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Tagesmail

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

Hello, Freunde der Anfänge,

das Große klein denken, darin ist Angela Merkel groß. Wie war vor Tagen noch alles so komplex, unüberschaubar und überdimensional. Angela kommt zur Tür herein und – alles ist übersichtlich, altvertraut und just so winzig, wie wir selber sind.

Den Großen der Welt zeigt Angela – die tapfere Jungfrau von Orleans-Hinterpommern – dass sie klein und unbedeutend sind. Vor ihr schrumpfen alle Ungeheuer, Euro-Ströme, Männer und Wichtigtuer zu Zwergen und Nichtsen – die sie anstrahlt, als habe sie nur auf sie gewartet. Jeden Gabriel und Steinbrück verwandelt sie in einen Siegfried, der für sie den Drachen töten soll und nicht merkt, dass er ihr die Handtasche hinterher tragen darf.

Angie ist eine Individual-Gattung für sich, ein Widerspruch, den es gar nicht geben dürfte. Sie kennt alle Schwächen der Männer, tut aber, als habe sie es nur mit starken und selbstbewussten Männern zu tun. Wem immer sie die Hand zur Zusammenarbeit reicht, dessen Zukunft liegt schon hinter ihm.

Was Alice Schwarzer in vielen Büchern nicht formulieren konnte, das hat Angie im kleinen Finger. Simone de Beauvoir hätte Hymnen über sie geschrieben.

Sie mögen Obama heißen, Putin, Pofalla oder Benedikt, noch jeden hat sie zur Kenntlichkeit entlarvt. Wo immer sie weilte, hinterlässt sie bleiche Männergerippe. Sie ist die effizienteste Vampyrin in Gestalt einer freundlichen Großmutter, da kommen

weder Maggi Thatcher noch Agatha Christi mit.

Die Epoche der Männer läuft aus. Angie ist die Amazone der heraufziehenden Weiberherrschaft.

Weiberherrschaft ist aber noch kein Matriarchat. Die Mütter regierten nicht, sie zeugten Leben und schützten es, verführten und waren sinnlich. Davon ist Angie weit entfernt. Doch was ist ihr Geheimnis? Sie schlägt die Männer mit deren eigenen Waffen; mit den Waffen männlicher Religion.

Es ist das spirituelle Geheimnis der kleinen Anfänge, die sie den Deutschen zumutet. „Dass die Deutschen mit Initiativen und Unternehmensgründungen immer wieder „Mut zu neuen, kleinen Anfängen“ bewiesen, zeichne sie aus. „Was jeder Einzelne von uns im Kleinen erreicht, das prägt unser Land im Ganzen“. (DER SPIEGEL)

Deutschland huldigt dem Männerkult der Anfänge. Gedenket nicht des Früheren und des Vergangenen achtet nicht. Schaut nicht zurück, das Gewesene gibt es nicht. Männer tun, erfinden, entwickeln und stellen her. Dann werfen sie alles weg, weil sie ihre Machwerke verachten. „Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, die Menschen sowohl als das Vieh, auch die kriechenden Tiere und die Vögel des Himmels, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“

Männer sind jenes Geschlecht, das die Welt mit Inventionen füllt und dann seine Erfindungen bereut. Produzieren, bereuen und das Produzierte mit Verachtung wegwerfen: voila, c’ est l’ homme.

Am Anfang ist alles sehr gut – deshalb die Nötigung, immer von vorne zu beginnen –, doch am Ende landet alles auf der Halde. Vorne frisst der Mann Natur, verdaut sie und exkrementiert sie hinten als Gift, das die Natur vernichtet.

Der Mann ist jenes übergescheite Geschlecht, das von der Natur lebt, aber unfähig ist, die Natur von sich leben zu lassen. Der Kreislauf seiner Existenz inmitten der Natur misslingt ihm. Der Zwang zum Fortschritt beruht auf seiner Unfähigkeit, keine Spuren zu hinterlassen. Er kann sich nicht aus dem Staube machen, als ob es ihn nie gegeben hätte. Die Überreste seiner Unverrottbarkeit ersticken die mütterliche Natur, die ihn hervorgebracht hat.

Der Kult des Anfangs ist die Religion der Wiedergeborenen. Wir stehen am Beginn des Neoliberalismus. Jeden Tag muss sich der Anfänger des Glaubens neu erfinden. Luther sprach vom täglichen Selbstersäufen des alten Adam. Jeden Tag von vorne beginnen, jeden Tag einen neuen Anfang setzen.

Hermann Hesse, Sprössling von Missionaren, hat der Wiedergeburt ein literarisches Denkmal gesetzt. Er spricht vom Zauber des Anfangs:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Was er Zauber nennt, nannten seine Väter Gnade. Jeder Tagesschaumoderator zitiert den Maulbronner, ohne zu wissen, dass er mit literarischen Vokabeln eine Predigt hält. Doch dem Gott in der Verfassung muss das Öffentlich-Rechtliche seine Reverenz erweisen.

Mit den kleinen Anfängen sagt Merkel ihrem Wahlvolk: Kehrt vor der eigenen Tür. Kritisiert nicht, ändert euch selbst. Die große Politik, über die ihr immer herzieht, die gibt es nicht. Das Große ist die Summe aller kleinen, unscheinbaren Taten, die von euch kommen müssen.

Merkel versteht es meisterhaft, von sich abzulenken und das Schuldbewusstsein des Volkes zu aktivieren: Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein. Wer ist ohne Fehler? Also unterbleibt das demokratische „Steinewerfen“, die Kritik des Volkes fällt aus.

Kritik ist eine heidnische Erfindung. Im Bezirk des Heiligen gilt die Regel: Wer richtet, der wird gerichtet werden. Wer will schon gerichtet werden? Also unterbleibt das Richten: „Denn mit welchem Maß ihr richtet, mit dem werdet ihr gerichtet werden und mit welchem Maß ihr messt, mit dem wird euch gemessen.“

An solchen Maßstäben gemessen, könnte nur richten, wer vollkommen ist. Sonst fiele dessen Richten vielfach auf ihn selbst zurück. Auf dem Boden einer alles überwältigenden eigenen Schuld hätte keine demokratische Kritikfähigkeit entstehen können, die von eigenen Verstrickungen unabhängig sein muss. Wer eine gewählte Regierung kritisiert, muss kein Tugendbold sein.

Wer je mit Gefängnisinsassen zu tun hatte, weiß, dass die Entrechteten die verborgensten Heucheleien der ehrenwerten Gesellschaft in den Phrasen politischer Korrektheit wittern. Eigene Schuld verzerrt und schärft zugleich das Kritikvermögen. Wer den Splitter im Auge des andern sieht, muss keinen Balken im eignen Auge haben.

In der athenischen Polis ist die Kritikfähigkeit des Volkes zur Demokratie gediehen. Auf heiligem Boden ist sie wieder ausgerottet worden. Wer bist du, der du mich kritisieren willst, der du selber ein sündiger Madensack bist?

Das ist das Ende politischer Autonomie. Wenn alle vollkommen sein müssen, bevor sie auf dem Marktplatz das Maul aufmachen, fällt die Macht des kritischen Wortes aus. Das muss nicht zur Selbstgerechtigkeit führen. (Gerechtigkeit durch sich selbst ist allemal besser als gnadenhafte Fremdgerechtigkeit durch Götter und Erlöser.)

Wer freimütig kritisiert, hat auch die Fähigkeit, sich kritisieren zu lassen. Kritik empfindet er als Loyalität. Heute ist Kritik zu unaufrichtigem Hass degradiert. In vielen deutschen Medien wird unkritische Liebe als bessere Alternative empfohlen: Liebe deckt alle Fehler zu. Was ist das für eine verlogene Politgemeinde, in der die Fehler der Mächtigen durch Liebe zugedeckt werden sollen?

Demokratischer Freimut und Kritikverbot im Namen des Heiligen sind auf immer unverträglich. Lass dich nicht vom Balken in deinem privaten Auge irritieren, wenn du den politischen Splitter im Auge deines Bruders anmahnen musst. Ja, musst. Es ist die Pflicht eines Demokraten, die Mächtigen durch Kritik an die Kandare zu nehmen.

(Momentan gibt es die Debatte, ob Journalisten auch Aktivisten sein dürfen. Dieser Berufsstand ist derart zerrüttet, dass er den Begriff der Vierten Gewalt als Zecke im Genick der Mächtigen nicht mehr kennt. Er macht sich „gemein“, wenn er den Gewaltigen die Meinung geigt.)

Im Privaten müssen Kritik und Selbstkritik sich die Waage halten, auf dem Forum sind häusliche Pipifax-Sünden uninteressant. Es geht um die Fehler der Mächtigen, die die Geschicke der Polis bestimmen. Da kann jede Mücke wie ein Elefant wirken.

Mediale Jesuaner lieben es, die Kritik des Volkes dem Volk in den Rachen zurückzustoßen: macht es erst mal besser, ihr Hyänen, bevor ihr unsere kostbare Regierung in den Dreck zieht. Bedenkenlos wird die antidemokratische Bergpredigt benützt, um das öffentliche Spiel aus Kritik und Gegenkritik auszuhebeln. Danach wird moniert, Demokratie sei unfähig, aus eigener moralischer Kompetenz zu leben.

(In den Medien gibt es die Figur des edlen Ritters, der – selbst kirchenfern – es als Gebot höchster Fairness betrachtet, die Kohorten der Frommen und Priester gegen gottlose Kläffer zu schützen. Die Gottlosen gegen die Verdammungen und Weherufe der Frommen zu schützen – auf diese Idee ist noch kein edler deutscher Ritter gekommen.)

Merkel will kleine neue Anfänge. Wer immerfort auf Anfänge setzt, hat kein Vertrauen auf Kontinuität. Bei ihm gibt es keine stabile dauerhafte Entwicklung. Stets beginnt er von vorn. Am Anfang war das Wort. Am Anfang ist weiße Leinwand, tabula rasa. Alles muss anfänglich aus Nichts begonnen werden. Was aus Nichts kommt, muss ins Nichts versenkt werden, damit der nächste Anfang aus Nichts gestartet werden kann.

Jedem Anfang wohnt ein nichtiger Zauber inne. Warum müsste man am Punkt Null beginnen, wenn es eine kontinuierliche Erfahrung gäbe, auf der man aufbauen könnte? Der Anfang aus Nichts macht jede Zunahme an Erkenntnis und Weisheit zunichte. Weisheit war die Ernte eines Lebens. Wer immer von vorne beginnen muss, muss sein bisheriges Leben als Fehlinvestition abschreiben.

Aus Nichts zum Anfang, der im nächsten Nichts versinken muss. Das ist der erfahrungs- und lernunfähige Rhythmus der kapitalistischen Moderne, die aus Nichts produziert und ihre Produkte im Nichts versenkt, um sich erneut die Illusion des Anfangs aus Nichts zu verschaffen. Jedes Nichts, in das ein Anfang versenkt werden muss, ist eine weitere Müllhalde auf der Welt, die von der Natur nicht mehr zurückgenommen wird.

Der Bauer, der einen neuen Anfang setzen muss: dessen Ställe und Scheuern sind abgebrannt. Die Früchte seiner Arbeit, die Ernte seines Lebens sind zerstört.

Wer immer von vorne beginnen muss, kann kein Vertrauen in seine bisherige Arbeit entwickeln. Sein Leben muss eine einzige Schuld, ein einziges Versagen sein, sodass er froh sein kann, die Last der Vergangenheit abzuschütteln. Welches Vertrauen zum Volk muss Merkel aufbringen, dass sie dessen kontinuierliche Arbeit nicht zu würdigen weiß, sondern zum nächsten Anfang aus Nichts aufruft?

Doch lobt sie nicht das Volk, das schon immer den Mut zu neuen Initiativen gehabt habe? Das Lob ist zweideutig. Zwar habe die Gesellschaft bewiesen, dass sie sich immer neu erfunden habe. Wer sich aber neu erfinden muss, kann auf altgewordene Errungenschaften nicht stolz sein. Das Alte muss er regelmäßig vernichten, um dem Neuen Platz zu schaffen. Ganz unabhängig davon, ob das Neue besser ist als das Alte.

Die neuerungssüchtige Gesellschaft muss wie ihr Heiland sagen: Siehe, ich mache alles neu, das Alte ist vergangen. Das Alte aber ist der Schatz erworbener Weisheiten. Merkel bevorzugt eine von Tag zu Tag, von Neuerung zu Neuerung hastende Augenblicksgesellschaft, hinter sich das Nichts zurücklassend, vor sich eine unendliche Reihe unverbundener Events, die wirtschaftliches Wachstum, aber geistigen Stillstand produzieren.

„Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Abschied nehmen heißt, Vergangenheit abschütteln, sein bisheriges Leben negieren, die Ernte der Erfahrungen für Nichts erachten.

„Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.“

Die Unfähigkeit zu trauern wird von Hesse, dem feinsinnigen Literaten, zur Tugend erklärt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Eine Suche nach der verlorenen Zeit wird es hier nicht geben. Denn die verflossene Zeit wird als Totalverlust aus den Akten gestrichen. Lass fahren dahin, der Pilger in John Bunyans Reise zur ewigen Seligkeit muss sich von allem Vertrauten und Liebgewonnenen losreißen und die Augen stur nach vorne richten. Das Bisherige ist eitel Sünd, Schuld und Tand.

„Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

Das ist des Pudels Kern: auf Erden gibt’s keine Heimat, die zukünftige suchen sie. Sich traulich einzurichten, wäre deutsche Gemütlichkeit als Schlaffheit zum Tun und Denken. Wäre Berechtigung zur Ruhe und Beschaulichkeit. Diesen Zielpunkt irdischen Treibens kann es auf Erden nicht geben.

Warum legt Merkel Wert auf kleine Anfänge? Müssten wir nicht groß denken, weil wir große Probleme haben? Müssten unsere Taten nicht der Größe unsrer Probleme angemessen sein? Müssten wir nicht umgekehrt Frau Merkel zurufen: Think big, Angie? Mit nationalem Kleinkram und Durchwursteln kommen wir nicht weiter?

Auch hier denkt die Pastorentochter schriftgemäß. „Wer im Kleinsten treu ist, der ist auch im Großen treu und wer im Kleinsten ungerecht, der ist auch im Großen ungerecht.“

Was ist klein, was groß? Im Neuen Testament gibt es nichts Kleines. Die harmloseste Regung eines menschlichen Bedürfnisses ist schlimmer als ein ausgeführter Ehebruch.

In der moralisch zwiegespaltenen Moderne ist die Analogie zwischen klein und groß vollends sinnlos geworden. Der Menschenschlächter ist privat ein herzensguter Mensch. Der private Biedermann schaut reglos zu, wie seine jüdischen Nachbarn zum Schafott geführt werden. War Willy Brandt ein guter Vater? Gleichwohl war er fähig, die Opfer der Nationalsozialisten auf den Knien um Vergebung zu bitten. War Hitler nicht rührend besorgt um jedes Mitglied seiner „Familie“?

Wer Vergangenheit verleugnet, negiert seine Lerngeschichte. Aus gewonnenen Erfahrungen kann er keine Zuversicht für künftige Erfahrungen schöpfen. Zusammenhanglos springt er von Augenblick zu Augenblick, von verleugneter Vergangenheit zu verleugneter Vergangenheit, von Anfang aus Nichts zum nächsten Anfang aus Nichts.

Merkel hat die Deutschen beschwichtigt, aber keine wahrnehmungsgesättigte Rückmeldung gegeben. Haltet euch an die Zehn Gebote, arbeitet und kehrt vor der eigenen Tür: alles andere ist für euch zu hoch.

Wäre sie „im Kleinen“ ehrlich gewesen, hätte sie ihre Ansprache auf den paulinischen Imperativ verkürzen können:

Seid untertan der Obrigkeit, denn es gibt keine außer von Gott. Auch ich, Angela Merkel, bin von Gottes Gnaden zu eurer Obrigkeit bestellt. Somit widersetzt sich der, der sich meiner Regierung widersetzt, dem Willen Gottes. Die aber widerstehen, werden von Gott gerichtet. Ein gesegnetes Neues Jahr wünsche ich all meinen Untertanen.

Was im Klartext heißt: Wachstum, Wachstum und noch mal Wachstum. Haben wir uns verstanden!?