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Tagesmail

Kompromiss und Gesinnung

Hello, Freunde der Natur,

Unsinn, dass die Grünen wegen geplanter Steuererhöhungen verloren hätten. Ein Politologe hat ein Fündlein gemacht und alle plappern es nach, weil sie selbst keine Wahrnehmung haben. Als die Grünen ihre Steuerpläne veröffentlichten, herrschte die Stimmung: Zeit, die Reichen zu schröpfen. Allgemeines Aufatmen, dass die Grünen eine sinnvolle Forderung in ihr Programm aufnahmen.

Doch die Tagesbeobachter haben sich ihr Gedächtnis abtrainiert, sie wollen nichts gesehen und gehört haben. Also können sie auch nicht haftbar gemacht werden. Sei es für ihre damalige Reaktion, sei es für ihre damalige Nichtreaktion. Medien haben Archive, damit sie gedächtnis- und spurenlos im Gelände verschwinden können.

Die Grünen haben verloren, weil sie die Natur und damit ihr Urthema verraten haben. Das wurde von den Wählern abgestraft. Die Steuererhöhungen hielt man für den Auftakt. Danach endlich wieder die Natur, verbunden mit der Frage: was haben Natur und Steuern miteinander zu tun? Nichts gegen gerechte Steuererhöhungen, doch warum werden sie gegen den Schutz der Natur ausgespielt? Hat links sein nichts mit Rettung der Natur zu tun?

Gerechte Gesellschaften sind ökologischer als ungerechte, weil akzeptierte Menschen die Natur mehr akzeptieren als degradierte, die ihre Kränkungen an die Schwächsten im Glied weiter geben. Am Ende der Pipeline steht immer die Natur. Die Grünen haben die Verbindung von sozialer Gerechtigkeit und Natur-Gerechtigkeit bis heute nicht

herstellen können.

Eine Partei muss alle Themen durchdacht und zu einer schlüssigen Einheit gebracht haben. Ihre Theorie muss eine komplette Philosophie sein. Politik ist Philosophie, die im Elfenbeinturm nicht vermodern will. Wer als Philosoph die Welt nicht gestalten will, sollte Prophet werden und das Ohr auf den Boden legen, um als Erster zu hören, was auf uns zukommt. (Lieblingsmetapher unserer prophetischen Voyeure. Schirrmacher ist oberster Prophet der Nation und seine Edelgazette Tummelplatz aller hierarchisch gegliederten Unterpropheten.)

In der Praxis wird man Akzente setzen und Kompromisse schließen müssen. Solange die Theorie nicht widerlegt ist, darf sie an keiner Stelle verändert werden. Kompromisse schließt man in der Praxis, nicht in der theoretischen Überzeugung. Demokratisch leben ist eine spannungsreiche Polarität aus Überzeugungsfestigkeit und pragmatischer Flexibilität.

Den Unterschied zwischen Kompromiss und Rückgratlosigkeit kennen die Deutschen nicht. Schließen sie Kompromisse, fühlen sie sich in deutscher Gesinnungstreue beschädigt. Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selber willen tun. Welsch sein heißt, eine Sache um schnöder Vorteile willen tun. Demokratisch sein heißt, eine Sache populistisch um der Macht willen tun – dachten antidemokratische Deutsche unter Kaiser Willem.

Schließen die Deutschen keine Kompromisse, fühlen sie sich als blauäugige Fundis, die der Realität nicht standhalten. Der frühe Streit der Grünen zwischen Realos und Fundis war paradigmatisch. Er beruht auf Verwerfungen der abendländischen Moral durch christliche Seligkeitsberechnungen. Der Christ soll nicht moralisch sein um der Moral willen, sondern um selig zu werden.

Selig werden und moralisch sein ist nicht dasselbe. Um der Seligkeit willen kann es nötig sein, die ordinäre Allerweltsmoral zu verletzen. Liebe – und tu, was du willst, formuliert Augustin die Generallizenz für alle Ungeheuerlichkeiten.

Christen sind keine Fundis, sondern Seligkeitsrealos. Ihre Moral ist so biegsam, dass sie keine – und sei es noch so amoralische Tat – ausschließt. Um des Zweckes der Himmeleroberung willen sind alle Mittel erlaubt, vom Foltern, Töten, Verbrennen der Ketzer bis zur selbstaufopfernden Agape (Nächstenliebe), die sich nur zum Schein aufopfert, in Wirklichkeit aber egoistisch das Entreebillet ins Himmelreich ergattern will.

Finale Uneigennützigkeit gibt es nicht, alles dient dem Zweck, den Gott milde zu stimmen. Was immer ihr tut, tut es um eurer Seligkeit willen. Da der finale Zweck gegenwärtig aus Zeitgeistanpassungsgründen ausgeblendet wird, ermogeln sich die Christen den Anschein einer berechnungs- und interessenlosen Moral.

Nur wer den religiösen Wirrwarr verstanden hat, kann den heutigen Irrsinn zwischen Fundis und Realos nachvollziehen. Den nicht nur die Grünen haben, sondern alle Parteien, die die Wirklichkeit verbessern wollen. Machtparteien wie die CDU kennen dieses Problem am wenigsten. Für sie ist alles paletti, solange sie an der Macht bleiben. Den unheiligen Rest überlassen sie ihrem himmlischen End-Entsorger. (Streng genommen muss Hölle als ewig brennende Mülldeponie definiert werden.)

Kants kategorische Gesinnungsethik ist eine scharfe Kritik an der christlichen Seligkeitserwerbsmoral. Moralisch zu sein hat man um der Moral willen, Punktum. Nicht um eines Zweckes willen, auch nicht zum Glückserwerb.

(An die Stelle der Seligkeit hat Kant das Glück gesetzt. Das war irreführend, denn dadurch klangen Kants Ausführungen wie eine Kritik an der griechischen Glücksphilosophie. In der sokratischen Philosophie fielen strenge Moral und Glück zusammen. Dem selbstbestimmten Menschen kann von außen kein Unglück angetan werden. Sokrates starb seinen Märtyrertod im Einklang mit sich.)

Seit Kant hat das moralische Tohuwabohu seine christlichen Ursprünge verdrängt, dafür die Gegensatzbegriffe Gesinnungs- und Verantwortungsethik in die Welt gesetzt. Schon die Gegenüberstellung von Verantwortung und Gesinnung ist keinem gesunden Menschenverstand begreiflich zu machen. Soll Gesinnung verantwortungs-, Verantwortung gesinnungslos sein? Was bedeutet dann der gesinnungsschwere Satz der Politiker: ich übernehme die Verantwortung? Ist er jetzt ein gesinnungsloser Lump?

(Die einfachsten Fragen werden von keinem Tagesschreiber gestellt, der im 10. Semester das Philosophiestudium abgebrochen und zur FAZ gegangen ist. Es soll sogar schon vorgekommen sein, dass man wegen solcher Kinderfragen aus dem Seminar geworfen wurde. Soviel aus dem Innenleben philosophischer Fakultäten.)

Brüderle und Rösler haben die Verantwortung für den Sturz der FDP in den Abgrund übernommen. Woran erkennt man ihr heroisches Verantwortung-übernehmen? Verzichten sie aus Selbstbestrafungsgründen auf üppige Doppel-Pensionen? Gehen sie für zwei Jahre freiwillig nach Sibirien, um Chodorkowski seelischen Beistand zu leisten? Oder bleibt‘s wieder beim simplen Rücktritt und folgenloser „Tschuldigung“?

(Verantworten ist ein religiöser Begriff, den‘s in nichtchristlichen Sprachen nicht gibt. Verantworten heißt Antwort geben im Jüngsten Gericht, wenn der Herr die Anklage verliest. Dieses Antworten ist natürlich für die Katz, denn der allwissende Gott weiß ohnehin alles besser. Bei Hiob sieht man, dass der Mensch beim Streiten mit dem Schöpfer immer den Kürzeren zieht. Wenn Gott die Argumente ausgehen, kommt er mit der Totschlagfrage, wo der neunmalkluge Mensch gewesen sei, als Er die Welt aus Nichts erschuf. Ende der göttlichen Hebammenkunst.

In Demokratien sollte reziprokes Befragen und sorgsames Antworten zum täglichen Standard gehören.)

Dummes Zeug, dass Kant mit seiner Gesinnung nicht an die Folgen gedacht hätte. Da wäre er meschugge gewesen. Da er noch immer an einen Gott glaubte – an den Gott der Vernunft, Herr Ex-Bischof Huber, nicht an den biblischen! –, war er davon überzeugt, dass dieser vernünftige Gott schon nicht zulassen würde, moralische Taten ins Gegenteil zu verkehren. Moralische Taten werden mit Gewissheit – wann und wie auch immer – zu moralischen Folgen führen.

Erst als der Glaube an Gott sich bei den deutschen Intellektuellen verflüchtigte, kam die bange Frage auf: was, wenn die böse Welt aus meinen guten Taten etwas Böses macht? So bei dem hochgradig zerrissenen Max Weber. Seine bekannte Antwort: Gesinnung genügt nicht mehr, man muss Verantwortung für seine Taten übernehmen, indem man deren Folgen bedenkt.

Ist das nicht eine Trivialität? Versteht es sich nicht von selbst, dass Eltern ihre Kinder in jener Moral erziehen, die die besten Folgen für die Kinder, die Familie und die ganze Welt bringt? Where’s the problem, Sir?

Das Problem besteht darin, dass Max Weber sein ganzes Leben lang den christlichen Glauben seiner Kindheit loswerden wollte – allein, vergeblich. Wenn er auch nicht mehr an den lieben Gott glaubte, an die böse Welt glaubte er nach wie vor. Die ist deshalb so böse, weil der Boss aller Bösewichter die Welt beherrscht und aus den Taten blauäugiger Fundis das Gegenteil macht.

Das ist schon ein starkes Stück, aus Gutem Böses zu machen und sollte von der Polizei verboten werden. Doch trotz lebenslanger Arbeit ist es noch keinem Polizisten gelungen, das Oberhaupt aller Bösewichter dingfest zu machen. (Natürlich könnte die NSA mit links den Gottseibeiuns orten und abführen. Digital haben sie ihn längst eingekreist und ins Visier genommen. Allein, sie werden es nie tun. Ohne Teufel wären sie und ihr Chef Obama – arbeitslos. Und Arbeitslose haben wir schon genug.)

Also, weil die Welt so böse ist und der Teufel noch immer sein Unwesen treibt, macht er aus guten Absichten schlechte Folgen, um die Guten an ihren Absichten irre zu machen und sie auf den Weg alles Bösen zu verlocken. Je moralischer die Absichten, je unmoralischer die Folgen.

Dem kann nur abgeholfen werden, indem ich dafür sorge, dass meine gute Gesinnung auch gute Folgen haben wird. Es genügt nicht, dem Bettler einen Groschen in die Büchse zu werfen. Haste nich gesehen, nimmt er den Groschen, kauft sich eine Flasche Rum und besäuft sich.

Nein, ich muss dafür sorgen, dass der Bettler sich duscht, saubere Klamotten anzieht und beim Arbeitsamt eine Stelle annimmt, die ihn vom Betteln unabhängig macht. Wer hat schon so viel Zeit, um einem einzigen Menschen zu helfen – obwohl‘s sinnvoll wäre? Selbst deutsche Rentner, die viel Zeit haben und sich langweilen, sieht man selten als moralische Bodyguards eines Obdachlosen.

Weil ich für solche Langzeitfolgen nicht sorgen kann, soll ich dem Obdachlosen erst gar keinen Groschen geben. Denn der verwandelt meine gute Tat in ein verabscheuenswertes Besäufnis. Ich bin gut, mein Herz ist rein – doch wehe, wenn ich an die böse Welt denke, die meine Reinheit zur Kloake macht.

Dies war der Grund, warum vor Jahr und Tag der SPIEGEL eine bitterböse Attacke gegen Gutmenschen ritt. Diese wären schlimmer als Verbrecher, die wenigstens wüssten, dass sie Mist bauten. Man kann nicht sagen, dass diese Sicht der Dinge völlig falsch wäre. Vieles Gute, das man in die Welt posaunt, kann böse Folgen nach sich ziehen. Wie sorge ich dafür, dass Absicht und Folgen übereinstimmen?

Jeder überzeugte Demokrat kennt die Antwort: durch Politik. Politik ist die Übersetzung unserer philosophischen Absichten in konkrete Folgen. Nur wenn ich als mündiger Bürger die Verhältnisse der Gesellschaft mitbestimme, entkomme ich der Falle folgenloser oder folgen-widriger guter Absichten, die mehr sein wollen als bigottes Moralgetöse.

In unfreien oder despotischen Gesellschaften werde ich an der Überprüfung meiner guten Absichten gehindert. Was immer ich dort tue, die Folgen meines Tuns liegen in den Händen der Obrigkeit. Max Weber hätte also überzeugter Demokrat sein müssen, um seine Verantwortungsethik ins konkrete Leben zu überführen. Das wurde er erst, nachdem der erste Weltkrieg verloren war und Weber aus machtpolitischen Gründen die dynamische Demokratie amerikanischer Machart unterstützte, damit Deutschland nicht ins belanglose Abseits abgedrängt würde.

Dennoch war der einseitige SPIEGEL-Angriff gefährlich und zeigte Folgen, die ihren Schreibern nicht gefallen konnten. Deutschland hat sich seitdem ins blanke Gegenteil verkehrt: alles, was nach Moral riecht, wird verdächtigt, als wäre sie die Wirkung des Teufels. Gutmenschen wurden zu gefährlichen Zeitgenossen, Bösmenschen zu edlen Rittern.

Wenn die Grünen sinnvolle Vorschläge machen, um Natur zu entgiften und zu entlasten wie etwa die Geschwindigkeitsbeschränkung auf Autobahnen, den fleischlosen Tag in der Woche, werden sie als freiheitsberaubende Moralmonster niedergemacht. Heute genügt es, das Wort Moral in den Mund zu nehmen und schon ist man totalitärer Despot. Ist das Ganze Wahnsinn, so hat es doch Methode.

Ausgerechnet von christlichen Konservativen wird Moral am hämischsten niedergemacht. FOCUS-Markwort schäumt im Presseclub über den Versuch der Grünen, ihm die Freiheit des Rasens oder sein tägliches Schnitzel zu verbieten.

Es kommt noch schlimmer: die Grünen sind nicht in der Lage, diesem Schwachsinn mit Schmackes zu begegnen. Wie alle Parteien halten sie es für richtig, keine Grundsatzdebatten zu führen und über die Ursachen heutiger Seinsverwirrungen nichts zu wissen. Politik prahlt mit ihrer Philosophie-allergie und glaubt, mit Null-Acht-Fünfzehn-Parolen übern Winter zu kommen.

Kein Journalist im Presseclub war in der Lage, persönliche Moral, staatliche Gesetzestreue und ökologische Notwendigkeiten zu klären. Warum sollte man den Menschen vorschreiben, bei Rot an der Ampel zu bremsen, anstatt ihnen in grenzenloser Freiheit zu gestatten, die Fußgänger auf dem Zebrastreifen zu überfahren?

Man glaubt, im Kindergarten zu sein, wobei die meisten Kinder mehr von Gesetz und Moral verstehen als führende Herausgeber und Gazettenschreiber. Nicht die gute Absicht ist verwerflich, sondern ein blasiertes Moralpredigen, das sich mit folgenlosen Bekundungen begnügt und sich nicht darum kümmert, dass überpersönliche Moral zu handfester Politik werden muss.

Warum die Deutschen in diesen Fragen so verwildert sind, hängt mit ihrer Religion zusammen, die sich mit heiliger Gesinnung begnügt, deren Folgen in Gottes Hand liegen. Im Christentum kommt‘s allein auf rechte Gesinnung an, den Rest erledigt der Himmel – wenn er will. Will er nicht, macht‘s auch nichts. Ohnehin kann der Mensch die Folgen seines Tuns nicht beurteilen und muss alles dem Urteil des himmlischen Vaters überlassen. Der Mensch denkt, Gott lenkt.

Weil all diese Dinge im Unklaren sind, wird es keine Koalitionsbildung geben, die vollständig richtig oder völlig falsch wäre. Die Politiker können machen, was sie wollen, es wird immer falsch sein – für die hämische Presse. Und immer richtig – für die kritiklose Presse. Andere Presseerzeugnisse gibt’s nicht.

Wird die SPD mit Merkel koalieren, werden die linken SPDler von Gesinnungsbruch reden. Wird sie es nicht, werden die Pragmatiker von Verantwortungslosigkeit sprechen. Bei den Grünen keinen Deut anders. Verbünden sie sich mit der Regierung, werden Fundis Zeter und Mordio schreien, verbünden sie sich nicht, stehen die Realos auf den Barrikaden.

Das gedankliche und psychologische Elend setzt sich fort, wenn die GenossInnen mit Merkel kooperieren. Da die Koalitionäre wegen unmoralischer Kollaboration stets ein schlechtes Gewissen besitzen, müssen sie es durch übermäßige Obrigkeitstreue kompensieren. Sie tun, was Steinbrück als Mitarbeiter Merkels machte: er spielte den Lakai der Kanzlerin im Bewusstsein eines Patriotismus unter erschwerten Umständen. Just so, als die Sozis im Ersten Weltkrieg dem verhassten Kaiser die Kriegsanleihen genehmigten. Wenn die höhere Pflicht ruft, werden Sozis zu übergehorsamen und kritiklosen Untertanen.

Sie wissen, dass Kompromisse sein müssen. Dennoch werden sie das Geschmäckle nicht los, dass alle Kompromisse faule sind, die vor einem unbestechlichen Gewissen nicht standhalten. Zwischen peinlich genauer Gesinnungstreue und lärmendem, fast rohem Machiavellismus schwanken deutsche Politiker hin und her.

Da sind zwei Pole in ihrer Brust, die durch einen Abgrund getrennt sind und sich nicht überbrücken lassen. Das standardisierte Über-Ich des deutschen Politikers besteht aus Schwarz und Weiß. Dazwischen das Nichts. Noch immer ist ein Kompromiss anrüchig, weil es mich meinen Überzeugungen entfremden will.

Der Deutsche, der einen Kompromiss eingeht, wird langsam, aber sicher identisch mit demselben. Dass er seine ursprüngliche Position aufgegeben hat, fällt ihm gar nicht auf. Genau genommen schließt er gar keinen Kompromiss – der immer ein vorübergehender und vorläufiger sein muss –, sondern er verrät seine ursprüngliche Meinung.

Bei einem echten Kompromiss behalte ich meine Meinung, es sei, ich lasse mich eines Besseren belehren. Nur zu Tageszwecken gehe ich meinem Kontrahenten so weit entgegen, dass kein Verhandlungspartner sein Gesicht verliert und dennoch leidlich Sinnvolles „hinten herauskommt“. Wer das Ergebnis des Deals für seine Überzeugung hält, hat dem psychischen Anpassungsdruck der Verhandlung nicht standgehalten.

Jedes Verhandlungsergebnis gilt nur für eine angegebene Zeit und muss danach wieder zur Disposition stehen. Wer seine Gesinnung nicht verloren hat, wird jeden Kompromiss an seiner Original-Überzeugung messen und möglichst viel davon durchzusetzen versuchen.

Jeder Bürger muss für sich entscheiden, welche Fragen kompromissfähig sind – und welche sein demokratisches Seelenheil beschädigen könnten. Im letzteren Fall, etwa bei Todesstrafe oder Fragen der Menschenrechte, kann‘s keine Zugeständnisse geben. Nur ein Entweder-Oder. Ein Drittes gibt es nicht.

Die meisten Fragen der Tagespolitik berühren keine elementaren Prinzipien. Ein Deal über Steuern lässt die Grundlagen des Staates kalt. (Sollte aber die wirtschaftliche Ungleichheit noch weiter steigen, werden Steuerfragen zu Überlebensfragen der Demokratie.)

Wären in einer Demokratie alle politischen Fragen Entweder-Oder-Fragen, wäre die Demokratie unreif und theokratisch. In stabilen Demokratien vermindern sich die unverhandelbaren Fragen und wächst das Maß der Fragen, über die man reden kann. Eine reife Demokratie ist sich ihrer Prinzipienfestigkeit so sicher, dass sie gelassen streiten kann, ohne zu befürchten, ihre Identität zu verlieren.

Von diesem englischen Zustand sind wir in Deutschland noch weit entfernt. Im Innern jedes deutschen Politikers kämpft noch immer ein glaubensfester Luther – hier steh ich, ich kann nicht anders – mit einem hinterfotzigen und eiskalten Machiavellisten. Luther kann aber schnell zum bornierten Fundi werden und Machiavelli zur durchwurstelnden Mutter Merkel. Das sind die vier Urtypen, zwischen denen sich alles politische Tun im Kreise dreht.

Der Deutsche hat seine demokratische Identität noch nicht gefunden. Er besteht aus unverträglichen Teilen, die sich hassen wie die Pest. Was bedeutet das für die Beurteilung der politischen Akteure?

Die hiesige Presse hat ihre Bewertungskriterien schon lange festgezurrt. Jede gute Absicht eines Politikers wird machiavellistisch entlarvt oder gutmenschlich verhöhnt; jeder Machiavellismus als gesinnungsfeste Tat gerühmt oder als mütterlicher Pragmatismus belächelt. Was die Politiker selber sagen, gilt als bloße Staffage. Entlarvende Medien und gewitzte Öffentlichkeit wissen es besser.

Das Ergebnis der innenpolitischen Kommunikation: die Politikerkaste fühlt sich zumeist missverstanden, die Öffentlichkeit fast immer hinters Licht geführt. Die offizielle Sprache der Parteien deckt sich selten mit der subkutanen Botschaft, die von der Öffentlichkeit vernommen wird.

Wie kann Demokratie bewahrt werden, wenn alle an allen vorbeireden?