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Hilfslose Deutsche

Hello, ihr hilflosen Deutschen,

ihr könnt nichts dafür. Ihr seid hilflos. Ihr seid ohnmächtig. Die Probleme dieser Welt sind unlösbar. Sie sind teuflisch komplex. Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Niemand blickt durch. Alles beschleunigt sich. Nichts steht fest. Alles schwimmt. Was gestern Bestand hatte – wohin ist es? Was gestern galt – ist alt geworden. Alles ist unübersichtlich.

Wer kann noch sagen, was gut, wer, was böse ist? Die Rezepte von gestern – dahin. Die Dinge ändern sich in rasendem Tempo. Die Zukunft kennt niemand, die Vergangenheit ist perdu, die Gegenwart narrt uns. Wir haben keinen festen Boden unter den Füßen.

Alles überstürzt sich, niemand weiß, wo die höllische Fahrt enden wird. In Nahost kämpft Gott persönlich gegen den Widersacher. Das sind sie: die Zeichen der Apokalypse. Da galoppieren sie: die Boten des Endes mit dem feurigen Schwert im Maul. Zieht euch warm an, es kann nur schlimmer werden.

Wer blickt noch durch? Die wahren Opfer – das seid ihr. Habt Mitleid mit euch! Ihr könnt nichts dafür. Ihr seid überfordert und ausgebrannt. Sagen wir‘s grad hinaus: Euch gibt es gar nicht.

Überlest das Folgende, ihr ertragt es nicht. Nein, für das Grauen könnt ihr nichts. Man muss auch hart sein können. Kann doch niemand die Welt erretten, ihr Deutschen schon lange nicht. Einmal habt ihr es versucht – und nie wieder. Einmal wart ihr die Erlöser – und die Welt hat‘s knapp überlebt. Schaut weg, hab ich gesagt. Ein zweites Mal

sag ich es nicht:

„Babys, die ihre Mütter aus leeren Augen anstarren, Kinder mit amputierten Gliedmaßen, mit zertrümmerten Schädeln – diese Bilder des Grauens sieht Marad Humaid in der Kinderabteilung des Schifa-Hospitals in Gaza. Die 23-jährige Palästinenserin nutzte die Feuerpause am Wochenende, um sich selbst ein Bild über die Zerstörung zu machen: „Dort lag ein zweijähriges Mädchen mit offenen Augen, obwohl es nicht mehr sehen kann“, berichtet sie am Telefon. Ein anderes Mädchen habe ein blau entstelltes Gesicht gehabt. „Die Mutter sagte, dass sie durch eine Explosion an die Zimmerdecke geschleudert wurde und dann direkt auf ihr Gesicht gefallen ist.“ Dabei seien der Nasen- und die Wangenknochen gebrochen.“  (Susanne Knaul in der TAZ)

Ihr Deutschen, habt ihr mal Linke gehabt, die gegen Unrecht und Ungerechtigkeit kämpfen wollten?

Pardon für die Frage, die hätte ja mit Moral zu tun. Moral, diesen Bogen habt ihr raus, ist die Erfindung des Tausendkünstigen. Auf sowas fallt ihr nicht mehr rein. Moral – das wäre ja was Einfältiges. Seht ihr etwa einfältig aus, als seid ihr von gestern? Nein, ihr spielt wieder ganz vorne mit. Ihr steht auf allen Siegestreppchen der Welt.

Gibt es irgendetwas, wo ihr eure unschuldigen Pfoten nicht drin habt? Ihr bringt das Kunststück fertig, überall mitzumischen – und doch nirgendwo dabei zu sein. Ihr habt die Gabe, euch unsichtbar zu machen. Ihr gebt euch griesgrämig und demütig – und schon seid ihr in allem aus dem Schneider. Eben drum seid ihr die beliebtesten Zeitgenossen dieser Welt.

Alle Welt bewundert euch, weil nichts, aber auch gar nichts, bei euch schief geht. Ihr seid eine einzige, perfekt schnurrende Maschine. Maschinen können nicht irren, Silicon Valley sollte euch in Stein hauen.

Was sag ich? Da ist ja ein Linker. Der will sogar die Welt retten:

„Wie aber steht es mit Israel? Frei heraus: Es ist das Land, dem mein Herz gehört, diese im Nahen Osten einzige Demokratie (fehlerhaft wie jede mit „normalen“, also korrupten, verschlagenen, verlogenen Politikern wie die der USA oder Englands). Ach, hieße ich doch Bill Gates: Ich würde dieses winzige, ständig in seiner Existenz bedrohte Land mit Geld überschütten, auf dass es sich die beste Armee, die besten Waffen der Welt leisten könnte.“  (Fritz J. Raddatz in der WELT)

Raddatz war einmal ein nicht unbedeutender linksliberaler Literaturkritiker. Heute schwelgt er in militaristischen und mammonistischen Allmachtsträumen, um den atomaren israelischen Goliath vor palästinensischen Babys zu schützen, die das Land mit dem Untergang bedrohen.

Der einstige Antifaschist verbündet sich heute mit Faschisten, die seine unterdrückten Phantasien für ihn ausagieren. Wenn er einmal reich wär, widiwidiwidibum, würde er zum Heiland Israels werden, dem biblischen Land die schönsten atomaren Gnadengaben bringen und – wenn Not am Manne wäre – selbst das rote Knöpfchen drücken. Diese armseligen, in den Tod verliebten Heiden und Nomaden wird man doch zur Raison bringen! Entweder alle nach Jordanien, Katar oder sonstwohin – oder von der Tenne fegen.

Wer in den Tod verliebt ist, der soll ihn haben. So Broder über die Palästinenser, die er für ein Märtyrer-Volk hält. Sie wollen es doch selbst, also macht sie zu Märtyrern. Gebt ihnen den Tod, den sie sich wünschen. Das wäre nächstenliebende Volkstötung auf Verlangen.

Die deutsch-jüdische Symbiose ist zur deutsch-jüdischen Verbrecherkumpanei geworden, in der die Täter mit Hilfe ihrer militant gewordenen Opfer ihre noch immer vorhandenen faschistischen Gewaltträume realisieren und die Opfer mit Hilfe ihrer moralisch entmündigten Täter ihre totalitären Bibelträume verwirklichen.

Die Symbiose muss tief und innig gewesen sein. Sie können voneinander nicht lassen. Indem sie sich hassen, nützen sie sich. Indem sie sich lieben, schädigen sie Andere und Dritte. Früher waren sie unverträgliche Feinde, heute stehen sie Hand in Hand auf dem Siegertreppchen. Die einen verkündigen die Auserwähltenmoral, die andern kuschen und sind klammheimlich einverstanden.

Diese Sondermoral für Sieger der Geschichte – kommt die den Tätern nicht bekannt vor? Einerseits haben sie dazugelernt und offiziell die universelle Moral angenommen, andererseits aber fühlen sie noch immer auserwählt für göttliche Gesetzlosigkeit. Gebote sind für andere da, Erwählte stehen über allen Gesetzen. Nur, wer über die Ausnahmen bestimmt, der ist souverän.

Opfer und Täter: sie bürgen füreinander. Die Opfer bestätigen den Tätern, dass sie dazu gelernt haben. Die Täter bestätigen den Opfern, dass sie immer Recht haben – selbst, wenn sie Unrecht haben. Die Täter rehabilitieren sich, indem sie den Opfern großzügig gestatten, schuldig zu werden – ohne ihre Unschuld zu verlieren. Die Opfer waschen sich rein, indem sie auf das Zeugnis der rehabilitierten Täter verweisen. Die Täter haben ihren christlichen Glauben wiedergefunden – mit dessen Hilfe sie einst die Opfer zu Opfern gemacht haben – und lieben ihre besten Freunde wie sich selbst:

„Die Liebe deckt alle Fehler zu. Die Liebe deckt eine Menge von Sünden zu. Die Liebe ist langmütig, sie ist gütig. Sie rechnet das Böse nicht an. Sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

So liebt das christliche Berlin das böse Jerusalem: es rechnet das Böse nicht an. Berlin erträgt alles, glaubt alles, was Netanjahu sagt, hofft alles, dass trotz Zerstörung und Vernichtung die Opfer der Opfer ihre sekundären Täter ins Herz schließen. Berlin duldet alles und wenn dabei ein ganzes unschuldiges Volk drauf geht.

So werden die Opfer der Opfer zu sekundären Opfern der Täter, die mit den primären Opfern eine innige Gemeinschaft geschlossen haben. Opfer und Täter haben aus den Verbrechen der Täter gelernt: keine Chancen mehr für Palästinenser.

Wer soviel aus der Geschichte gelernt hat – zumal er aus der Geschichte gar nichts lernen kann – der hat für alle Zeiten ausgelernt. Opfer und Täter sind unfehlbar geworden. Die primären Täter können nie irren, wenn sie die Untaten der sekundären Täter als recht- und verhältnismäßig deklarieren. Wer seine Freunde in bedingungsloser Liebe liebt, der kann nicht irren. Primäre Opfer und sekundäre Täter können nie irren, denn nie irren könnende primäre Täter erklären sie vor aller Welt für nicht irren könnend.

Kein Papst könnte unfehlbarer sein als unfehlbare Täter und Opfer, die die universelle Moral demokratischer Nationen nach Belieben aushebeln und grenzenlose Antinomie für sich fordern.

Wie Gershom Scholem in seiner eindrucksvollen Biografie über den jüdischen Scheinmessias Sabbatai Zwi schrieb, sind Juden- und Christentum in der Frage göttlicher Gesetzlosigkeit völlig einig. Erwählte Völker stehen über allen ordinären Dekalogen. Was sie tun, ist rechtens, weil sie es tun: die Erwählten. Erwählte können nicht irren.

Die deutsch-jüdische Sym- und Antibiose ist, nach etlichen kleineren Wirrungen und Verwirrungen, am Ende der Geschichte angelangt. Deutsche und Juden können, was immer sie tun, kein Unrecht mehr tun. Sie können nicht mehr irren. Gelobt sei der Herr der Heerscharen.

Da schau, wir haben noch einen Linken, der in seinem Zweifel für den SPIEGEL schreibt. Er hat keine messianischen Allmachtsphantasien, er hat nur messianische Demuts- und Ohnmachtsphantasien.

„Das Drama um die mögliche Entführung dieser drei Jungen und was die israelische Regierung daraus macht, ist ein neuerliches Zeichen: Es ist Zeit zum Rückzug. Wer Israel und Palästina helfen will, sollte sich abwenden“.

Aus der ecclesia militans des Herrn Raddatz wird eine ecclesia patiens bei Herrn Augstein. Einmal hat er Israel kritisiert – und nie mehr wieder. Man schmähte ihn als Antisemiten – und schon schwieg der, der den Anspruch erhebt, Rudolf Augsteins Erbe weiterzutragen. So tapfer und heldenhaft sind deutsche Galan-Linke. Da ihn seine Niederlage wurmt, versucht er sie in einen ideologischen Sieg zu verwandeln.

In einem Kommentar zu Putin streicht er gleich die ganze Kategorie Schuld. Im Falle des abgeschossenen malaysischen Flugzeugs nach einem Schuldigen zu fahnden, führe ins Nichts: „Es ist für die Angehörigen der Opfer unmöglich zu akzeptieren und für uns andere schwierig: Die Frage nach der Schuld ist sinnlos.“

Schuld ist eine religiöse und eine säkulare Kategorie. Die religiöse überlassen wir den Frommen, die säkulare nennen wir Ursache.

Ohne penible Ursachenforschung sinnvolle Meinungsbildung? Wie kann man eine bessere Politik entwerfen, wenn man nicht weiß, welche Fehler man unterlassen muss? Wie kann man die Wiederholung schrecklicher Ereignisse vermeiden, wenn man nicht weiß, was geschehen ist?

Sollen internationale Gerichte auf Ursachenforschung verzichten? Wer kann, wer muss Verantwortung übernehmen, wenn unbekannt ist, wer die böse Tat verübt hat? Wie kann man sich ein Urteil bilden über Putin und die ukrainische Krise, wenn man im Nebel steht?

Nicht nur die Frage nach der Schuld sei sinnlos. Alle Fragen, die mit gut und böse zusammenhingen, müssten ersatzlos gestrichen werden:

„Es wird Zeit, dass wir uns der unangenehmen Wahrheit stellen: Eine multipolare Welt bringt auch eine multipolare Moral mit sich. Wir sind keine neutralen Beobachter, die einem spannenden Experiment beiwohnen, bei dem es um die Beurteilung von Gut und Böse geht. Wir stecken bis über beide Ohren mit drin. Auch in der Ukraine.“ (Jakob Augstein in SPIEGEL Online)

Schon immer lebten wir in einer multipolaren Welt mit einer multipolaren Moral. Was ist da Neues dran? Moralische Beobachter sind keine Neutralisten. Sie stimmen zu oder üben Kritik.

Dass es verschiedene Moralen in der Welt gibt, scheint eine schreckliche Entdeckung von Augstein junior zu sein. Seit Adams Fall haben Menschen verschiedene Moralen. Gerade, weil man eine bestimmte Moral für falsch hält, entwickelt man eine eigene, um die falsche zu kritisieren und vielleicht sogar dazu beizutragen, die richtige Moral in der Welt zu verbreiten.

Das Ziel einer richtigen Moral wäre etwa eine Politik, mit deren Hilfe die Völker dieser Welt friedlich zusammenwachsen könnten. Diese humanistische Moral müsste alle inhumane Militanz bekämpfen. Von Neutralität kann keine Rede sein.

Nun wissen wir, warum Augstein sich aus dem Nahostkonflikt heraushält. Er will keine Stellung beziehen. Er will keinem Netanjahu ins Gesicht sagen, dass er einen faschistischen Okkupationskrieg führt. Er will keiner Merkel ins Gesicht sagen, dass sie blind und feige einen faschistischen Okkupationskrieg unterstützt und sich in gleichem Maße schuldig macht.

Ein deutscher Linker schafft die Schuld ab. Seine neue schöne Welt ist schuldlos und rein. Was will er verändern, wenn alle bösen Ursachen getilgt sind? Dann ist die Welt gerecht und mit sich im Reinen. Ein linker Protest gegen Ungerechtigkeit wäre überflüssig. Alles wäre im grünen Bereich.

Der im Zweifel linke Kritiker hat links und rechts hinterrücks abgeschafft. Sein Linkssein ist ein Dandybegriff. Wie schön muss es auf Prinzenebene sein, die Mächtigen des Hofes zu brüskieren, indem man tut, als gäbe man dem Pöbel recht.

Die deutsche Salonlinke steht vor ihrem moralischen Konkurs. Sie will nicht länger in geduldiger Arbeit und moralischer Vorbildlichkeit die Welt verbessern. Sie schwelgt in militanten Allmachts- und demütigen Ohnmachtsphantasien, die – nach der Logik des Heilands – identisch sind.

Mit links hat der SPIEGEL nichts mehr zu tun, er steht im Lager der Gegenaufklärung. An dem deutsch-jüdischen Problem will er sich seine Finger nicht schmutzig machen. Er steht jenseits von Gut und Böse.

Uri Avnery ist ein Fels in der Brandung. Wie muss dem 86-Jährigen das Herz bluten, wenn er zusehen muss, wie der religiöse Giftfaktor seine zionistische Utopie in Trümmer legt. Und doch wird er nicht müde, zu sagen, was er zu sagen hat. Gibt es solche moralisch unbeugsamen Männer in Deutschland?

Aufrechte Juden sind in Deutschland unerwünscht und werden tot geschwiegen. Nur Netanjahus Kriegsvasallen werden in allen Medien hofiert. Ein echter Jude muss an seinem unversöhnlichen Hass, an seiner nie zu sättigenden Machtgier und seiner Herrenmenschenqualität erkennbar sein, dass der deutsche Antisemitismus sein beliebtes Futter erhält.

Avnerys Analyse des kriegerischen Konflikts ist messerscharf. Wie verhöhnt er die so genannten westlichen Vermittler. Sein Blick sieht beide Seiten und denkt nicht daran, seine Empathie mit den Verlierern aufzugeben. Und dennoch hält er die so genannte Symmetrie des Konflikts für lächerlich:

„Wenn man in einem Krieg über beide Seiten spricht, kann man kaum den Eindruck der Symmetrie vermeiden. Aber dieser Krieg ist von Symmetrie weit entfernt. Israel hat eine der größten und wirksamsten Militärmaschinerien der Welt. Hamas und seine lokalen Verbündeten kommen auf etwa ein paar Tausend Kämpfer. Wenn überhaupt. Am besten kann man es mit der mythologischen Geschichte von David und Goliath vergleichen. Aber diesmal sind wir Goliath, und sie sind David.“

Der Hass vieler Israelis auf die Palästinenser sei gewachsen. „Israels Demokratie hat einen harten Schlag bekommen. Neo-faschistische Gruppen, einmal am Rande, sind nun vom Mainstream akzeptiert worden. Einige Kabinettminister und Knesset-Mitglieder sind vollständige Faschisten geworden. Sie werden jetzt von fast allen Weltführern anerkannt und wiederholen wie ein Papagei Netanyahus abgedroschene Propagandaslogans. Aber Millionen in aller Welt haben Tag für Tag die schrecklichen Bilder der Zerstörung und des Todes im Gazastreifen gesehen. Das wird nicht durch eine Feuerpause aus ihrem Gedächtnis verschwinden. Israels bereits unsichere Position in der Welt wird sogar noch tiefer sinken.“

Viele anständige Israelis würden an Auswanderung denken. Die israelische Gesellschaft werde immer hoffnungsloser und aggressiver. Was würde Uri machen, wenn er könnte, wie er wollte?

„Ich würde sofort mit ehrenhaften Friedensverhandlungen mit der vereinten Palästinensischen Führung anfangen, und zwar auf der Grundlage der All-arabischen Friedensinitiative. Jetzt, wo so viele arabische Regierungen Israel zustimmen, scheint es eine einmalige Chance für eine Friedensinitiative zu geben. Kurz gesagt: macht ein Ende mit dem Krieg.“ (Uri Avnery: Ein-für-alle-Mal)

An der Seite Uris stünde weder das antisemitische Hetzblatt BILD, das nur die Netanjahu-Clique stützt, noch gewisse Dandylinke, die dieses Problem für unlösbar erklärt und alle Schuld abgeschafft haben – um für immer unschuldig zu sein. Das wird auf ewig ihre Schuld sein.