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Klarheit

Hello, Freunde der Klarheit,

wenn nichts klar ist, herrschen die Nutznießer der Unklarheit: die Muskelmänner, Starken, Skrupellosen, die Eliten. An den Wörtern liegt es nicht, sondern an den Benutzern der Wörter, die sie durch Vieldeutigkeit schänden. Im Spiegel seiner missbrauchten und ungeklärten Begriffe könnte der Westen seinen galoppierenden Realitätsverlust erkennen.

Was bewahren Konservative? Das bewahrenswerte Kluge und Tugendhafte – oder bloße Macht und aufsummierte Lügen der Geschichte?

Welche Freiheit meint der Liberalismus? Die ausgewogene Freiheit aller – oder das hemmungslose Wüten von Tycoons, Rädelsführern und Gewalttätigen?

Was ist Fortschritt? Die Akkumulation technischer Macht – oder das Fortschreiten der Menschheit in selbstbewusster Humanität?

Was ist Wohlstand? Die Abwesenheit materieller Überlebenssorgen – oder das krankhafte Horten überflüssiger, schädlicher Dinge auf Kosten der Natur und der Gerechtigkeit?

Was ist Demokratie? Der Wille eines lebendig debattierenden Volkes – oder die Fassade einer bedenkenlos raffsüchtigen Minderheit, die ihren Willen dem Volk durch ökonomische Gewalt auferlegt?

Was ist Moral? Die Kraft des Menschen, seine Verhältnisse menschlich zu gestalten – oder das lächerliche Predigen von Regeln, die das Schicksal der Menschen nicht berühren?

Was ist Zukunft? Die kommende Zeit, die von demokratischen Völkern in freier Selbstbestimmung gestaltet wird – oder ein von Auserwählten bestimmtes Verhängnis, das über die Völker hinwegbrettert?

Was ist Vergangenheit? Der Schatz menschlicher Erfahrungen, der fortlaufend nach Wahrheit und Irrtum zu überprüfen ist – oder das Alte, das hemmungslos

vernichtet werden muss, um einem Neuen Platz zu schaffen, das wahr sein will, nicht weil es wahr, sondern weil es neu ist?

Was ist Lernen? Kritisches Erkennen im Streit der Meinungen – oder unterwürfiges Plagiieren autoritärer Unfehlbarkeiten?

Sind Linke und Rechte einerlei? Linke wollen die Gesellschaft mit demokratischen Methoden gerechter machen – Rechte wollen sie belassen, wie sie ist, um ihre Macht nicht zu gefährden.

Braucht die Menschheit eine Utopie?

Eine rationale Utopie ist das selbstbestimmte Ziel der Menschheit in weltweiter Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit.

Eine faschistische Utopie ist das Herstellen elitärer Idealvorstellungen durch Gewalt, Gleichschaltung und Entmündigung.

Eine religiöse Utopie – die Variante einer faschistischen – wird durch übermenschliche Kräfte im Jenseits realisiert: durch Vernichten aller rationalen Utopien.

Eine Menschheit ohne rationale Utopie verewigt die inhumanen Verhältnisse der Gegenwart, die von mächtigen Minderheiten despotisch bestimmt werden.

Wenn rationale Politik das Ansteuern einer rationalen Utopie sein soll, ist Angela Merkel keine Politikerin. Wer will, könnte sie als Politikerin eines ganz neuen Stils betrachten. Wie noch keiner ihrer Vorgänger im Amt des Kanzlers verzichtet sie offiziell auf illusorische Verbesserungen des menschlichen Elends und begnügt sich mit bloßem Verwalten und Durchlavieren durch die unvermeidbare Misere. (Ihre Vorgänger versuchten wenigstens den Anschein zu erwecken, als ob sie die Verhältnisse verbessern wollten.)

Warum hat sie solchen Erfolg? Weil die Deutschen – inzwischen auch andere westliche Nationen – eine religiöse Politikerin zu ihrem täglichen Seelenheil benötigen. Der moderne Westen mag sich noch so „säkularisiert“ oder kirchenallergisch geben: er benötigt eine autoritäre Person, die ihm das Gefühl vermittelt: wir leben in der besten aller möglichen Welten – solange das von uns produzierte Elend in schwächere Länder abgeleitet werden kann und wir wirtschaftlichen Erfolg als Beweis unserer christlichen Auserwähltheit feiern dürfen.

Merkels Politik ist neoliberal, nicht aus Überzeugung, sondern weil der Neoliberalismus zufällig die herrschende Doktrin des Westens ist. Es ist ihr gleichgültig, welche irdische Elendsverklärung sie benutzen muss, da verblendete Menschen zufällig an solche irdischen Götzen glauben. Jede andere, sündige Ideologie – Sozialismus, lutherischer Untertanenstaat, preußische Theokratie – würde sie als treue Magd genauso akzeptieren und eschatologisch abwickeln.

Als Tochter eines privilegierten sozialistischen Pastors hätte sie theoretisch auch Nachfolgerin von Honecker werden können. Durchlavieren, bis der Herr kommt, das ist ihre augustinische Pflichtethik. Aber Durchlavieren mit dem Segen des Himmels.

Merkel könnte man als ambulante Volkströsterin bezeichnen oder als akklamatorisch berufene Seelsorgerin hinter demokratischen Scheingesten. Deshalb ihre Vorliebe für intime Audienzen, in denen sie sich ihrem Volk in direktem Kontakt als gütige Mutter zu erkennen gibt. (Jeder Demokrat, der sich dieser obszönen Ausgießung des Merkel‘schen Geistes als Bittsteller zur Verfügung stellt, sollte mit der Lächerlichkeits-Plakette erster Klasse ausgezeichnet werden.) Alles ist schlecht auf Erden, meine Untertanen, doch im Namen des Höchsten ist es das Beste, was euch hienieden zustoßen kann.

Merkels Aura der Unberührbaren ist ihre Fähigkeit, sich als Wesen einer jenseitigen Welt zu präsentieren, die sich gelegentlich mit dem Irdischen beschäftigen muss, doch am liebsten in der heilen Welt des Glaubens verweilen würde. Diese Unberührbarkeit benötigen die Untertanen als tägliche Seelennahrung gegen ihr Ausgebranntsein und ihre kapitalistische Arbeitshetze. Wenn alles im Chaos versinkt, bleibt die Magd Gottes rein und unbefleckt von Sünd und Schand.

Merkel hat nicht die geringsten Hemmungen, ihr politisches Amt als Missionsinstrument für ihren christlichen Glauben auszunutzen. Wir sind noch immer Christen. Wer kein Christ ist, gehört nicht zum Wir.

»Haben wir doch den Mut, zu sagen, dass wir Christen sind. Haben wir doch den Mut, dass wir da in einen Dialog treten«, forderte die Kanzlerin. 61 Prozent der deutschen Bevölkerung sind Christen. Knapp 50 Millionen. Für den Alltag bedeute das: »Haben wir dann aber auch bitteschön die Tradition, mal wieder in einen Gottesdienst zu gehen oder ein bisschen bibelfest zu sein.«“ (WELT.de)

Merkels besondere Fähigkeit ist das Zeitmanagement, die Wahl des politischen Kairos. Zur rechten Zeit findet sie die rechten Worte. „Worte finden“ genügt den meisten Deutschen, besonders den Schreibern unter ihnen, die sich als Beschützer der überlasteten und überforderten Mutter der Nation gerieren. Die Vierte Gewalt hat sich zur Schutzgarde der ausführenden Gewalt hochgemendelt.

Kairos ist die rechte Zeit, in der Gott seine fortlaufenden Interventionen per Offenbarung der Welt mitzuteilen pflegt. Kairos ist das Gegenteil zur Vernunft, die von zeitlichen Offenbarungen unabhängig ist.

Merkel wartet ab, wo die trüben Ereignisse auf Erden hintreiben und kulminieren. Erkennt sie den Knotenpunkt der Entwicklung, prescht sie auf die Kanzel der Nation und findet das rechte Wort zur rechten Zeit. Als die Zeit erfüllet ward, erschien die Angela des Himmels.

Dennoch, nicht sie regiert das Volk, das Volk regiert sie – leider ohne Bewusstsein seiner Macht. Ergo geschieht das Absurde, dass das Volk bereits in vieler Hinsicht regiert und dennoch in ängstlicher Untertänigkeit gegen die Mächtigen verharrt. Vox populi, vox dei, die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes, doch das Volk will seine Macht nicht wahrhaben. Sonst müsste es Verantwortung für alles übernehmen. Dazu ist es noch nicht bereit.

Wie christliche Moral antinomisch ist – göttliche Gesetze gelten nur für Ungläubige und Heiden, Erleuchtete und Wiedergeboren stehen über allen Gesetzen – so ist Merkels Politik von dreister Antinomie. Bei aufsässigen Griechen wird im Namen göttlicher Regeln ein Exempel statuiert, Flüchtlinge hingegen werden unter Missachtung aller EU-Reglements ins Land gelassen. Ein britischer Politologe bezeichnet Deutschland deshalb als „Hippie-Staat, der sich von Gefühlen leiten lässt.“

„Der britische Politologe Anthony Glees hat Deutschlands Vorgehen in der Flüchtlingskrise als „undemokratisch“ kritisiert. Im DLF sagte er, Berlin habe sich mit der Entscheidung, die in Ungarn gestrandeten Migranten aufzunehmen, nicht an EU-Regeln gehalten. In Großbritannien herrsche der Eindruck, die Deutschen hätten den Verstand verloren. … Statt nur mit dem Herz, müsse man auch mit dem Hirn handeln, forderte der Politologe – so wie es auch der britische Premierminister David Cameron gefordert hatte.“ (Deutschlandfunk.de)

Hat Cameron mit dem Hirn gehandelt – oder mit der Logik der Geldbörse?

Wenn Regeln menschenfeindlich sind, müssen sie gebrochen werden. Regeln sind für Menschen da und nicht umgekehrt. Merkel aber, in jenseitiger Hybris, ignoriert irdische Regeln nach Belieben. Einmal werden sie befolgt, das andere Mal mit leichter Hand über Bord geworfen. Erneut betätigt sie sich als Domina der EU. In der griechischen Angelegenheit mit neoliberaler Peitsche, in der Flüchtlingsfrage mit der Zwangsbeglückung einer Herrscherin, die im gnadenreichen Kairos plötzlich und unerwartet die Moral entdeckt hat. Merkel kann sich alles erlauben, sie hat die irrtumslose Gesinnung von Oben.

Deutschland zeigt den Völkern seine uralte theologische Physiognomie. Ungebärdige Kinder müssen mit Strenge gezüchtigt werden, reuige Sünder dürfen gelegentlich auf Gnade hoffen. Wie der offenbare und verborgene Gott unberechenbar ist, wollen die Deutschen in Strenge und Milde unberechenbar bleiben. Zuverlässige und berechenbare Politik sähe anders aus.

Nein, Deutschland ist kein Land von Hippies, sondern von unberechenbaren Erleuchtungen und maßlosen Verwüstungen. „Der Deutsche, je knechtischer auf der einen Seite, je zügelloser ist er auf der anderen. Beschränktheit und Maßloses, Originalität, ist der Satansengel, der uns mit Fäusten schlägt.“ (Hegel)

Originalität? Das deutsche Genie muss vor allem originell sein. Man könnte sagen, der postmoderne Spuk des „je eigenen Weges“ ist auf dem Mist des Genies der deutschen Stürmer und Dränger gewachsen. Die deutsche Geniereligion ist die Fortsetzung der Ausgießung des Heiligen Geistes in weltlichen Metaphern.

Wie der Erleuchtete als Geistbegabter über dem schnöden Buchstaben des Textes steht, so stehen die Genies über allen Gesetzen des Lernens. Wer von anderen lernt, ist ein Gipsabdruck des anderen. Also muss er die Welt von vorne beginnen, als habe es außer ihm noch keinen Menschen gegeben.

Auch Meister Goethe hat die deutsche Originalitätssucht verspottet:

Ein Quidam sagt: „Ich bin von keiner Schule!
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
Auch bin ich weit davon entfernt,
Dass ich von Toten was gelernt.“
Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:
„Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“

Wer kein metaphysisches Glasperlenspiel erklügelt hat, ist für Deutsche kein Denker. Er ist ein eklektischer Pfuscher. Wer keine religiöse Originaloffenbarung zu bieten hat, ist ein Synkretist, ein wahlloser Vermischer von Kraut und Rüben. Selbst H. D. Thoreau, dem amerikanischen Urdemokraten, Erfinder des zivilen Ungehorsams, Inspirator Gandhis zum gewaltlosen Widerstand und Vorbild der Hippies und rebellischer Studenten in aller Welt, wird von seinem deutschen Übersetzer jegliche Originalität abgesprochen:

„Freilich, ein origineller Denker war Thoreau nicht, der Rohstoff seiner Gedankenwelt ergab sich aus dem zeitüblichen Fundus. Er hatte eine humanistische Erziehung genossen, war gründlich belesen in antiker und östlicher Literatur. Auf diese Quellen lassen sich viele seiner Einsichten und Grundsätze zurückführen.“ (H. D. Thoreau, „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“, herausgegeben von Walter F. Richartz)

Originalität ist creatio ex nihilo und kein Deut weniger. Wer von anderen lernt, ist ein Plagiator. Die Moderne lernt nicht. Lieber lässt sie sich à la Skinner konditionieren. Wie die Pawlow‘schen Hunde auf Glockenton speicheln, so sollen die Konsumenten auf Werbereize den Geldbeutel zücken. Es werden keine Argumente geboten, der Mensch wird wie eine Maschine programmiert. Weshalb er inzwischen programmierte Maschinen erfindet, um Menschen überflüssig zu machen.

Die SPD ist stolz, Obamas PR-Mann für Wahlkampf geworben zu haben. Politische Substanz scheint diese Partei nicht mehr zu kennen. Diese Blödheit allein reichte aus, der Partei auf ewig die Stimme zu verweigern. Wie ein flotter Schlitten mit halbnackten Schönen wirbt, so soll das Volk mit bedingten Reizen geködert werden. Gabriel will nicht an den Verstand appellieren, sondern an unbewusste Reflexe, über die man sich keine Rechenschaft abzulegen pflegt.

Der ganze Kapitalismus ist eine lernunfähige Borniertheit, die nach dem Reiz-Reaktions-Muster reagiert. Unterschwellige Gelüste und unbewusste Bedürfnisse werden reaktiviert, um den Menschen zum manipulierbaren Objekt der PR-Strategien zu machen.

Die Monopolherrschaft des Konditionierens und vernunftlosen Verführens ist eine komplette Verarsche des aufzuklärenden Menschen, dessen Stolz im Betätigen des eigenen Kopfes besteht. Lernen ist Denken. Denken ist Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Das Menschenbild des Kapitalismus ist der dumpfe gängelbare Mensch, der nach Mechanismen der Bewusstseinslosigkeit funktioniert. Dazu passt, dass das Gehirn des Menschen ferngeleitet werden soll. Von wem? Natürlich von den Genies des Drillens und Gedrilltwerdens. Die moderne Hirnforschung ist ein Appendix des ferngelenkten Kaufens und Hortens.

Man stelle sich den Aberwitz vor: mäeutische Fragen des Sokrates gelten heute als hinterfotzige Manipulationen. Der fremdgeleitete Anonymus der Massengesellschaft aber gilt als Gipfel der Mündigkeit. Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr keinen einzigen Begriff mehr zu klären für notwendig haltet.

(Nebenbei, die Wiederholung der Plasbergsendung ad infinitum ist so sinnlos wie das Treten von Quark. Getretener Quark wird breit, nicht stark. Eine Debattensendung, die die geringsten Forderungen nach Klärung der Begriffe und Ausredenlassen missachtet, deren Moderator glaubt, die Debatte nach Belieben lenken zu können, ist eine Affenschande, pardon, liebe Affen.)

Gewiss, auch mäeutische Fragen sind manipulierbar. Das zeigt die jesuitische Schlitzohrigkeit, Kindern im Religionsunterricht mit geschickten Fragen den ganzen Katechismus zu entlocken. Doch das gelingt nur, wenn die Kinder nicht mit anderen Meinungen in Berührung kommen. Erst, wenn sie alle Meinungen kennen, sind sie in der Lage, im Durchdenken konträrer Positionen ihre eigene zu finden. Hebammenfragen sind kein isolierter Prozess in machtgeleiteten Schulen, sondern eine Auseinandersetzung mit der ganzen Welt. Fragen sind autoritär, wenn kritische Gegenfragen unter den Tisch fallen.

Der liberale Kapitalismus kennt keine Freiheit. Weder im Denken noch im Handeln. Wehe dem Volk, das sich den Gesetzen des Profit- und Schuldenmachens widersetzte. Es würde von der Weltkarte getilgt werden. Haben agrarische Gesellschaften das Recht, sich auf ihrem Niveau der Übereinstimmung mit der Natur zu ernähren? Die Gesetze des modernen Freihandels sind die despotischsten Gesetze der Weltgeschichte. Autarkie ist heute schlimmer als ein Bündnis mit dem Teufel.

Philosophische Fragen hält Merkel für lächerlich. Strenge Gesetze der Logik sind für sie physikalische. Doch der Bereich der Politik steht für sie unter der unerklärlichen Hand Gottes, der die Hand des Teufels eine Weile agieren lässt. Begriffe sind für sie nicht zu klären, sondern reiz-reaktions-mäßig zu Manipulationszwecken zu nutzen.

Den Menschen, das anlehnungsbedürftige Wesen, verführt sie mit Hilfe seiner Tröstungsbedürfnisse. Wenn Europa in seiner schwersten Krise steht, hat sie die Chuzpe, im Bundestag zu erklären, noch nie sei die EU so reif und einig gewesen. Sie vertraut der Magie ihrer überirdischen Weihe. Ihr fester Glaube schlägt die desorientierten Völker in den Bann. Zwar will heute niemand mehr glauben, doch auf die Segnungen des mütterlichen Glaubens will niemand verzichten.

Die christlichen Völker sind schon weiter als ihre retrograden Hirten. Der Papst folgt den Spuren des Zeitgeistes, der in vieler Hinsicht von den Freiheitsgraden seiner emanzipierten Schäfchen geprägt ist. Die Humanität des Volkes ist weiter als das dogmatische Geplapper der Kanzelprediger. Die neuen Deutungen sind die Meinungen des Volkes, die von geistbegabten Hermeneutikern mit künstlichen Verrenkungen den alten Texten abgewürgt werden. Das ist der Grund, warum die aufwachenden Gläubigen ihre Heilige Schrift ignorieren. Sie fürchten um die letzten Reste ihres Glaubens, wenn sie buchstabenmäßig lesen müssten, was sie nur mit Schrecken zur Kenntnis nehmen könnten.

Die Methoden dieser Neudeutungen sind aberwitzig, doch das Gefälle vom humanen Volk zur abstrusen Unfehlbarkeit des Klerus ist augenscheinlich. Wenn das Volk lernte, seine Meinungen durch schonungslose Kritik der heiligen Texte zu artikulieren und nicht durch wolkige Wunschdeutungen seiner Schriftgelehrten, hätte das letzte Stündlein der Textverdreher geschlagen.

Kann man seine Religion nicht fortlaufend humanisieren? Warum nicht? Aber nur, wenn man das Heilige schonungslos zerpflückte und in Menschliches verwandelte. Auf keinen Fall durch eine Kritik, die nichts kritisiert, sondern sich hinter nebulösen Schriftdeutungen versteckt. Der klare Buchstabe darf nicht in beliebigen Geist zerstäubt und verfälscht werden.

Der einzige würdige Umgang mit dem Schatz unserer Überlieferungen wäre, wenn man ihn dem Säurebad der Kritik aussetzte. Was Bestand hat, wird zum Geschenk an die heutige Menschheit. Was verworfen wird, zeigt die Irrungen und Wirrungen einer fehlbaren Gattung, die es dennoch geschafft hat, ihre Irrtümer weiträumig zu korrigieren.

Was für eine Heuchelei, dem IS vorzuwerfen, durch Allmachtswahn die Zerstörung uralter Kulturgüter zu exekutieren. Aber nicht vor der eigenen abendländischen Tür zu kehren. (ZEIT.de)

Was tut die westliche Moderne? Sie vernichtet alles Alte, um das Neue elitärer Zukunftsfaschisten an seine Stelle zu setzen. Von wem stammt der Begriff „schöpferische Zerstörung“? Nicht von einem IS-Propagandisten, sondern von einem Vordenker des Kapitalismus: Joseph Schumpeter.

Wer rühmt sich, die ganze Welt auf den Kopf zu stellen, um seine Roboter und unsterblichen Golems an die Macht zu bringen? Wer eliminiert leichten Herzens den Planeten Erde, um in neuer Unsterblichkeit das Weltall zu gewinnen?

Kein IS-Terrorist, sondern futuristische Berserker aus dem Mekka der Moderne – der Zukunftswerkstatt in Silicon Valley. Ist die Weltraumstation ISS nicht die leicht erweiterte IS, die bedenkenlos das Schicksal der Erde opfert, um die Weite des Universums zu gewinnen?

Was bedeutet die religiöse Formel, der Mensch müsse sich täglich neu erfinden, wenn nicht das apodiktische Gebot, alles Vergangene hinter sich auszuradieren? Wer in die Vergangenheit zurückschaut, erstarrt zur Salzsäule? „Gedenket nicht des Vergangenen“ ist ein göttlicher Befehl. Die Moderne lebt davon, sich täglich die Grundlagen ihrer Existenz unter den Füßen wegzuziehen. Das ultimative Ziel der christlichen Geschichte besteht im Massenmord an allem Bewährten und Vernünftigen, das die Menschheit ersonnen hat, um ihr Schicksal human zu gestalten.

Das Alte ist vergangen, heißt was? Das Alte ist die gesammelte Weisheit der Menschen, die über die Klinge springen muss. Die Liebe Gottes zu den Menschen wird zur endgültigen Apokalypse der fehlbaren Kreatur. Apokalypse heißt Entschleiern, Offenbaren. Was wird am Ende der Geschichte offenbart? Dass Gott die Welt des mündigen Menschen vernichten wird, weil er keine selbstbewussten Wesen neben sich duldet. Das ist der Sinn des Verbots, keine anderen Götter neben Ihm anzubeten. Der Schöpfer hat ein jämmerliches Selbstbewusstsein. Warum sonst wäre er eifersüchtig auf alles, was dankend auf ihn verzichten kann?

Wir müssen unsre Begriffe klären, damit wir unsere Geschichte autonom gestalten können. Widersprüchliche und ambivalente Begriffe führen zu widersprüchlichen Taten, die sich gegenseitig aufheben und neutralisieren.

Politiker und Edelschreiber plappern nur – mit leeren Geräuschen wollen sie ihre Macht stabilisieren. Immer wieder müssen wir uns der alten Weisheit des Konfuzius stellen:

„Wenn die Worte nicht stimmen, stimmen die Begriffe nicht.

Wenn die Begriffe nicht stimmen, wird die Vernunft verwirrt.

Wenn die Vernunft verwirrt ist, gerät das Volk in Unruhe.

Wenn das Volk unruhig wird, gerät die Gesellschaft in Unordnung.

Wenn die Gesellschaft in Unordnung gerät, ist der Staat in Gefahr.“