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Humanismus

Hello, Freunde des Humanismus,

„Das Jahr 2014 war ein schwarzes Jahr für alle, die es wagten, für Menschenrechte einzutreten.“ So beginnt der Jahresbericht von ai.

Amnesty heißt Straferlass – für Humanisten, die im Knast sitzen, weil sie sich für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Lande einsetzten. Amnesty ist nicht Amnesie, kein Vergessen und Verdrängen von Untaten, die an Menschen täglich und überall begangen werden. Wer den Begriff Humanismus ablehnt, weil er wegen Dauerschändung unbrauchbar geworden sei, muss auch glauben, eine vergewaltigte Frau müsse an dem Verbrechen selbst schuldig sein, das man an ihr verübt hat. Hätte sie doch keinen aufreizenden Minirock getragen.

In allen Sprachen der Menschheit gibt es keinen wertvolleren Begriff als den des Humanismus. Nur eine humane Menschheit ist „zukunftsfest“ und hat die Chance zu überleben. Vorbei die Zeiten, als man kess sagen konnte: Menschlichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr. Menschlichkeit ist kein dekoratives Surplus, sondern eine Notwendigkeit des Seins.

Die Folgen bisheriger Verbrechen konnte die Menschheit regional einschränken und zeitlich minimieren. Trotz Störungen ging das Leben weiter. Verbrechen im globalen Dorf aber betreffen die ganze Gattung. Niemand wird davonkommen, wenn die planetarische Hütte brennt. Die unendlich scheinende Geduld der Natur hat ihre Grenzen erreicht.

Der gefolterte Mensch in Guantanamo peinigt den Menschenrechtler in Wladiwostok. Die Annexion der Krim legitimiert die IS zu immer neuen Verbrechen. Das wahllose Töten von Menschen mit ferngelenkten Drohnen stimuliert die marodierenden Boko-Haram-Horden in Nigeria. Europas militärische Attacken gegen Flüchtlinge animieren asiatische Länder, Flüchtlinge auf hoher See ebenfalls verhungern und

ertrinken zu lassen. Menschheitsverbrechen werden ausufernd nachgeahmt, das Gute und Nachahmenswerte kommt unter die Räder.

Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten: solange die Menschheit in der Nachkriegszeit sich im Guten bildete, verwies das Schlechte nur auf jene Reviere, die noch zu bearbeiten waren. Als das Humane einem globalen Paradigmenwechsel zum Opfer fiel, wurde das Schlechte zur Stimulans für immer schrecklichere Schandtaten. Das Schlimme erhielt eine eskalierende planetarische Echowirkung, das Gute wurde zur wertlosen Ramschware.

Moral hat keinen guten Klang mehr. Das Humane ist etwas, was die Gewaltigen der Erde überwinden wollen. Sie wollen den subjektiven Faktor überwinden und beinharten, objektiven Gesetzen folgen. Selbsterfundenen Gesetzen der Macht, die sie als Gesetze der Evolution ausgeben oder als Gesetze der Geschichte, die eine Heilsgeschichte sein soll. Heil für wenige Milliardäre, Unheil für Milliarden Menschen.

ai gehört zu den Urgesteinen einer weltumspannenden Politik, die die Menschheit zum Überleben in der Natur befähigen könnte. Viel zu wenig beachtet und gewürdigt, beobachtet die unermüdliche Organisation das ungute Treiben der Völker und Regierungen, um die Wunden zu nennen, die geheilt werden müssten, damit der Mensch des Anthropozäns sich nicht selbst entleibt. (Anthropozän = der Mensch macht Neues. Ein verhängnisvoller Irrtum. Der Mensch schafft nur unbedeutende Varianten des Natürlichen und Alten.)

Die Deutschen erwägen, den frei gewählten Suizid des Einzelnen zu verbieten. Das selbstbestimmte Ableben der Gattung scheint sie nicht zu interessieren. In kleinen Dingen pedantisch und übergenau, sind sie in großen von metaphysischem Leichtsinn und unfasslicher Fahrlässigkeit geprägt. Sie nennen es Glauben.

„Amnesty International begrüßt den Vorschlag für einen Verhaltenskodex für die Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates, freiwillig auf Einlegen eines Vetos zu verzichten, wenn dadurch der Sicherheitsrat in Situationen von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in seinem Handlungsvermögen blockiert würde. Etwa 40 Länder haben sich bereits für einen solchen Kodex ausgesprochen. Dies wäre ein wichtiger erster Schritt, der viele Menschenleben retten könnte“.

Der Gründergeist des UN-Völkerparlaments ist verflogen. Eine intakte Völkergemeinde kann es nur geben, wenn die Völker es wollen. Sie wollen es immer weniger. Warum sollen wir das Völkerrecht beachten, wenn es ohne Beachtung viel leichter ist, unsere Brutalo-Interessen durchzusetzen? fragen die Dreisten und Maßlosen unter den Nationen, die ihre Dreistigkeit mit Waffen, Technik und Geld an anderen Völkern auslassen.

Die bislang vorbildlichsten Völker – vor einem halben Jahrhundert die Besieger der deutschen Menschheitsverbrecher – wurden mittlereilen zu Bedrohungen der Menschheit.

Amerika – einst Perle unter den Völkern, wenn auch mit schrecklichen Geburtsfehlern – verhöhnt alle ökologischen Rettungsmaßnahmen der Völker, überwacht die ganze Welt, bestimmt die Spielregeln der Nationen, ändert sie nach Belieben, behält sich vor, die eigenen Regeln selbst zu missachten. Würde der Rest der Welt den amerikanischen Raubbau an der Natur sklavisch imitieren, benötigte die Menschheit vier bis sieben weitere Planeten, um sich nicht das eigene Grab zu schaufeln.

Europa, lange Zeit Vorbild friedlicher Kooperation ehemals verfeindeter Nachbarn, zerfällt in eine Horde aggressiver Konkurrenten, die sich immer mehr die Augen auskratzen. Sehr zum Gefallen der mächtigsten Staaten der Erde von Amerika über China bis nach Russland, die einen gefährlichen Rivalen weniger zu bekämpfen haben. Wenn Amerika die Rolle des kriegerischen Mars spielte, blieb Europa das Urmuster friedlicher Venus-Demokratien.

Vorbei. Europa verpanzert sich immer mehr mit Waffen und benutzt seine dominante Wirtschaft als Hauptaggressionsinstrument gegen alle, die sich dem alten Kontinent nicht unterordnen wollen.

Amerika und Europa haben sich einer Ökonomie verschrieben, die einen Keil treibt zwischen Reiche und Arme innerhalb der eigenen Gesellschaft und reiche und arme Völker überall auf der Welt. Es muss Gewinner und Verlierer geben. Die Zeit ist die Rennbahn eines unendlichen Rattenrennens aller Völker gegen alle. Das Ziel des Rennens ist die Weltherrschaft oder das Errichten eines paradiesischen Endreiches für die erwählten und eines unnennbaren Elends für die verworfenen Erdbewohner. Himmel und Hölle – einst im ominösen Jenseits angesiedelt – wurden zu irdischen Zielen einer selbsterfüllenden Weltpolitik.

ai will dem wachsenden Grauen begegnen, indem die Schuldigen der Menschenmassaker vor internationale Gerichte gestellt werden:

„Damit die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung ihre Wirkung entfalten können, muss dafür gesorgt werden, dass die für Verstöße Verantwortlichen auch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt werden.“

Haben idealistische Organisationen wie ai keine Chancen, die Menschheit aufzurütteln, weil alle Moral als Haschen nach Wind, als bloßes Predigen erlebt wird?

„Menschenrechtsorganisationen wird oftmals vorgeworfen, zu ehrgeizig und idealistisch zu sein. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir tatsächlich Außerordentliches erreichen können. Am 24. Dezember 2014 trat der internationale Waffenhandelsvertrag in Kraft, nachdem 50 Staaten ihn ratifiziert hatten.“

Das Wörtchen „idealistisch“ klingt, als müssten moralische Menschen ideal sein, um moralische Forderungen stellen zu dürfen. Das ist Unsinn. Vor der Moral sind wir alle kleine Sünderlein. Und dennoch gibt es Menschen, für die Humanität keine saure Pflicht, sondern tief liegendes Bedürfnis ist. Von keiner Religion oder Wirtschaft lassen sie sich vorschreiben, welchem Verhaltenskodex sie zu folgen haben.

Moral ist zeit- und raumunabhängig. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann Moralisches stattfinden. Niemand muss auf den Anruf der Geschichte warten oder erst die ehernen Gesetze der Evolution erkunden, um die Berechtigung zu moralischem Tun von Oben oder Außen zu erhalten.

Autonome Moral braucht keine Erfolgsgarantie selbsternannter Autoritäten, Popen, Geschichtsgelehrter und sonstiger selbsternannter Menschheitsführer. In moralischen Dingen ist jeder Mensch sein eigener Herr. Jeder muss auf der Agora seinen Kopf für seine politische Haltung hinhalten.

Stellvertretendes Denken und Entscheiden gibt es nur in Kirchen mit narzisstischen Richtern und Propheten. Der Kern aller religiösen Entmündigung ist das „Pro vobis“: stellvertretend für euch tat ich alles, was ich tat, um euch zu erlösen.

In einer mündigen Welt werden die Menschen solidarisch zusammenstehen, doch jeder wird freiwillig einbringen, wozu er fähig ist. Kein Mensch kann andere Menschen pro vobis, pro nobis ersetzen und entmündigen. Kein Gott ist kompetent, stellvertretend für die Menschheit zu sprechen und zu handeln.

Wenn das Pendel des homo sapiens wieder ins Inhumane zurückschwingt, müssten wir nicht alle pessimistisch werden und die Köpfe hängen lassen?

„Wir haben schon häufig erlebt, dass es auch und vielleicht gerade in Zeiten, in denen es schlecht um die Menschenrechte bestellt zu sein scheint, möglich ist, bemerkenswerte Veränderungen herbeizuführen. Daher dürfen wir trotz all der Rückschläge, die wir 2014 erlebt haben, nicht die Hoffnung verlieren. Unsere Aufgabe ist es, uns weiterhin mit aller Kraft für eine bessere Zukunft einzusetzen.“

Solange es keine sicheren Erkenntnisse über die Lebenschancen der Menschheit gibt, ist Resignieren unmoralisch. Jedes gezeugte Kind wäre zu einem Todeskandidaten verurteilt, wenn der Untergang der Menschheit fest stünde. Das Als Ob des Überlebenkönnens wird zur kategorischen Pflicht für jeden, der sich von einem Kind befragen lassen kann: was, Erwachsener, hast du getan, um meine zukünftigen Lebensaussichten zu erhalten?

Die meisten Regierungen dieser Welt – einschließlich unserer christlichen in Berlin – haben sich entschlossen, erneut zu Schlafwandlern der Unheilsgeschichte zu werden. Sie sehen nichts, sie hören nichts, sie entscheiden nichts.

Glaubt irgendjemand, die Heiligendarstellerin Angela werde öffentlich Stellung beziehen zum Jahresbericht der ai? Eher wird sie sich auf die Zunge beißen als läppische Moralfragen zu beantworten. Wer glaubt, Gott sitze im Regiment, der ist aller moralischen Dringlichkeit enthoben. Der darf auf die Große unsichtbare Hand Gottes warten. Mitten in den Stürmen und Sintfluten der Endzeit sitzen die Erwählten sicher im Schifflein der Gemeinde. Der Rest der Gottlosen mag zusehen, wo er im apokalyptischen Getümmel bleibt. Waren sie nicht oft genug gewarnt worden, der Herr der Geschichte sei eifersüchtig und lasse keine Strafandrohung anbrennen?

Gläubige sind immer moralisch, selbst wenn sie unmoralisch sind. Das ist die Lehre vom göttlichen Antinomismus (= gegen das Gesetz). Ursprünglich war Antionomismus die Lehre, Gebote des Alten Testaments würden für Christen nicht gelten. Die Loslösung von den biblischen Geboten erstreckte sich alsbald auf das Neue Testament. „Tu, was du willst. Im Endeffekt kann der Erwählte nichts Böses tun, weil er gottgleich wurde und Gott nicht fähig ist, zu sündigen.“

Zahlreiche Christliche Sekten des Mittelalters übernahmen den antinomistischen Weg der Erlösung und waren überzeugt, sie könnten eins werden mit dem Göttlichen, weshalb sie außerhalb der Gesetze standen, die für „normale Sterbliche“ galten. Hatte der Heilige Geist sie ergriffen, wurden sie unfähig, fleischliche Sünden zu begehen. „Liebe und tu, was du willst,“ lautete die antinomische Formel Augustins. Luther formulierte derber und deutscher: „Sündige tapfer, wenn du nur glaubst.“ Wer vom Geiste Gottes umfangen ist, dessen Handeln kann nicht mehr sündig sein.

Als in der Epoche der Romantik die Deutschen von den Menschenrechten der allgemeinen Vernunft abwichen, um aus den Tiefen der eigenen nationalen Erleuchtung ihre Sondermoral zu schöpfen, übersetzten sie nur die antinomische Moral der Theologen in chauvinistische Sondermoral. Ab jetzt konnten sie tun und lassen, was sie wollten: sie waren immer moralisch, selbst wenn sie Moral mit Füßen traten.

Himmlers Geheimrede in Posen vor SS-Schergen war der furchtbare Höhepunkt einer antinomischen Religion, die sich über alle „irdischen Vorstellungen“ der Moral erhoben und sich die Lizenz zum Bösen gegeben hatte, weil sie gar nicht böse sein konnte. Im Dritten Reich erhoben sich die Deutschen zu fleckenlosen, übermoralischen, nie sündigen könnenden Bewohnern des Endreiches Gottes.

Etwas ungeschützter hatte schon der Pietist Bismarck dekretiert, mit der Bergpredigt könne man keine Realpolitik machen. Also müsse man zu Blut und Eisen greifen. In der rechten Gesinnung zu Gott seien Blut und Eisen legitime Instrumente einer religiösen Politik.

Der spätere Sozialpolitiker Naumann, Theologe seines Zeichens, musste gestehen, dass christliche Gebote nötig seien für „unser privates Leben“, doch Politik und Wirtschaft könne man nicht nach christlichen Prinzipien treiben. Da müssten andere Gesichtspunkte erwogen werden. „Der Christ Naumann kapitulierte vor den Gewalten, die die Menschheit durchtobten.“ (zitiert nach Emil Fuchs, „Marxismus und Christentum“)

Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnte man in deutschen Kirchenpostillen lesen, dass „ab jetzt die Bergpredigt zu suspendieren sei“. Im selben Geiste erklärte Bibelkenner CDU-Schäuble, das Gebot: „Du sollst nicht töten“, gelte nicht für das sündige Revier der Politik.

Der Buchstabe der Schrift beurteilt nicht das Tun der Christen, die Christen beurteilen den Buchstaben der Schrift, ob er mit Erfordernissen der schnöden Politik vereinbar sei. Und wenn er nicht vereinbar ist, wird er mit Hilfe geistbegabter Deutung vereinbar gemacht.

Merkel steht in der Tradition Bismarcks, Naumanns und aller Antinomer des Abendlands. (Obgleich ihr großes Vorbild Luther die damalige Fraktion der Antinomer scharf angegriffen hatte mit seiner Schrift „Wider die Antinomer“.)

Merkel hält weder Neoliberalismus noch Sozialismus für moralisch. Der irdische Mensch ist für sie ein bankrotter Sündenkrüppel, der nur auf die Gnade des Herrn hoffen darf. Da alles miserabel ist auf Erden, ist es gleichgültig, welche miserable Variante man wählt. Zum sündigen Tun auf Erden gibt es keine Alternative. Die wahre Alternative wird der Herr am Ende aller Zeiten bringen. Bis dahin gilt: sündige tapfer und betreibe eine amoralische Politik – wenn du nur glaubst und alles dem Herrn im Himmel anheim stellst.

Das Liebesgebot verpflichtet nicht zu bestimmten Taten, sondern zur liebenden Gesinnung. Ist die Gesinnung gottesgemäß, kann der Gläubige die Sau rauslassen: alles wird vom Himmel abgesegnet. Wenn Merkel die Formel benutzt „nach bestem Wissen und Gewissen“, meint sie das christliche Gewissen, das sich jede Sünde gestatten darf, wenn es nur glaubt. Sündiget tapfer, Männer und Frauen der CDU – wenn ihr nur den rechten Glauben habt vor Gott. Die sündige Welt kann hier nicht mitreden. Die Ungläubigen zählen nicht im zentralen Altarraum der Berliner Antinomerpolitik.

Humanismus ist die Lehre von der humanen Moral. Das Wohl aller Menschen auf Erden ist der Endzweck der Humanität, die keine Kluft zwischen Erwählten und Verworfenen duldet. Das Gute gilt gleichberechtigt für alle humanen Wesen, weshalb die Demokratie der Gleichen und Freien die einzige Realisierungsstätte der humanen Moral sein kann.

Begonnen hatte diese Moral in Griechenland. Am frühesten in Schriften der ärztlichen Standesethik, die pauschal dem Hippokrates zugeschrieben wurden: „Wo Menschenliebe vorhanden ist, da ist auch Liebe zum Beruf vorhanden.“ Die berühmten Wanderlehrer (Sophisten) verbreiteten die Ethik des Humanen und übertrugen sie peu à peu auf weitere Bereiche der Polis.

In Athen wurden die ersten Bausteine der Frauenemanzipation gelegt. Schon im philosophischen Kreis des Pythagoras war die Frau dem Mann in vieler Hinsicht gleich gestellt worden. In der „Medea“ des Euripides, den Weiberkomödien des Aristophanes (Lysistrata) erhoben sich die Stimmen selbstbewusster Frauen, die sich der Dominanz der Männer widersetzten.

Sokrates bewunderte seine philosophische Lehrerin Diotima. Sein eigenes moralisches Motto – das von Jesus zum Tod am Kreuz mit triumphierender Auferstehung pervertiert wurde – lautete: besser Unrecht erleiden als Unrecht tun. Den Relativismus einiger Sophisten suchte Sokrates mit verlässlichen Grundlagen einer zeitunabhängigen moralischen Autonomie zu überwinden:

„Hinter der Wahrscheinlichkeit suchte er die Wahrheit, hinter der traditionellen Sitte die wahre Sittlichkeit, hinter den verschiedenen Rechtssystemen der Völker das allgemeine Recht.“ Hier wurden die Prinzipien des Menschen- und Völkerrechts formuliert, die später zu Fundamenten der modernen Demokratien werden sollten.

Als die unphilosophischen Römer die ethischen Prinzipien der Griechen übernahmen, nannten sie den Kern ihrer neuen Bildung „humanitas“.

In der Moderne wurden die Grundlinien der allgemein gültigen Humanität vom Marxismus wie vom Kapitalismus zermörsert. Beide Wirtschaftssysteme waren sich einig, dass nicht Moral, sondern Gesetze der Natur oder der Evolution die Welt beherrschten. Moral war für Marx nichts als sekundärer Überbau, scheinheilige Attrappe zur Tarnung amoralischer Interessen.

Als nach dem Zweiten Weltkrieg französische Marxisten den Unterschied erkannten zwischen dem frühen Marx, der noch leidlich aufgeklärt und humanistisch dachte – und dem späten „klassischen“ Marx, der keine Moral mehr gelten ließ, sondern nur noch eiserne Gesetze des Seins, propagierte der Marxist Althusser seine Ideologie des Antihumanismus. Der wahre Marx sei kein Humanist gewesen, sondern ein Entdecker objektiver amoralischer Natur-Gesetze.

Was Newton für die Natur, soll Marx für die Gesellschaft gewesen sein. Jeder Versuch, diese unverrückbaren Gesetze mit subjektiver Moral zu besiegen, sei eine vergebliche, ja lächerliche Angelegenheit. Es waren nicht nur Hayekianer, die erklärten, der Mensch sei zur moralischen Gestaltung seines Schicksals nicht fähig. Ost und West waren sich einig in der Ablehnung einer autonomen Humanität.

Moral ist out. Selbst in der Pädagogik der Gymnasien wird der „moralische Zeigefinger“ beim Lesen der Pflichtlektüre strikt vermieden. Moral wird noch immer als Tugendlehre mit dem klerikalen Prügel empfunden, nicht als freudiges Brückenbauen zu den Mitmenschen aus der Kraft humaner Selbstbestimmung.

„Gegen das moralisierende, das normierende Kinderbuch ist aus pädagogischen Gründen Einspruch zu erheben“, so bringt es der Literatur- und Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin auf den Punkt. Dies gilt im selben Maße für das Jugendbuch. „Die moralisierende Beispielgeschichte wird in ihrer Untauglichkeit nur noch durch die direkte Ermahnung übertroffen.“ (Forschung Frankfurt)

In feuilletonistischen Rezensionen kann man keinen Satz öfter lesen als den: Erfreulicherweise kommt das neue Buch ohne moralische Belehrung aus.

Will der Westen endgültig die humane Moral abschaffen, sollte er wissen, dass Faschismus und Totalitarismus nichts anderes waren als die extremsten Auswüchse einer amoralischen Ethik. Mit Hass auf sich selbst wird sich das Menschengeschlecht vernichten.