibt, ist davor gefeit, den Tod als Strafe des Lebens zu bekämpfen. Die meisten Tötungen und Völkerverbrechen werden exekutiert, weil die Schlächter sich Unsterblichkeit versprechen.

Die Bibel ist ein Urbuch der Divergenz, des Hasses auf jegliche Gleichheit.

Von Anfang an war nur Adam der vollwertige Mensch, Eva seine menschenähnliche Gehilfin. Von Anfang an gab es keine gleichen Geschlechter, der Mann war das Haupt der Frau. Wer ist dir gleich? lautet eine ständige Urfrage im Herrschaftsbereich des Heiligen. „Wer ist dir gleich, unter den Göttern, wer ist so furchtbar in Ruhmestaten, Wunder verrichtend?“ „Dir gleicht keiner unter den Göttern, o Herr, und nichts gleicht deinen Werken.“ „Dir, oh Herr, ist niemand gleich. Gross bist du und gross ist dein Name durch Macht. Wer wollte dich nicht fürchten, du König der Völker?“ „Und stellet euch nicht gleich dieser Welt, sondern wandelt euch um, damit ihr zu prüfen möget, was der Wille Gottes ist.“

Nun kommen wir an einer der größten Geschichtsfälschungen des Abendlands nicht mehr vorbei, das von Geschichtsfälschungen zugunsten der Wohltaten des christlichen Glaubens nur so strotzt. Zumeist lügen sie gar nicht, die ihren christlichen Glauben zum Urquell demokratischer Gleichheit umfälschen. Sie meinen es ernst.

Unter ihnen Tocqueville, der vorbildliche französische Analytiker Amerikas: „Das Christentum, das alle Menschen vor Gott gleich werden ließ, wird sich nicht dagegen sträuben, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sein werden.“

Gleichheit vor Gott ist nicht Gleichheit vor dem irdischen Gesetz, das dem Herrn der Geschichte Jacke wie Hose ist. Jeder Staat auf Erden ist für ihn ein sündig und vergänglich Ding, das bald in Sack und Asche verwandelt werden wird. Tocqueville war aufrichtiger Christ und weit davon entfernt, ein Zyniker zu sein. Was muss hier geschehen sein, dass vorbildliche Menschen einem gigantischen Selbstbetrug mit bestem Gewissen aufgesessen sind?

Es kann nicht anders gewesen sein, als dass die Aufklärung solche Wunden ins Fleisch der Gutdenkenden brannte, dass diese die schreienden Ungerechtigkeiten ihres Heiligen Buches nicht mehr anders bearbeiten konnten als sie retrograd ins Gute zu überschminken. Sie übernahmen das humane Erbe der Griechen und implantierten es ihren heiligen Offenbarungen. Das Maß an göttlicher Barbarei in ihren heiligen Büchern konnten die humanistisch Gewordenen nicht mehr ertragen.

Ab jener Zeit der Nach-Aufklärung wurden die Errungenschaften der Griechen den Heiden weggenommen und den heiligen Texten eingepflanzt. Gott, der schrecklichste Selektierer, wurde ins blanke Gegenteil verfälscht. Um dem Selbstbetrug nicht auf die Spur zu kommen, wurde das nüchterne Lesen der Dokumente in beliebig projizierbares Deuten der Texte verbogen. Das subjektive Ich des Deuters machte sich zum hermeneutischen Despoten der Offenbarungs-Texte.

Seit der Romantik kann der Christ auf der Höhe der Zeit den Texten jeden Sinn imputieren, den er für angemessen hält. Sich am Buchstaben orientieren, wurde seitdem als „jüdische Buchstabengläubigkeit“ im Namen des subjektiv-christlichen Geistes verächtlich gemacht.

Im Gegensatz zur biblischen Absegnung der Unterschiede trat das Griechentum zur Begründung der Gleichheit an. Unter ihnen der Sophist Antiphon, der die Natur als Quelle der Gleichheit pries. Die Natur im Gegensatz zu staatlichen Gesetzen, die oft die Starken bevorzugten und die Schwachen benachteiligten.

Antiphon will die „Schranken zwischen den Völkern und Nationen zugunsten eines Menschheitsbegriffs, der die Gleichheit aller Menschen in allen wesentlichen Eigenschaften anerkennt, niederlegen. Damit wird der hohen Selbsteinschätzung der Griechen im Vergleich mit den „Barbaren“ ein Ende gemacht und jene weltbürgerliche Gesinnung angebahnt, die erst in dem makedonischen und römischen Weltreich ihre Erfüllung fand.“ Es sei auch nicht ausgeschlossen, so Wilhelm Nestle, dass „Antiphon auch für eine Regelung internationaler Streitfragen durch friedliche Verständigung anstatt durch Krieg und damit für den Völkerfrieden eintrat.“

Die authentische Quelle heutiger Völker- und Menschenrechte wird von modernen Gelehrten regelmäßig geleugnet und verschwiegen. Wenn sie die Griechen doch mal erwähnen, dann nie ohne Zusatz: das war nur Philosophie und kein gesatztes Recht. Eben so gut könnte man sagen, Kinder gebären sich selbst und brauchen keine Mütter.

Wenn die heutige Politszenerie ideologisch immer konvergenter wird, wird sie von hochkritischen Edelschreibern als Nivellierung geschmäht. Merkel könne nicht mehr links von rechts unterscheiden. Überall grase sie und übernehme, was sie für richtig hielte – natürlich nur aus Opportunitätsgründen.

Überzeugen und zu besseren Einsichten kommen: solche Kinderkategorien gibt es im schreibenden Dekonstruktionsgewerbe nicht. Nur seltsam, dass Seehofer dieselbe Methode in Bayern übt und dennoch wirft niemand Horst I – als Ludwig III – eklektisches Abstauben vor. Nun, Merkel ist eine Frau und Seehofer ein Mann.  (Stefan Reinecke in der TAZ)

Was dem männlichen Bayern geziemt, geziemt nicht der weiblichen Exossifrau? Waren vor Wochen nicht fast alle Skribenten einhellig der Meinung – gelegentlich sogar in der linken TAZ –, dass links und rechts veraltete Positionen seien, die nicht mehr in die moderne Landschaft passten?

Was Tagesbeobachter nicht sehen, weil sie den gestrigen Tag bereits vergessen haben, ist, dass eine partielle Konvergenz eingetreten ist. Wenn auch nur als modisches Zugeständnis an den Zeitgeist. Viele Divergenzen der Nachkriegszeit haben sich wegen narzisstischer Selbstüberhöhung von selbst erledigt. Das ist das erfreuliche Zeichen einer Demokratie, in der viel debattiert worden ist und neurotische Teilwahrheiten den Erfordernissen des Tages nicht mehr gerecht wurden.

Allerdings: die heutige Konvergenz kann nur ein minimaler Zwischenschritt sein. Als Frucht vieler Kompromisse hat sie sich auf ein schillerndes Gebilde aus sozialer Marktwirtschaft mit neoliberalen Auswüchsen geeinigt. Den wachsenden Problemen der Menschheit kann die Zwischenkonvergenz nicht gerecht werden.

Erneut ist jetzt eine tiefgreifende Divergenz gefragt, die den herrschenden Status quo bis auf den Grund des Meeres in Frage stellt. Erst wenn die Weltkonflikte als Grundfragen der Menschheit philosophisch und politisch durchdacht und analysiert werden, können die Widersprüche der nächsten Weltepoche eine Konvergenz hervorrufen, in der alle Menschen sich finden könnten – und nicht nur die Satten und Mächtigen des Westens.

Die Konvergenz einer geeinten Völkergemeinschaft kann nur gegründet werden auf dem Boden friedensstiftender Gleichheit aller Menschen und Kulturen.