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Kanzel-Schröder

Hello, Freunde des Kanzel-Schröders,

da stieg er die enge, dunkle Treppe empor und betrat den hohen, menschenüberblickenden Ort, der einem Kanzler geziemt: die Kanzel des Herrn. Im Nu wuchs zusammen, was in Deutschland zusammengehört: Macht und Geist, Thron und Altar.

Und siehe, der Gott in der Verfassung ward Fleisch und offenbarte sich in Raum und Zeit, und er sprach: es gibt keine Obrigkeit, außer von Gott, die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt.

Das gilt erst recht für Demokratien, denn wie heißt es in der Schrift: Die Regierenden sind ein Gegenstand der Furcht, nicht für den, der Gutes tut, sondern für den Bösen. Also, Deutsche, seid nicht länger böse und hört auf die Stimme meines treuen Knechts.

In Hannover geschah es, da zerriss der Himmel und eine unhörbare Stimme, die allen Frommen ins Herz drang, sagte: das ist mein geliebter Gerd, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Denn siehe, ich liebe die Suchenden und Zweifelnden und nicht die Selbstgewissen, ich liebe die demütigen Zöllner und Sünder und nicht die Selbstgerechten.

Und Knecht Gerd erhob seine wohltönende Stimme und sprach: Herr, ich danke dir, dass ich nicht bin wie jene Selbstgefälligen, die schon gefunden haben. Denn siehe, schon haben sie verloren. Ich aber will nicht zu den Verlierern gehören. Du weißt, ich suche und

zweifle, und die Demütigen liebst du mehr als die Hochfahrenden.

Wohl halten meine Feinde mich für einen Hochfahrenden, doch du weißt, dass meine Eitelkeit die Maske meiner Demut ist. Ich bin zu demütig, um mit Demut hausieren zu gehen. Meine Gegner sollen sich das Maul zerreißen und mich verkennen, nur du schaust das Herz an.

Und Bruder Gerd schlug sich an die Brust, aber ohne den tadellos sitzenden Anzug zu beschädigen, und seine geübte Rhetorenstimme erfüllte mühelos das ganze Haus Gottes: Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden. Wer sich aber selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Ich aber erhöhe mich und spiele den Hochfahrenden, damit du, Herr, mich erniedrigen kannst – um mich zu erhöhen. Die da draußen, die sehen nur, was vor Augen ist – also führe ich sie in die Irre, indem ich den Hochmütigen spiele – doch du allein siehst das Herz an.

Gerhard Schröder, aus dem Nichts gekommen, aufgefahren in die Machtetagen mit unbändigem Ehrgeiz und dem BILD-Fahrstuhl, ist ganz oben angekommen. Seine Karriere begann er als Atheist. Als er an die Macht kam, hat er Gott gefunden. Und er erfuhr, dass gottgestützte Macht besser ist als gottlose.

Seit Gott mit ihm ist, prallt alles an ihm ab. Da können sie ihn als Putinfreunderl verhöhnen, da können sie ihm seine Geldgeilheit vor die Füße werfen: lass fahren dahin, seinen Gott und seinen Spaß müssen sie ihm lassen.

Auch auf Wladimir, seinen Bruder im Herrn, lässt er nichts kommen. Auch der kommt aus dem Nichts, hat es mit unbändigem Ehrgeiz bis in die Zwiebeltürme des Kreml gebracht. Auch er begann als sozialistischer Atheist und hat bei bärtigen Popen mit gewaltigen Stimmen seinen persönlichen Gott gefunden.

Gerd & Wladimir sind nicht wie Wladimir und Estragon, die auf Gott warten müssen. Suchend und zweifelnd ist er ihnen gewiss. Gerd & Wladimir, sie planen eine Dialogpredigt im Zeichen der alten seelischen Verbundenheit zwischen Russland und Deutschland. Was sie vereint, ist ihre Animosität gegen den flachen Westen, dieses Kalte und Abstrakte, dieses zutiefst Heuchlerische seiner so genannten Menschenrechte.

Gottlob ist Deutschland im Westen angekommen? Gemach, Professor Winkler. Nicht ohne Wladimir, meinen Bruder im Herrn. Die deutsch-russische Seelenverwandtschaft beruhte auf der tiefen Skepsis gegen alles Westliche und Aufgedonnerte. 1919 schrieb Oswald Spengler:

„Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden. Die „russische Urseele“ mystifizierte Spengler als „etwas Unergründliches“, „kindlich dumpf und ahnungsschwer“, die von Westeuropa „durch die aufgezwungenen Formen einer bereits männlich vollendeten, fremden und herrischen Kultur gequält, verstört, verwundet, vergiftet worden“ sei.“ (Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus)

Spengler hatte seinen Dostojewski gelesen. Hatte Deutschland mit dem seelenschweren Russland nicht mehr Gemeinsames als mit dem außengeleiteten oberflächlichen Westen?

Moeller van den Bruck, der den Begriff des „Dritten Reiches“ in Umlauf gebracht hatte, weiß noch mehr über russisch-deutsche Seelenverwandtschaft:

„Die Geschichte des russischen Volkes war eine Leidensgeschichte. Und dieses Leiden hat es nicht nur demütig gemacht. Es hat es tief gemacht. Das russische Genie ist ein seelisches Genie. (…) Wir brauchen in Deutschland die voraussetzungslose russische Geistigkeit. Wir brauchen sie als Gegengewicht gegen ein Westlertum, dessen Einflüssen auch wir ausgesetzt waren und das auch uns dahin gebracht hat, wohin wir heute gebracht sind.“ (Rußland, der Westen und wir; 1933)

Deutschland und Russland, zwei leidende Völker – die nicht ewig leiden wollten. Durch Leiden zum Sieg, durch Demut zum Triumph. Die imitatio christi hat die beiden Länder zusammengebracht, sie hat auch Wladimir und Gerhard zusammengeführt. An der Spitze der Macht angekommen, merkten sie, dass ihnen Entscheidendes fehlte. Und sie nannten es Gott.

Auf Godot müssen sie seitdem nicht mehr warten, sie haben Gott gefunden. Auch wenn sie ihn in barer Münze nicht vorzeigen, sondern nur scheu auf ihn verweisen können. Kommt es etwa auf die Staatsform an? Auf Demokratie und ähnlich überschätztes Gedöns? Nein, es kommt allein auf den Glauben an. Der Glaube, nicht die äußerliche Verfassung, entscheidet über den Staat.

Die säkulare Demokratie, liebe Gemeinde, ist ein schlüpfrig Gelände. Und also kommt es auf den Kanon an, den Wertekanon, der uns vor dem endgültigen Abrutschen in den Abgrund bewahrt:

„Trotz meiner Zweifel bin ich ein überzeugtes Mitglied der Kirche. Denn es tut gut, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich an einem festen Wertekanon orientiert.“ (Predigt von Gerhard Schröder)

Von welchen festen Werten spricht der Große Meister? Ach, so genau weiß er das auch nicht, ist ja nur ein Laientheologe. Du sollst nicht stehlen? Oja, das muss der Mensch von einem Gott zu hören kriegen, damit er seine ganze Nachbarschaft nicht ausraubt.

Welche Werte können fest sein, wenn alle Kirchen und Sekten sich im Namen der verschiedensten Werte schon seit Jahrhunderten den Schädel spalten?

Es kommt noch ein Schmankerl hinzu: „Diese Werte bilden, neben dem humanistischen Erbe der Aufklärung, die Basis für das friedliche Miteinander in unserer Gesellschaft.“

Waren Aufklärung und Glauben in der europäischen Geschichte im friedlichen Nebeneinander? Wurde Aufklärung in jedweder Form nicht von den Kirchen mit Feuer und Schwert verfolgt? Wie verhalten sich die unbekannten Werte des Glaubens zu den unbekannten Werten der humanistischen Aufklärung? Welche festen Werte der Kirche waren daran schuld, dass die Werte der Aufklärung in Europa lange gefährdet schienen? Ist Bruder Gerhard der Meinung seines katholischen Bruders Benedikt, dass Vernunft und Glauben siamesische Zwillinge sind?

Verzeihung für solche komplexen Fragen, die einen schlichten Politiker überfordern, der mit Sündenbekenntnis und Prostrationsgebärde den Segen der Kirche sucht. Wenn man ins Alter kommt, will man sein Erbe ordnen und seinen Frieden mit Gott. Bruder Gerhard beugt sich unter das fromme Mütterchen der Gemeinde:

„Und zudem habe ich großen Respekt vor Menschen, die Halt im Glauben suchen und finden, die dieses Gottvertrauen besitzen, das mir noch fehlt. Ich bin aber davon überzeugt, dass dieses Gottvertrauen in existenziellen Lebenssituationen sehr hilfreich ist.“

Das hat er aber gut versteckt, das Sätzchen der tätigen Reue: „das mir noch fehlt“. Bruder Gerhard – nicht in allen Dingen der Erste, Beste und Schönste – wie heute die Deutschen in aller Welt? (An dieser Stelle musste sein PR-Berater schlucken, dass er die Passage noch passieren ließ.)

Dann kommt, was an dieser Stelle kommen muss: die Lobrede auf die tätige Nächstenliebe der Christen. Meint er Nächstenbetreuung, Nächstenverwaltung, Nächstenbeherrschung durch egoistische Eigen-Liebe, um den Himmel zu gewinnen?

Warum wird nie politischen Gruppen gedankt, den namenlosen Kritikern der Politik, die landauf, landab ihre Meinung sagen, um die Demokratie zu bewahren und zu verteidigen? Ist das keine konkrete Nächstenliebe?

Freundschaft ist das Wesen der Polis, sagt der Heide Aristoteles, jede politische Basisarbeit demnach ein notwendiger Freundschaftsdienst. In welcher pathetischen Ritualpredigt der Anzugträger hört man das Lob auf die wahren, ehrenamtlichen Demokraten, die sich den Arsch aufreißen – und jeder kritisierte Mächtige trampelt auf ihnen herum?

Caritative Arbeit hingegen ist antipolitische Arbeit im Dienst der Obrigkeit, um deren Ungerechtigkeiten abzumildern. Zuerst kommt Bruder Gerhard, deklassiert die Schwächsten der Gesellschaft mit Hartz4 – um die Folgen der Finanzverbrechen der Eliten auszuwetzen –, dann kommt Caritas und Diakonie und machen Eia, Eia zu den Langzeitarbeitslosen, Gedemütigten und Aussortierten. Hat Bruder Gerhard nicht so ernst gemeint. Wollte nur größeren Schaden vom deutschen Volke abwenden.

Die kirchliche Nächstenliebe ist Obrigkeitsstabilisierungsliebe. Man könnte schlicht von Untertänigkeit und mangelnder Zivilcourage sprechen. Die Kirchen sind froh und dankbar für die immer wieder neu aufgerissenen Wunden der Gesellschaft – damit ihre überflüssige Existenz legitimiert wird.

Es sind Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen für Angehörige einer der staats- und demokratiefeindlichsten Institutionen, die die Weltgeschichte je sah.

Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Reißt diese Welt ab, damit ich Einzug halten kann. Jesus hasste nicht nur seine jüdischen Landsleute, sondern auch die ganze griechische Demokratie: was hülfe es dem Menschen, wenn er sich auf Erden autonom einrichtete und nähme doch Schaden an seiner Seele? Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist? Und was ist des Kaisers? Die schweigende Arroganz, dass es morgen aus ist mit ihm, weil der Pantokrator des Universums erscheinen wird.

Die Griechen stritten sich, wie man das kurze Leben auf Erden am besten gestalten kann. Das nannten sie Politik. Am besten kann man das irdische Leben verbringen, wenn man eine Gesellschaft der Gleichen errichtet. Sie nannten es Demokratie.

Dann kamen die, die es auf Erden nicht aushielten und so schnell wie möglich abscheiden wollten – ins Jenseits. Das Diesseits sollte zur verbrannten Erde werden, damit das Jenseits sich öffne. Doch das Jenseits diente nur dazu, die Macht im Diesseits zu erringen. Als die Kirche zur Staatskirche wurde, war es aus mit der Flucht ins Jenseits. Alle eschatologischen Sekten wurden ausgeschlossen und verflucht.

Seitdem beherrscht die Kirche das Spiel mit dem Jenseits perfekt. Man verweist auf den Himmel – um hinterlistig die Erde zu kassieren. Eine perfekte Strategie. Heute hat das Christentum die Erde unter der Knute.

Bruder Gerhard hat viel Schuld auf sich geladen, das macht die tragisch umwitterte Aura des großen Staatsmannes. Wer wird so hartherzig sein und dem Reuigen nicht vergeben?

Doch ach, Hartz4: das ist keine Schuld, das ist noch immer eine Spitzenleistung des Weltökonomen. „Meine Seele hat im politischen Leben Schaden genommen – und zwar nicht, weil es um mein persönliches Schicksal ging, sondern weil in meinen Händen das Schicksal und das Leben anderer Menschen lagen. Die Agenda 2010 durchzusetzen, war politisch schwierig, aber es war keine moralisch schwierige Entscheidung.“

Ist es nicht gute biblische Tradition, die Armen und Schwachen für ihr Elend selbst schuldig zu erklären? Hätte Gott sie denn bestraft, wenn sie unschuldig gewesen wären? Gott belohnt die Frommen und Fleißigen. „Lässige Hand bringt Armut, fleißige Hand schafft Reichtum. Faulheit versenkt in tiefen Schlaf und ein lässiger Mensch muss Hunger leiden.“

Die deutschen Christen – im Gegensatz zu den angelsächsischen – glauben noch immer, ihr Heiland sei auf der Seite der Armen. Welch ein Unsinn. Gott benutzt die Armen nur, um die Tüchtigen auf Erden zu bekämpfen. Er hasst alle Menschen, die – unabhängig von ihm – irdische Kompetenzen besitzen.

Am Ende werden alle Armen, sofern sie fromm sind, nicht weil sie arm sind – unendlich reich werden. Im Himmel werden sie die Schätze Gottes erben und im Goldenen Jerusalem mit Edelsteinen prassen. „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Erben Gottes und Miterben Christi, wenn anders wir mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm verherrlicht werden.“

Armut ist die irdische Voraussetzung, um am Ende der Geschichte das ganze Erbe der Schöpfung als Lohn des Glaubens zu erhalten.

Es gibt kein prinzipielles Lob der Armut in der Schrift. Nur die schnell vorübergehende irdische Armut wird instrumentalisiert, um die politischen Fähigkeiten der heidnischen Hellenen zu versenken. Der Mensch ist kein Geschöpf der Erde, er ist ein Bewohner des Himmelreichs.

Bruder Gerhard ist bußfertig zur Kirche zurückgekehrt. Da schlagen alle Herzen der Frommen höher. Freut sich der Himmel doch mehr über die Rettung eines verlorenen Schafes als über 99 Gerechte. Womit wir bei Jesaja 43 wären.

Steht da doch tatsächlich: „Gerhard, ich rufe dich bei deinem Namen, mein bist du. Ich bin dein Retter, da du teuer bist in meinen Augen, wertgeachtet und ich dich liebhabe.“ Bei einem solchen Liebesgeständnis des Himmels muss das Herzchen des Ex-Kanzlers ins Wallen kommen.

Diesen Liebesschwur hat Bruder Gerhard dringend in seiner verspäteten Midlife-crisis gebraucht. Das „mein bist du“, störte ihn anfänglich. Doch kein Problem für den gewandten Bibeldeuter:

„Dieses „du bist mein“ klingt zunächst sehr besitzeinnehmend und beherrschend. Aber wer weiter liest kommt dann zu einer Stelle, in der es heißt: „weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe“. Das hat für mich etwas fast Zärtliches, etwas sehr Familiäres. So sollten Mütter und Väter über ihre Kinder denken.“

Schlitzohr Gerhard hat blitzschnell erkannt, wie Theologen mit unliebsamen Stellen umzugehen pflegen. Man dreht und wendet sie so lange, bis sie ins familiäre Liebesschema passen. Demnächst wird dieser Text zum Fundament der zukunftsweisenden Kindererziehung biblisch orientierter Uni-Pädagogen. Ihr Motto wird sein: Nur, wenn ihr eure Kinder als euren Besitz betrachtet, liebt ihr sie wirklich.

Sind Kinder der Besitz ihrer Eltern, mit denen sie umgehen können wie mit ihrem sonstigen Besitz? Hilft alles nichts: an dieser Stelle erklärt Jahwe, wie er seine Schöpfung versteht. Und seine Lieblinge unter den geschaffenen Kreaturen, die Kinder Israels. Als seinen Besitz nämlich. Er ist alleiniger und despotischer Besitzer all dessen, was er selbst gemacht hat.

Und er hat alles gemacht. Niemandem ist er Rechenschaft schuldig, wie er mit seinem Eigentum verfährt. Er liebt es inbrünstig, er hasst es inbrünstig. Gott gibt, Gott nimmt, der Name Gottes sei gepriesen. Er schafft das Gute, er schafft das Böse. Er macht selig und er verdammt. „Oh Mensch, jawoll, wer bist du, dass du mit Gott rechten willst? Wird etwa das Gebilde zum Bildner sagen: warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht Macht über den Ton, aus der nämlichen Masse das eine Gefäss zu Ehre, das andre zur Unehre zu machen?“

Das ist die Liebe des despotischen Alleinbesitzers zu seiner Schöpfung, oh weiser Gottesgelehrter Gerhard. Auch zu seinen Auserwählten. Er schickt sie in Fluten und Flammen und er errettet sie – wenn er will. Manchmal will er, meistens will er nicht. Selbst seine geliebten Kinder Israels müssen durch viele Schrecken und Torturen, bevor sie den Lohn seiner gewalttätigen Liebe kassieren dürfen. Sofern sie dran glauben.

Eigentum verpflichtet? Bei Gott nicht. Er handelt nach Lust, Laune und Willkür und ist keinem moralischen oder sozialen Gesetz untertan. Hier sehen wir eine wichtige Wurzel des europäischen Eigentumsbegriffs. Der Eigentümer kann mit seinem Besitz schlicht machen, was er will. Solidarische Normen gibt es für ihn nicht.

Diese Despotie als humane Liebe auszugeben, dazu ist jene magische Deutungskugel erforderlich, mit der geistbegabte Theologen jedes X in ein beliebiges Y transsubstantiieren können. Wer Brot und Wein in Leib und Blut verwandeln kann, der wird doch vor keinem schnöden Buchstaben die Waffen strecken.

Und schwupp sind wir mitten im aktuellen Nahost-Konflikt, wo ein ultrareligiöser Geist der israelischen Regierung diese Jesajastelle in Politik verwandelt. Die Liebe Gottes zu seinen Kindern und Lieblingen erweist sich darin, dass er als Geschichtsgott andere Völker in den Dienst seiner Erwählten stellt. Auch mit Leid und Schrecken.

Das Schicksal der Anderen ist nicht so wichtig wie das Wohlergehen der Kinder Gottes. „Ich gebe Ägypten als Lösegeld für dich, Äthiopien und Saba an deiner Statt. Dieweil ich dich liebhabe, gebe ich Länder für dich hin und Völker für dein Leben.“

Schneidender und unmissverständlicher kann man die Sondermoral eines erwählten Volkes nicht formulieren. Vor Gott sind alle Menschen völlig ungleich. Die einen liebt er, die anderen hasst er. Abel liebte er, Kain hasste er. Jakob bevorzugte er, Esau degradierte er. Netanjahu und seine Regierung fühlen sich von Gott geliebt, also sind ihre Interessen die Interessen Gottes und das Völkerverbrechen gegen die Palästinenser eine gottgewollte Tat.

Im Kommentarwerk „Das AT Deutsch“ erklärt Claus Westermann diese Stelle mit der Tatsache, dass der „Heiland Israels der Herr der Völker ist. Er kann in der jetzigen Lage Israel nur dann aus dem Exil befreien, wenn er majestätisch in die Geschicke der Völker einzugreifen vermag.“

Bestimmte Länder und Völker werden genannt, die Gott an Israels statt oder als Lösegeld geben wird: Ägypten, Kusch und Seba. Im heutigen Konflikt müsste Jesaja das palästinensische Volk nennen, das stellvertretend bluten muss, damit Israels Heilsweg gesichert ist. Gott benutzt andere Völker als Werkzeuge, um Israel zu strafen und zu belohnen. Hitler war für Ultras nur ein unbedeutendes Instrument Jahwes, um das allzu assimilierte und glaubensvergessene moderne Judentum fürchterlich zu bestrafen.

Mit untrüglicher Sicherheit hat Bruder Gerhard den passenden Text für den gegenwärtigen Konflikt zwischen Israel und seinen Nachbarn ausgesucht. Indem er diesen Text als Gottes Wille ausweist, legitimiert er – vermutlich ohne das geringste Bewusstsein – das völkerrechtswidrige Vorgehen der Israelis.

Gerhard Schröder, einstiger Kanzler, stützt mit einem biblischen Text die moralisch-religiöse Vernichtungspolitik des Heiligen Landes. Deutschlands Eliten erklären sich überidentisch mit dem biblischen Sonderrecht ihrer besten Freunde. Wer Gott auf seiner Seite hat, muss sich an kein universelles Recht halten.

Die Kirche in Hannover ist weit entfernt vom Schauplatz der entsetzlichen Verwüstungen in Gaza. Das Schreien der verstümmelten und verletzten Kinder, Frauen und Männer dringt nicht durch die undurchdringlichen Mauern der christlichen Nächstenliebe.

Bruder Gerhard ist ein echter deutscher Christ – so wahr ihm Gott helfe.