Kategorien
Tagesmail

Kant

Hello, Freunde Kants,

„Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann.“

„Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“

Was ist der Mensch als Zweck, was als Mittel? Nicht bloß, aber auch als Mittel? Zugleich als Zweck und als Mittel?

Da kommen uns die Flüchtlinge gerade recht. Als rentenzahlendes Mittel kompensieren sie den fehlenden deutschen Nachwuchs, als Zweck dürfen sie die deutsche Leitkultur übernehmen – upps, ist das kein Mittel, um den Ruhm der deutschen Leit- und Führungskultur noch mehr leuchten zu lassen?

Flüchtlinge als Zweck sind genau die rechten Mittel für die Deutschen, um die Schurkenkarte in griechischer Angelegenheit abzugeben und die kantische Tugendkarte in Asylfragen der bewundernden Welt zu präsentieren. Wir werden es doch noch schaffen, die massenhaften Zweck-Flüchtlinge als Mittel unserer karitativen Eitelkeitsvermehrung zu nutzen?

Stopp, streichen! Klingt zu pessimistisch. Was geht’s dich an, wenn ich ein eitler Tugendbold bin, aber meine Tugend dir zu einem menschlichen Leben verhilft? Kommet her, ihr Mühseligen und Beladenen, Angela Merkel wird euch erquicken – aber nur eine Woche lang. Am siebenten Tage aber ruhte Merkel, erschöpft und ausgelaugt von ihren guten Taten und vom strengen Kant. Oder war es der barmherzige Jesus?

Der deutsche Frühling währte nur eine Woche. Ach, welch recht-eckig preußischer Schädel beendete in roher Staatsraison die barmherzige Aufwallung der Kanzlerin? Es war eine ungarisch-bayrisch-hugenottische Schurkentrinität, die sich

zusammenrottete, um die Herzenskönigin vom Thron der unbegrenzten Menschenliebe zu stoßen.

Sollte die grundgütige Mutter der Nation etwa unbegrenztes Wirtschaftswachstum verwechselt haben mit grenzenlosem Asylrecht? Das Asylrecht kennt keine Obergrenze? Wir schaffen das?

Vor wenigen Wochen noch „tröstete“ Merkel ein gut integriertes palästinensisches Mädchen mit der abschreckenden Formel: alles schaffen wir nicht, vielleicht müssen wir dich dorthin zurückschicken, woher du gekommen bist.

Und siehe, über Nacht schaffte das deutsche Wunder nichts weniger als alles. Doch das Alles währte keinen Sommer lang, sondern nur eine Merkel‘sche Sentimentalitätswoche. Danach wieder das schnöde Realitätsprinzip. Sollten die ruhmreichen Deutschen wider Erwarten eine ganz ordinäre Nation-in-Grenzen sein? Sollten auch ihre Bäume nicht in den Himmel wachsen?

Erleichterung in der Welt, die Deutschen sind nicht zu kollektiven Engeln geworden. Häme im „nüchternen“ Binnenland: haben wir‘s nicht gleich gesagt?

„Wir schaffen es doch nicht. Deutschland vollzieht die Kehrtwende und führt Grenzkontrollen ein. Die Politik ist gescheitert an der eigenen Selbstüberschätzung und der europäischen Unbeweglichkeit. Wir können und wollen nicht alle aufnehmen. Das ist die harte Lektion der Flüchtlingstragödie: Herz und Verstand lassen sich nicht mehr in Einklang bringen.“ Schreibt Stefan Kornelius in der SZ.

Nicht mehr in Einklang bringen? In welchen politischen Zeiten sollen denn Herz und Verstand in Einklang gewesen sein? Doch nicht im seligen Mittelalter? Oder unter König Ludwig II., dem Traumtänzer? Oder gar unter Franz Josef Strauß, jenem Titanen, der beim Wettradeln durchs schöne Bayern auf Lateinisch fluchte und beim regelmäßigen Besäufnis mit Industriellen seine Brieftasche weit öffnete?

BILD laviert zwischen Madonnenverehrung und vorsichtiger Entmythologisierung des allzu Überschwänglichen – unter geflissentlicher Schonung der Mater germaniae:

„Mit der Entscheidung, nicht mehr alle Flüchtlinge ins Land zu lassen, hat Berlin die Notbremse gezogen. Und zugleich ein trauriges Eingeständnis geliefert: Europa ist müde, blutleer, kraftlos – und gleichgültig. Machen wir uns nichts vor: Europa macht den zweiten schweren Fehler in diesem Jahr! Und in der Flüchtlingskrise zeigte sich Kanzlerin Merkel zwar erneut als Muster-Europäerin und öffnete die Grenze. Aber die anderen EU-Staaten zucken mit den Schultern und sagen: Die Flüchtlinge sind Problem der Deutschen… So geht Europa kaputt!

Merkel macht alles richtig. Nur Europa macht alles falsch. Wenn in deutschen Nachrichtensendungen Kritisches über Politik berichtet wird, verknüpft man es mit der deutschen Regierung. Gibt es Verdienstliches zu melden, fällt regelmäßig – mit Tremolo in der Stimme – der Name Merkel. Deutschland hat das lutherische Staatsverständnis zurückerobert: alle Obrigkeit ist von Gott. Merkel, Merkel, über alles, über alles in der Welt.

Deutschlands völkische Einheit mit einem schrecklichen Führer mendelte sich zur völkischen Symbiose mit einer überfließend gutherzigen Mutter. Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre. Besonders wenn sie ihren Triumph in Demut zelebriert. Die Letzten werden die Ersten sein. Die Deutschen waren die Allerletzten, jetzt sind sie zum Licht der Welt geworden.

Da will auch die BLZ nicht abseits stehen:

„In der Flüchtlingsdebatte hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochen, niemanden abzuweisen, der aus Not nach Deutschland kommt. Nun aber werden vorübergehend Grenzkontrollen eingeführt. Es ist ein Markstein in Merkels Kanzlerschaft. Nutzen wir die gewonnene Zeit, um die Aufnahme der Flüchtlinge besser zu organisieren und die humanitären Möglichkeiten und Beschränkungen Deutschlands zu definieren. Und nicht für fruchtloses Rechthaben.“

Milder Tadel für die Kanzlerin – aber bitte nicht gegen sie Recht haben wollen. Solches muss fruchtlos bleiben. Merkel will nie Recht haben, sie hat immer Recht. Auch das ist ein Schicksal, das in Würde getragen werden muss.

Deutschland, eine Woche lang im Ausnahmezustand zwischen Kant und Schwein. Gegenüber den Flüchtlingen herrschte eine kleine Weile der kategorische Imperativ, dann retournierte mit Macht das radikale Böse. Die Griechen sollten nicht die Einzigen bleiben, die man schweinisch behandelte. Verzeihung, ihr harmlosen Ferkel.

„Du musst ein Schwein sein in dieser Welt – Schwein sein
Du musst gemein sein in dieser Welt – gemein sein
Denn willst du ehrlich durchs Leben geh’n – ehrlich
Kriegst ’n Arschtritt als Dankeschön – gefährlich
Gefährlich!“

So singen die Ossi-Prinzen, die auch im Kapitalismus gut, edel und sozialistisch bleiben wollten, doch, ach, die widrigen Wessi-Verhältnisse obsiegten.

Bei den Griechen machte sie alles schlecht, bei den Flüchtlingen alles richtig, intonierte in PHOENIX Jakob Augstein in schneidigem Dualismus. Und nach der Grenzschließung macht sie wieder alles schlecht? Wie erleichtert klingt der Träger eines berühmten Namens, wenn er Muttern endlich aus ganzem Herzen loben darf. Ist es nicht die Berufung eines Sohnes, seine Mutter auf Händen zu tragen? Augsteins frühere Merkel-Kritik war nur nassforsche Pose. Erst, wenn er Muttern rühmen darf, ist er bei sich angekommen. Augstein ist kein Aufklärer, sondern Romantiker mit politisch klingenden Herzensergießungen eines entlaufenen Elitesprösslings, der mit impressionistischem Hurra für die Armen eintritt, aber Wert legt auf seinen ausgrenzenden, antisozialistischen Luxusgarten.

„Der Hof – oder die Regierung – soll das klassische Privatleben im Großen sein. Die Hausfrau oder Kanzlerin ist die Feder des Hauswesens. So die Königin, die Feder des Hofs. Jede gebildete Frau und sorgfältige Mutter sollte das Bild der Kanzlerin in ihrem Wohnzimmer haben. Welche schöne kräftige Erinnerung an das Urbild, das jeder Bürger zu erreichen sich vorgesetzt hat. Ähnlichkeit mit der Kanzlerin würde der Charakterzug der neupreußischen Untertanen, ihr Charakterzug.“ (Frei nach Novalis)

Noch immer ist es eine bewundernswerte Eruption deutscher Herzen, die der kategorischen Kälte der herrschenden Wirtschaftsform Paroli bieten. Doch Ross und Reiter werden nicht genannt oder ins Visier genommen. Wenn Gefühle an ihren eigenen Überschwang glauben, ohne sie einer Überprüfung zu unterziehen, droht ein politischer Katzenjammer.

Ins Bewusstsein können die Gefühle noch nicht vorgedrungen sein. In welchen Kanälen werden die Eruptionen abfließen? Wo werden sie ihre Lebensgeister aushauchen?

In den Schlachthäusern der Geldmagnaten, die schon jetzt sabbernd auf das neue Frischfleisch warten, aus denen sie die Perlen selektieren und den Rest in den Clinch schicken werden gegen die Binnen-Armen und Abgehängten. Hetzet die Letzten aufeinander und lasset sie sich gegenseitig in Stücke hauen: das ist das Lieblingsamüsement der Logenbesitzer im Circus oeconomicus maximus.

Sentiment muss Vernunft werden, sonst wird es Sentimentalität. Man muss ja nicht mit Hegel übertreiben: „Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin, im Gefühle stehenzubleiben. Das praktische Gefühl ist unentwickeltes Rechts- und moralisches Bewusstsein“. Doch ganz falsch liegt er nicht.

Es liegt was in der Luft. Der unbeugsame Linke Corbyn in England wurde Chef der degenerierten Labour. Tspiras könnte seine Niederlage bereuen und zu seiner früheren Widerstandskraft zurückfinden. Podemos ist noch nicht verloren. In Frankreich gärt es. Sollte eintreffen, was Henrik Müller im SPIEGEL prognostiziert – „Die Welt steuert auf einen Bankrott zu“ –, wäre das der letzte Tropfen auf den heißen Stein. Dann wird ein globales Revirement stattfinden.

Die Menschheit ist keine unendlich duldsame Schafherde. Die Eliten kotzen sich an und übertreiben maßlos, um durch provozierten Widerstand der Massen sich selbst davon zu katapultieren. Die Machtblöcke spalten sich. CSU gegen CDU, linke gegen rechte Proleten, Grüne verlassen ihre Partei, im Vatikan droht ein Aufstand der Altreaktionäre gegen den Hallodri auf dem Thron der Unfehlbarkeit, die EU zerlegt sich, Österreich wirft Ungarn nationalsozialistische Politik vor, die USA werden unberechenbar, ihre Milliardäre besitzen bereits 90% des nationalen Reichtums, überall werden Mauern und Zäune gebaut, die Machtimperien grenzen sich voneinander ab, in China brodelt es, Afrika beginnt, sich der ansteigenden Gluthitze zu entziehen und macht sich en bloc auf den Weg nach Norden, Flüchtlingsströme überall auf der Welt, die Geduld der Südamerikaner mit den Ausbeutungsmethoden der Superreichen sinkt rapide, die UN wird von ihren Mitgliedern systematisch geschwächt, die gar nicht daran denken, ihre Beiträge zu zahlen.

Das UNHCR hat kein Geld mehr, die riesigen Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon durchzufüttern. Viele brechen aus den Lagern aus und strömen in den Norden. Die Weltwirtschaft ist zum Vabanque-Spiel von Zockern verkommen. Das Chaos in Nahost wird von den Weltmächten absichtlich eskalieren lassen. In der muslimischen Welt verbünden sich Sunnitenstaaten gegen Schiiten, Saudi Arabien besitzt 100 000 klimatisierte Zelte, doch rebellische Syrer sollen draußen bleiben. Israel schottet sich ab von allen Gojim. Netanjahu degradiert fast alle Flüchtlinge zu potentiellen Terroristen: „Wir werden nicht zulassen, dass Israel von illegalen Einwanderern und Terroristen überflutet wird.“

Die Mehrheit europäischer Staaten ignorieren die Menschenrechte. Orban will, dass in seinem christlichen Land die Ungarn unter sich bleiben: „Wir möchten hier keine zahlenmäßig bedeutsamen Minderheiten haben, die sich von uns in ihren kulturellen Eigenschaften unterscheiden.“ Polen und die baltischen Staaten schließen sich ab. In Deutschland regiert Merkel länger als Helmut Kohl, hat keine einzige Krise vorausgesehen, hat alle humanen Lösungsmöglichkeiten kaltschnäuzig blockiert und wird dennoch – mit einer plötzlichen Wendung um 180 Grad (in Anschluss an das Volk) – zur Siegerin der Geschichte erklärt.

Im wöchentlichen Takt stehen verschärfte Klimakatastrophen ins Haus, kein Politiker kommentiert mit einem einzigen Wort. Alle sind mit Geldverdienen beschäftigt und mit der Eroberung der Zukunft, die als unvermeidliches totalitäres Ereignis die Menschheit überrollen wird.

Nur die Bevölkerungen werden immer unruhiger und nervöser. Doch noch schaffen sie es nicht, ihre Antigefühle in konkrete Politik zu verwandeln. Doch wartet nur, balde …

Wie wird sich die Euphorie der Deutschen weiter entwickeln? Man kann etwa 10 Phasen unterscheiden:

„Phase 1: Freundlichkeit und Idealismus; Phase 2: Überforderung (meist nicht wahrgenommen); Phase 3: geringer werdende Freundlichkeit; Phase 4: Schuldgefühle; Phase 5: vermehrte Anstrengungen; Phase 6: Erfolglosigkeit; Phase 7: Hilflosigkeit; Phase 8: Hoffnungslosigkeit; Phase 9: Erschöpfung, Abneigung, Apathie; Phase 10: Burn-out = Selbstbeschuldigung, Zynismus, psychosomatische Reaktionen, Fehlzeiten, Unfälle.“ (SPIEGEL.de)

Eins aber unterscheidet die Ausgebranntheitsphasen einer Hausfrau vom Erregungsverlauf kollektiver Gefühle. Besonders bei Deutschen. Am Ende einer menschenfreundlichen Emotionswelle könnte eine Regression, ein Umkippen ins Antihumane stehen. Treten erste Probleme zwischen Fremden und Einheimischen auf, könnten die Deutschen ihre Freundlichkeit verlieren und in Muster nationaler Fremdenfeindlichkeit zurückfallen: es hat sich nicht gelohnt, dass wir uns ein Bein ausgerissen haben.

Bis jetzt sind noch alle utopischen Regungen der Völker vom kapitalistischen Moloch mit Haut und Haaren verspeist worden. Gegen die Kohäsion aus korrupter Intelligenz, nach oben buckelnden, selbstgefälligen Medien und unendlicher Macht des Geldes, haben die Völker noch kein Kräutlein gefunden. Ganz ruhig, sie werden es finden.

Nicht das freundlich gesonnene Volk, es ist Merkel und ihr unfähiger Apparat, die sich übernommen haben und nun die Notbremse ziehen. Europa mit über 500 Millionen Einwohnern soll unfähig sein, zwei Millionen Flüchtlinge aufzunehmen?

Nach dem Krieg nahm das am Boden zerstörte Westdeutschland über 14 Millionen Volksdeutsche auf. Okay, es waren Deutsche. Dennoch wurde jede leere Kammer durch den Ortsbürgermeister beschlagnahmt und Flüchtlingen zugewiesen. War die Akzeptanz der Flüchtlinge leichter, weil die damaligen Deutschen durch Teilen nichts zu verlieren hatten, da sie ohnehin nichts besaßen? Fällt es Satten und Reichen schwerer, von ihrem Überfluss abzugeben?

Warum gibt es heute keine Zwangsvermietungen? Rainer Hank schlägt die neoliberalen Hände über dem Kopf zusammen. Er wittert, dass seine geliebten Reichen mehr zur Kasse gebeten werden könnten als die Nichtshabenden. Hieß ein Grundsatz der Gerechtigkeit nicht einst: wer mehr hat, der gibt mehr? Nicht so bei Hayek-Fan Hank:

„Man ist erschrocken, wie schnell Politiker bereit sind, im Überschwang unserer neuen „Willkommenskultur“ in das Privateigentum, die Vertragsfreiheit und das freie Spiel der Preise einzugreifen: Dabei handelt es sich um konstitutive Freiheitsrechte einer liberalen Gesellschaft, auf die eine Marktwirtschaft zwingend angewiesen ist. Dass Immobilien leer stehen, begründet mitnichten ein Recht für den Staat, über deren Nutzung zu verfügen. Dass das Grundgesetz mit dem Verweis auf das vage Gemeinwohl („Eigentum verpflichtet“) solche willkürlichen Freiheitseingriffe ermöglicht, macht die Sache nicht besser.“ (Rainer Hank in FAZ.NET)

Vor kurzem noch heulte Hank, dass im Falle der Griechen heilige Wirtschaftsregeln verletzt werden könnten. Dass er allerheiligste Regeln, die Artikel des Grundgesetzes, mit frivoler Hand vom Tisch wischt, ist für ihn eine Petitesse.

Besitz ist kein privates Heiligtum, sondern hat dem Wohl der Gesellschaft zu dienen. Überbordender Besitz ist nicht nur „legaler“ Diebstahl an der arbeitenden Bevölkerung, er kann zum Massenmord an Schwachen, Hungernden und Hilfesuchenden werden.

So viele Milliarden könne man nicht ausgeben, sagte mitleiderregend die reichste Frau der BRD, Susanne Klatten. Wozu dann das viele Geld, wenn es nicht sinnvoll verwendet werden kann? Fällt niemandem auf, dass die Superreichen der Gesellschaft sich zurzeit in Schweigen hüllen? Wie viele Banker helfen in Flüchtlingsheimen Kleider sortieren, mit Kindern spielen, mit Traumatisierten empathische Gespräche führen?

Es wird Zeit für eine rigorose Besteuerungs- und Enteignungspolitik nach dem Vorbild der USA in der Nachkriegszeit. Milliardäre gab es damals so gut wie keine. Die Steuersätze für Reiche überstiegen die 90%-Marke. Nie war der Wohlstand des neuen Kontinents homogener als durch den New-Deal Roosevelts.

Erst unter Hollywood-B-Schauspieler Reagan begann das grausame Diktat Hayeks und Milton Friedmans. Zeitgleich mit den Brutalitäten einer eisernen Lady in Old England. Neoliberalismus, philosophisches Produkt einiger Alt-Österreicher, begann seinen Triumphzug über die ganze Welt.

Die ökonomische Gegenaufklärung, eine Verachtungsorgie der Vernunft und aller humanen Potenzen des Menschen, muss durch Fortführung der klassischen Aufklärung zur Bedeutungslosigkeit reduziert werden.

Was treibt Varoufakis zurzeit, fragt BILD. Und antwortet: der Bedeutungslose tingele eitel durch die Welt, um mit Ach und Krach in die Schlagzeilen zurückzukehren. Natürlich ist Diekmann & Co nicht aufgefallen, dass ihr Lieblingsfeind in der FAZ ein Loblied auf die Deutschen sang. Deutschland habe sich als wahrhaft kantische Nation erwiesen:

„Ein Land jedoch ragte heraus und bewies moralische Führungskraft in dieser Angelegenheit: Deutschland. Der Anblick Tausender von Deutschen, die unglückliche Flüchtlinge willkommen hießen, welche von verschiedenen anderen europäischen Ländern abgewiesen worden waren, war etwas, was man würdigen und woraus man Hoffnung schöpfen konnte. Hoffnung, dass Europas Seele nicht gänzlich verschwunden sei.“ (Giannis Varoufakis in FAZ.NET)

Die Hilfe der Deutschen war Pflichterfüllung im Geiste des kategorischen Imperativs. Nur bedingungslose Moral könne die Zwänge der Ökonomie brechen. Das haben die deutschen Linken bis heute nicht verstanden. Ihr Kirchenvater Marx hasste die antiautoritäre Moral eines Proudhon, Bakunin und linker Neukantianer. Noch heute warten sie auf Marx II, ein Genie, das mit einem Schlag alle Ungereimtheiten des Kapitalismus dem Sturm des Vergessens übergibt. Bis heute haben sie es nicht für nötig gehalten, die blauen Marx-Bibeln zu entsorgen und stattdessen ihren kantischen Kopf zu bemühen.

Was ist – nach Varoufakis – das Geschenk der Deutschen an das gegenwärtige Europa?

„Studenten der Philosophie mögen wie ich versucht sein, die Antwort in einem der größten Geschenke zu suchen, welche Deutschland der Menschheit gemacht hat: in der Philosophie von Immanuel Kant. Im Gegensatz zu Ökonomen und zu angelsächsischen Philosophen gab sich Kant nicht mit der instrumentellen Berechnung dessen zufrieden, was es heißt, rational zu handeln. Solche Berechnungen mögen gut für Katzen oder schlaue Roboter sein. Aber nicht für menschliche Wesen. Menschen müssen die Fähigkeit zur moralischen Reflexion besitzen, die nicht Resultat eines Dogmas ist, sondern der reinen Vernunft.“

Ein rebellischer Grieche muss kommen, um bewusstseinsvergessenen Deutschen einen ihrer besten Köpfe in Erinnerung zu rufen. Gesetze der Ökonomie, die eherne Gesetze der Natur sein wollen, müssen gebrochen werden. Womit? Mit der bloßen Kraft autonomen Denkens und humaner Moral. Deutschland solle, im kantischen Geist, die führende Rolle In Europa übernehmen:

„Es ist an der Zeit für Deutschland, seine moralische Führerschaft von der Flüchtlingsfrage auf die Architektur der Eurozone auszuweiten. An Kant zu erinnern, um das inkohärente Selbstbild als Europas exportorientierter Betrieb abzustoßen, wäre ein exzellenter Auftakt.“

Das könnte deutscher Überheblichkeit schmeicheln. Doch Varoufakis überschätzt die Deutschen. Ihre Hilfswelle war keine kantische Pflichterfüllung, sondern eine Explosion von Gefühlen, die viele Jahre lang verdrängt wurden. Merkel und ihre Kumpane sind keine philosophischen Köpfe, sondern im trüben Dickicht sündiger Geschichte herumstochernde christliche Antinomer.

Saure Pflichterfüllung genügt nicht. Ein kategorischer Imperativ ist ein Befehl. Kein Befehl Gottes an den Menschen, sondern des Menschen an den Menschen. Dennoch bleibt er ein Befehl. Der Imperativ solle so generell sein, als realisiere er allgemeine Gesetze. Befehl, Gesetz: das klingt wie eine Predigt von der Kanzel herab. Weshalb die jungen Romantiker sich davonmachten und von Aufklärung nichts wissen wollten. Doch sie verstrickten sich in sture Reaktionsbewegungen, die sich in Schwärmereien erschöpften – um sich schließlich erneut dem Diktat der Religion zu unterwerfen.

Die Deutschen sind eher leicht entflammbare – und leicht enttäuschbare – Enthusiasten als verständige Zeitgenossen, die ihre Meinung in verlässliche demokratische Politik gießen könnten.

Trotz des kategorischen Imperativs vertrat Kant keine autonome Moral. Der Mensch müsse einem verborgenen Plan der Natur folgen, wenn er bessere Zustände für seine Gattung herbeiführen wolle:

„Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann.“ (Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“)

Kapitalismus und Marxismus müssen wir mit Kant widerlegen. Doch dann müssen wir Kants unmündigen Plan der Natur mit schlichter Vernunft widerlegen: nicht fremdgeleitete Pflicht, sondern autonome Leidenschaft, die sich nicht aufspalten lässt in Gefühle und Verstand, kann allein wirksames Treibmittel in eine humane Zukunft sein.