Kategorien
Tagesmail

Hollywood, die Kinderbibel

Hello, Freunde der Last-Minute-Helden,

in der letzten Minute kommt der Held. Zuerst aber muss die Katastrophe delikat angerichtet werden. Zutaten zur „Umwendung“ (= Katastrophe) entnehme man heiligen Büchern oder dem Heiligen Wald (= Holly-wood).

Was ein himmelhochragender Dom fürs Mittelalter, ist Hollywood für die Moderne: die Ästhetisierung des Heiligen.

Die kalifornische Traumfabrik ist eine bebilderte Kinderbibel für Erwachsene. Gibt es eine einzige Geschichte aus der biblia sacra, die nicht schon in allen Varianten über Zelluloid gehuscht wäre? Dabei muss man nicht mal an „Die Zehn Gebote“ mit Charlton Heston – dem späteren Fürsprecher der Waffenindustrie – denken.

(Charlton Moses hatte die Wunderwaffe jener Tage bei sich, um die Kinder Israels sicher durch die Wüste zu geleiten: einen gewissen Gott der Väter. Einen Gott der Mütter lehnen die USA bis zum heutigen Tag ab. Eleanor Roosevelt war ihnen zu selbständig und intellektuell. Marilyn Monroe musste früh als sündiges Luder sterben, weil sie den König der Demokraten zur Unzucht verführte – der selbst zu früh von der Rampe abtreten musste, um seinen Heldennimbus zu retten. Heroen verzehren keine Rente.

Amerika hat keine Mütterfiguren. Jacqueline Kennedy hätte als Heroenwitwe eine werden können. Allein sie verkaufte ihren kostbaren Leib einem griechischen Parvenü, dem sie sich einmal im Monat vertraglich hingeben musste. Das war zuviel für die mächtigen Frauenverbände Amerikas. Diese Selbstbefleckung puritanischer Reinheit

wird bis heute totgeschwiegen.)

Amerika denkt und fühlt biblisch bis auf die Knochen, wie sollte es andere Filme machen können als biblische? Für Amerikaner ist das kein Makel, sie leben aus einem Guss. Ihr Glaube vereint sie zur Nation, ihre siegreiche Kultur ist Zeichen ihres politischen Glaubens. Ein neues Kanaan, eine civil religion, ein Hollywood.

Europäer sind nicht aus einem Guss. Zwar freuen sie sich klammheimlich, wenn’s mit den Amis abwärts geht, dennoch können sie ihnen nicht Paroli bieten. Dazu sind sie zu schizophren. Einerseits stehen sie auf dem Boden des christlichen Credos, andererseits wollen sie mit dem ganzen Kram nichts zu tun haben und fühlen sich aufgeklärt bis unter die Haarspitzen.

Besonders die Deutschen sind die eifrigsten Befürworter des himmlischen Vaters, dennoch dürfen ihre Politik und Kultur nicht die geringsten biblischen Kontaminierungen aufweisen. Schlechte und gefährliche Kontaminierungen ohnehin nicht, die gibt’s nicht in Bethlehems Stall, und die guten sind Wirkungen von Oben.

Deutschland ist eine einzige Wirkung ohne Ursache, was verdächtig nach Wunder riecht. Jeden Tag erfinden sie sich neu, was nichts anderes ist als Erfindung aus dem Nichts und in das Nichts.

Die Reduktion der Zeiten auf Zukunft ist eine amerikanisch-biblische Erfindung. Man kommt besser durch die Zeit, wenn man nicht zu viele Zeiten auf dem Buckel trägt. Man könnte von einer temporalen Rationalisierung sprechen. Werft ab den Ballast. Schaut nicht zurück, gedenket nicht des Vergangenen. Wollt ihr zur Salzsäule erstarren wie Lots Frau?

Moderne Menschen brauchen keine Vergangenheit, die Gegenwart ist ohnehin nicht zu fassen. Kaum nagelt man sie fest, schon ist sie einem durch die Finger geronnen. Bleibt die ominöse Zukunft, die man nie verlieren kann. Was es nicht gibt, kann man nicht verlieren. An Zukunft muss man glauben. Und glauben ist die Lieblingsbeschäftigung der Gläubigen. Lebst du noch oder glaubst du schon? das ist der Sinn der saloppen Frage: How are you.

Moderne Menschen futurieren nur, sie präterieren nicht und sind so gut wie nie präsent. Denn sie sind ständig unterwegs ins Nirgendwo, weshalb Futuristen wie Matthias Horx gefragte Propheten der deutschen Zukunft sind. Du kannst ne Masse Geld verdienen, wenn du ohne zu erröten die Frage beantworten kannst: Prophete Horch und Guck, was kommt auf uns zu?

Die Zukunft denkt gar nicht daran, auf uns zuzukommen. Dazu ist sie zu kapriziös. Wie jede Schöne entzieht sie sich, wenn Volltrottel hinter ihr her laufen. Bleibt nur, zu tun, als hätten wir nicht das geringste Interesse an ihr, ja, als schauten wir gelangweilt in die Vergangenheit – und schon spürst du, wie ein erregender Zukunftshauch dich umweht und dich seines Weges führt.

Denn wisset, liebe Brüder und Schwestern, Zeiten sind wie die Dreieinigkeit. Eine Zeit kriegst du so wenig wie du allein den Heiligen Geist abonnieren kannst. Alle drei – oder niemanden. Die Einigkeit der Zeiten aber ist die Gegenwart. Und in der Gegenwart wollen wir doch leben? Oder?

Nun steht doch nicht so begriffsstutzig und maulfaul in der Gegend rum und sagt was! Wollen wir leben, ja oder nein? Wollen wir mit Lust und Freuden leben? Dann auf in die Gegenwart. Die Alten, die noch leben konnten, sprachen vom Hier und Jetzt. Inzwischen haben wir die Alten derart überwunden, dass wir vom Leben keine Ahnung mehr haben. Wie auch? Wir glotzen nur scheeläugig in die Zukunft. In Zukunft aber sind wir alle tot.

Das Hier und Jetzt hat weder Angst vor dem, was war, noch vor dem, was sein wird. Nur wenn es Angst hat, verschwindet es aus der Gegenwart und flüchtet in die Zukunft, die es nicht gibt. Deutsche Gelehrte tun, als könnten sie in die Vergangenheit flüchten. Doch sie tun nur so. Denn Vergangenheit, sagen sie, hat uns nichts mehr zu sagen. Damit haben sie das Gewesene totgeschlagen.

Die Welt wird erst zu sich kommen, wenn sie in der Gegenwart angekommen sein wird. Das Vergangene müssen wir verstanden haben, dann kann es sich in Zukunft nicht mehr wiederholen. Dann erst betreten wir das Hier und Jetzt. Das Hier und Jetzt ist, wo wir keine Angst mehr haben. Weder vor dem Gewesenen noch vor dem Zukünftigen.

Was sollte denn auf uns zukommen? Nichts kann auf uns zukommen – außer wir uns selbst. Betrachten wir uns im Spiegel der Vergangenheit: das sind wir. Wenn wir uns nicht mehr ändern, werden wir uns in Zukunft begegnen, wie wir in der Vergangenheit gewesen sind. Das nennen einige Wiederkehr des Verdrängten.

Jene, die am meisten in die Zukunft schauen, werden sie am wenigsten erleben, denn ihre Vergangenheit lässt sie nicht aus den Fängen. Nichts kommt auf uns zu, außer wir uns selbst. Haben wir Angst vor uns, dann wird’s angsterregend in der Zukunft. Haben wir aber das Vergangene aufgeräumt, wird uns nichts daran hindern, im freudigen Hier und Jetzt zu leben.

Was kommt auf uns zu? Okay, auch die Natur. Wenn morgen ein Riesenmeteorit in der Tundra einschlägt, geht’s uns wie den Dinos: fini la guerre. Wenn aber nicht, kann uns niemand am vergnüglichen und schönen Leben hindern – außer wir uns selbst.

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“

Als er noch jung war, klang‘s bei Marx gelegentlich nach Autonomie. Je älter er wurde, je mehr wurde der Mensch der Heilsgeschichte untergeordnet. An der Geschichte konnte er nur noch herumpfuschen, ein wenig verzögern oder beschleunigen. Marx hatte die gesamte Aufklärung dem „Sein“ geopfert.

Vorsicht also, wenn Sie dem Sein begegnen. Mit dem ist nicht zu spaßen. Das will immer alles bestimmen, selbst Ihr Bewusstsein. Und Ihr Bewusstsein ist doch Ihr ICH. Wie können sie Ihr Ich von jedem hergelaufenen Sein bestimmen lassen? Haben Sie noch alle Tassen im Schrank? (Pardon, die letzte Frage nehme ich zurück, das ist eine offizielle Beleidigung, besonders gegenüber Polizisten.)

Wird die Geschichte vom Menschen gemacht, kann er sich seine Geschichte nicht aussuchen – er kann auch nicht bestimmen, wo das Schicksal ihn als Kind abwirft –, aber seine Geschichte als menschengemachte kann er versuchen zu verstehen. Wer Geschichte verstanden hat, der allein kann von vorne beginnen. Verstehen verhindert die Wiederkehr des Verdrängten.

Was hindert uns, zu verstehen, was unsere Vorväter und Vormütter uns ins Nest gelegt haben? Auch sie waren keine Teufel – jedenfalls nicht immer – und also können wir sie verstehen. Der Mensch sollte in der Lage sein, seinesgleichen zu verstehen. Wenn wir uns nicht mehr verstehen, behandeln wir uns wie Monstren, Maschinen oder Götter. Diese verstehen wir mit Bestimmtheit nicht.

(Die Turnschuhgenies von Silicon Valley immer ausgeschlossen. Die behaupten ernsthaft, nicht nur ihre Maschinen zu verstehen, sondern von ihnen auch verstanden zu werden. Wir warten sehnlichst auf das erste Buch aus der Feder einer Gehirnmaschine mit dem Titel: „Wie ich in sechs Tagen den Menschen aus Nichts erschuf“. Untertitel: „Er soll sich kein Bildnis noch Gleichnis von Mir machen, sonst mach ich ihn zu Schrott“.

Verehrte Maschine, dieses Buch gibt’s doch schon. Du musst es nur einscannen und kopieren. Lass dich beim Abkupfern nicht erwischen. Im Zweifelsfall kannst du dich rausreden, du hättest nur eine neue Übersetzung gemacht.

Die Amerikaner lieben den Buchstaben, die Deutschen den Geist, mit dem sie den Buchstaben zur Minna machen. Das nennen sie Deutung. Hätte Orwell etwas von deutscher Deutungskunst verstanden, dann hätte er kein Wahrheitsministerium erfinden müssen. Es hätte genügt, vom Ministerium für Hermeneutik zu sprechen. Die Zensoren schwindeln alle 10 Jahre ihre heiligen Bücher um und ersparen sich die mühsame Arbeit, den alten Text zu löschen und mit einem neuen zu ersetzen.

Natürlich lügen sie nicht, das würden sie niemals tun. Denn lügen ist ihnen verboten. Sie deuten. Und schon machen sie aus ihrem Buch ein Wünschelrutenbuch. Da kannst du raus- und reindeuten, wie du gerade lustig bist. Ihr heiliges Buch ist wie der Kaufhof. Da gibt es nichts, was es nicht gibt. Du kannst dir aussuchen, was du willst, überall steht der Stempel drauf: unverfälschtes Wort Gottes.

Die Deutschen bringen das Kunststück fertig – was Amerikaner nicht können, weshalb jene zurecht als Volk der Dichter und Denker gelten –, dass sie sich völlig dem Buchstaben unterordnen und ihn gleichzeitig in ein beliebiges Feuerwerk verwandeln können. Absoluten Gehorsam vereinigen sie problemlos mit absoluter Freiheit. In dieser Disziplin („Freiheit in Bindung“, wie jener Dekan zu formulieren wusste) sind die Deutschen Weltspitze.  

Wenn der Mensch seine Geschichte gemacht hat, kann er seine Geschichte auch beeinflussen. Denn die Geschichte ist nichts anderes als – er selbst. Kann er sich nicht ändern, weil er sich nicht versteht, kann er auch seine Geschichte nicht verändern. Der moderne Mensch steht seiner Geschichte gegenüber wie ein Kind dem Weihnachtsmann. Natürlich weiß es, wer hinter der Maske steckt. Dennoch muss es tun, als sei es das größte Geheimnis.

Welche Zukunft erwartet uns? Nicht das Neue und Unvorhergesehene, sondern das Alte und Althergebrachte – wenn auch in ständiger Neukostümierung. Die Neuerungssüchtigen fallen auf jeden alten Scheiss herein, wenn er sich nur aufgeputzt hat. Der Mensch der Vergangenheit hat Verbrechen begangen, aber aus Fehlern gelernt. Es gibt keinen Grund zu sagen: der Mensch bleibt die Bestie, die er immer war. Nein, er war nicht immer Bestie. Er hat bewiesen, dass er sich peu à peu aus seinem eigenen Sumpf ziehen kann.

Der einzig konsequente autonome Mensch ist Münchhausen. Er wartet auf keinen Gott und keinen Teufel und macht seinen Kram alleine. Der Baron von Münchhausen muss der Heros autonomer Menschen werden. Die Zukunft des Menschen ist der Mensch.

(Dass Popperschüler Albert eine logische Unmöglichkeit nach Münchhausen benannte, beweist, dass er den mündigen Menschen nicht wirklich verstand. Es muss ja einen Grund geben, warum er von Popper zu Hayek wechselte, dessen Gott die Evolution ist, dem sich der Mensch unterordnen muss.)

Wenn der Mensch nichts aus seiner Vergangenheit lernt, liegt seine Zukunft fest. Alle Überraschungen und Neuigkeiten kann er sich aus dem Kopf schlagen. Seine Zukunft wird seine Vergangenheit sein. Auch wenn die Vergangenheit mit neuen Maschinen und Tandarei aufgemotzt sein wird: es gibt nichts Neues unter der Sonne. Und wenn doch, nur als illuminierte Fata morgana.

Was schneller, höher, mächtiger ist, ist nicht neu, sondern nur eine andere Quantität des Immergleichen, dem man vergeblich entkommen will. Nur neue Qualitäten wären wahre Neuigkeiten. Moderner Fortschritt ist nichts als hektischeres Planschen in alten Abwässern. Wär‘s anders, gäb‘s keine ökologische Katastrophen.

Das Neue wird von der Natur als Müll entlarvt, der den uralten Naturgesetzen nicht entkommt. Die sauren Meere, die Klimaveränderungen enttarnen den Neuigkeitsschwindel als – Schwindel durch Neuigkeiten. Das Alte ist vergangen, siehe, ich mache alles neu: so klingt der Gesang der Scharlatane und heiliger Rattenfänger.

Die Dominanz einer trügerischer Zukunft ist die Eigenschaft der linearen Heilsgeschichte, die die zyklische Zeit der Griechen und aller Naturreligionen vernichtet hat. Im Zyklus wiederholt sich die zuverlässige Regelmäßigkeit der Natur. Kein übernatürlicher Gott, der dieser Regelmäßigkeit die Gräten bräche. Kein Schöpfer, der die Natur als Wegwerffolie seiner autistischen Heilsgeschichte missbrauchte. Kein omnipotenter Mann, der Mutter Natur zur Magd seiner herrischen Bedürfnisse erniedrigte.

Womit wir wieder zwanglos bei Hollywood angekommen wären. Kein Hollywood ohne lineare Heilsgeschichte. Regisseure wollen Geschichten erzählen und niemand erzählt bessere Geschichten als die Heilsgeschichte. Was wären unsere Spezialisten für scheiternde Helden und komplexe Unlösbarkeiten, ohne das Buch der Bücher?

„So schreitet in dem engen Bretterhaus,

Den ganzen Kreis der Schöpfung aus,

Und wandelt mit bedächtger Schnelle

Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ Goethe, Faust.

Dass Jesus, der Held Gottes am Ende nicht scheitern musste und sein Happy End durch Auferstehung feiern durfte, wird von den meisten Schriftstellern unter den Teppich gekehrt. Wie Adorno nur die „negative Dialektik“ herausstellte, um die positive zu provozieren, so betonen glaubensschwache Weltbeschreiber stets das Negative, um in Demut das letzte Wort den Erlösungsmächten zu reservieren. Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben. Wir müssen scheitern, damit Du uns retten kannst. Das ist die Essenz der modernen Literatur auf christlichem Boden.

Gerade erlebten wir die wievielte Wiederholung der ultimativen Katastrophe? Die lineare Geschichte droht, ans Ende zu gelangen. Doch niemand weiß genau, wann das Ende kommen wird. Aus vorbeugender Selbstberuhigung wird Weltuntergang gespielt, um der Apokalypse den Stachel zu nehmen. Wenn ich die Katastrophe freiwillig vorwegnehme, kann ich das Unheil vielleicht noch wenden.

Nicht zum letzten Mal wurde die Apokalypse in Gottes eigenem Land inszeniert. Oberammergau ist ein gemütlicher Bauernstadl gegen die johanneische Brillanz und den alles riskierenden Untergangsfuror der Neocalvinisten. Wenn die Welt in Angst und Schrecken unterzugehen droht, kommt immer der Eine, der sich aufrafft, die Menschheit zu retten. Zumindest aber seinen kleinen Sohn und seine auserwählte Familie.

So war es auch heuer. Der Eine kam und siegte über die böse Rotte der Feinde. Einmal heißt er Will Smith und jagt mit einer Atomrakete die Außerirdischen zum Teufel. Ein andermal John Cusack, der seine Familie auf der Schulter durch die schlimmsten Erdbeben trägt. Verglichen mit der raffinierten Ästhetik der Hollywood-Bilder muss Washington noch einiges zulegen, um die Menschheit in seinen Bann zu schlagen.

Doch wie immer die Einzelnen heißen, es ist immer derselbe eine Held, der die Welt rettet. Es ist das unschuldige Lamm Gottes. „Und das Lamm des Herrn wird sie besiegen, denn es ist der Herr der Herren und der König der Könige.“

Gestern trug das Lamm Gottes den Namen des amerikanischen Präsidenten.