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Heimat

Hello, Freunde der Heimat,

Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn,
doch jetzt zur Ferne zieht’s mich hin.

Begleitest mich, du lieber Fluß,
Bist traurig, daß ich wandern muß;
Vom moos’gen Stein, vom wald’gen Tal,
da grüß‘ ich dich zum letztenmal:
Lieb Heimatland, ade!

Wie viele Deutsche sind nach Amerika ausgewandert, nach Russland, Brasilien, Chile! Wie viele folgten dem Ruf Maria Theresias und sind die Donau hinuntergefahren in die serbisch-ungarische Puszta?

Eher unfreiwillig und widerwillig übernahmen die deutschen Auswanderer in Amerika die überlegene angelsächsische Kultur. Von Demokratie hatten sie keine Ahnung, der kapitalistischen Wirtschaft mussten sie sich beugen, bis auch sie der Macht des Geldes erlagen.

Überall sonst in der Welt hielten sie eigensinnig an ihrem mitgebrachten deutschen Wesen fest. Als Russlanddeutsche und Donauschwaben nach dem Kriege in ihre innerlich nie aufgegebene Heimat zurückkehrten, trugen sie die psychischen Prägemale ihrer ausgewanderten Vorfahren. Das 17. Jahrhundert prallte mit einem Deutschland zusammen, das nur unter grässlichen Geburtsschmerzen – Weltkriegen, Völkerverbrechen und bedingungslosen Niederlagen – in die Moderne vorgedrungen war.

Wer prägte 1972 das markante Wort: „Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit“? (Martin Walser)

Wer schämte sich der bleichen Mutter Deutschland? „O Deutschland, bleiche Mutter! Wie haben deine Söhne dich zugerichtet, Daß du unter den Völkern sitzest, Ein

Gespött oder eine Furcht!“ (Bertold Brecht)

Wer assoziiert heute die „neue deutsche Leitkultur“ mit – Vaterland, weil Mutterland vermutlich kaum erträglich ist? Jakob Augstein, inzwischen (wie einst Alice Schwarzer) moralischer Retter der BILD-Zeitung.

Nein, Mutter Merkel widerlegt nicht die Verachtung der Deutschen für ihre Mater dolorosa. Wie freuen sich alle, dass das entschlussschwache Mütterchen endlich einen klaren, männlichen Kurs steuert. Ein Mann, ein Wort, eine Frau, ein Wörterbuch. Dabei macht sie nur stellvertretende Interimspolitik, bis der strahlende Held aus der Tiefe des Raumes kommen wird, den alle sehnsüchtig erwarten.

Wie eindeutig ihr Kurs ist, zeigt sich an ihrem verschärften Asylgesetz, an ihrer Forderung, die Grenzen mit allen militaristischen Mitteln zu sichern. Natürlich nicht der deutschen, sondern der EU, weshalb sie über Nacht den Autokraten Erdogan hofieren musste, damit er seine Millionen Flüchtlinge nicht bei Nacht und Nebel in die EU sickern lässt, um das werthaltige Abendland zu vergiften.

Wir können uns die Leute nicht raussuchen, mit denen wir verhandeln müssen, barmte EU-Schulz, der in Flüchtlingsfragen plötzlich keine Regeln mehr kennt, die er noch den Griechen als Waterboarding übergestülpt hatte.

Auch die Rainer Hanks der Nation, die über die Verletzung der 10 Gebote des unbefleckten Geldes heulen konnten, bewundern heute Mutter Merkel, die souverän alle Regeln bricht – aus christlichem Erbarmen. Wenn Gott seinen eigenen Geboten nicht gehorchen muss, warum sollte seine Magd päpstlicher sein als der Papst?

Barmherzigkeit ist keine Politik, sondern Gottes Wille für eine verlorene Welt. Eben das bewundern die Deutschen in ihren Herzensstübchen, dass Mutter für jenseitige Stabilität sorgt. In der Welt habt ihr Angst, souffliert die Pastorentochter, doch siehe, ich habe die Welt überwunden. Der Himmel ist die wahre Heimat, die Welt nur trostloses Transitland.

In unruhigen Zeiten muss die unsichtbare Hand Gottes als weibliche Merkel-Raute aller Welt sichtbar und kund getan werden. Herz- und hirnlose Regelsturheit gegenüber den Griechen – und antinomische Gnade für dreiste Flüchtlinge, die man ohnehin nicht mehr aufhalten kann: das ist die Substanz der Merkel‘schen Eindeutigkeit. Oh Herbst und Winter, lasst Wassermassen, Schnee und Eis vom Himmel regnen, dass die Wanderratten – besonders die testosterongesteuerten jungen Männer unter ihnen – in Schlamm und Morast versinken.

Wer hat den Schmarren in die Welt gesetzt, die Deutschen seien heimatliebend? Warum protzen sie damit, ihr teures Wort „Heimat“ sei unübersetzbar, viele fremde Sprachen hätten es als Fremdwort übernommen? Heimat ist für Deutsche die bleiche Mutter. Man benötigt sie, wenn „Not am Mann“ und Vater in Pommerland ist. Doch kaum ist der Held zurück aus dem Krieg, muss Mütterchen hinter dem Ofen verschwinden.

In ihrer Robustheit ist Merkel kein Mütterchen, sondern ein Uniform tragender post-weiblicher General. Gelegentlich sieht sie ausgelaugt und mitgenommen aus. Doch am nächsten Morgen kommt sie – neugeboren in der Quelle der Wiedergeburt – strahlend zurück, um ihrem Volk in frischer Kraft den Kurs ins gelobte Land zu weisen, wo goldene Volksaktien auf den Bäumen blitzen und Wirtschaft grenzenlos in den Himmel wächst.

Was ist das Gemeinsame zwischen Merkel und dem FC Bayern? Beide sind uneinholbar und alternativlos.

Deutschland will Sieger ohne Wenn und Aber. Jene unverzeihliche Niederlage 45 schmerzt tief drinnen und muss mit strahlend weißer Salbe bestrichen werden. Als Botin des Himmels muss die charismatische Kanzlerin ihr Volk nicht befragen, ob es auf Atomstrom verzichten oder seine Turnhallen fremden Kohorten überlassen will. „Die Welt soll sein, wie ich will“, sagte Novalis, der Lieblingsdichter der frommen Romantikerin.

Merkel fragt nicht. Sie offenbart und dekretiert einsame Beschlüsse, geboren im Zwiegespräch mit ihrem himmlischen Vater: wenn nicht passiert, was ich will, ist dies nicht mehr mein Land. Da liegen alle Deutschen im Staub und winseln: ach bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Russe steht vor der Tür.

Merkel kann keine Urmutter sein, sie ist einem allmächtigen VATER Rechenschaft schuldig. Dass sie alternativlos ist, liegt nicht nur daran, dass sie die unterirdische Sehnsuchtsmelodie der Deutschen vernommen und erkannt hat: näher, mein Gott zu Dir, sondern daran, dass die Männer auf dem letzten Loch pfeifen. Kollektiv und weltweit.

Die Weltepoche der starken Männer ist schon jetzt Geschichte. Man höre nur die Gespräche junger Mütter, wenn sie unter sich über die Väter ihrer Kinder lästern. Das ist in dieser Intensität neu. Väter sollen das sein? Bis jetzt sind sie nichts als pubertierende Rammler. Keine weitere Generation mehr und diese Frauen werden ihre Bestäuber aus den Ledersesseln der Macht geholt und in die Wüste gejagt haben. Männer, eure Hoch-Kultur – eine an Moral und Klugheit nicht mehr zu unterbietende Irrsinnsepoche is over. Abfahrt.

Die Deutschen können keine Heimatfreunde sein, weil ihre Heimat zunehmend algorithmisch in den Himmel wächst. Mit dem Reich der Sterblichen geben sie sich nicht mehr ab. Allmählich wird es Zeit für göttliche Unsterblichkeit. Dies geben sie nicht zu, nicht mal sich selbst. Es muss ein völkisches Geheimnis bleiben. Ach, sie wissen wenig über sich. Wissen belastet beim Malochen und hindert beim Raffen. Je mehr sie mit maschinellen Informationen zugemüllt werden, je weniger müssen sie wissen, wes Geistes Kind sie sind.

Wollen sie wissen, was sie denken, fragen sie bei Gehirnforschern nach. Wollen sie wissen, was sie fühlen, gehen sie in die Kneipe oder auf den Fußballplatz und genehmigen sich ihr wöchentliches Räuschlein. Wollen sie wissen, was sie tun müssen, überprüfen sie ihr Konto oder lesen Margot Käßmann in BILD. Wollen sie wissen, wen sie anhimmeln sollen, greifen sie zu bunten Blättern.

Die ARD hat die Heimat entdeckt. Eine ganze Woche lang, danach wird das Thema „durch“ sein. Das ist die Platzregenpädagogik der Öffentlich-Rechtlichen: jahrelang bringen sie fast nichts, dann alles in einem blitzartigen Ereignis. Sie halten sich an die Kairos-Theologie: als die Zeit erfüllet ward … Wer diesen Erguss erfassen kann, erfasse es.

Was ist die ARD? Ein staatlicher Sender mit Bildungsauftrag, finanziert aus Pflichtgebühren der Bevölkerung, um einem unwürdigen Quotenwettbewerb zu entgehen. Das Geld nehmen sie, doch Quoten sind für sie wie das Evangelium. Ergo verschieben sie ihre Bildungsbeiträge derart in die Nacht, dass nur Wenige als Zuschauer in Betracht kommen.

Sollte Politik zur Bildung gehören, so sind die Öffentlich-Rechtlichen noch ungebildeter als die Privaten: sie bilden sich ein, sie wären gebildet. Würden ARD und ZDF alternierend kurz nach acht Politisches bringen – die Machenschaften Merkels und Grillos – wäre die Berliner Regierung innerhalb weniger Wochen untragbar geworden. Ein einziges Mal brachte die ARD das brennende Thema Flüchtlingspolitik als längeren Beitrag kurz nach acht. Sonst nur redundante, erkenntnislose Brennpunkte. Daneben Plapper- und Quasselorgien auf allen Kanälen. An Wochenenden endlose Spiel- und Quizhöllen.

Der Platzregen kommt simultan über alle Sender der ARD: kein drittes Programm ohne DDR-Nostalgie bei Wiedervereinigungs-Feiern oder heimatliche Variationen, gerade wenn Fremde die Heimat überschwemmen. Das Ganze ähnelt der Wanderung der Kinder Gottes durch die Wüste: wochenlang keinen Bissen Brot, plötzlich regnet‘s Manna knüppeldick vom Himmel.

Öffentlich-rechtliche Bildung ist nicht kontinuierlich, verständig und nachvollziehbar, sondern entmischt und dem unberechenbaren, unverfügbaren göttlichen Augenblick verpflichtet.

Öffentlich-rechtliche Bildung hat mit Bildung nichts zu tun. Sie ist Erleuchtung à la Bekehrung des Saulus: „Und da er auf dem Wege war und nahe an Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel; und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“

Wie die Wasserwogen des Herrn über die Frommen, so ergehen die der ARD über ihre Abhängigen: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue. Deine Fluten rauschen daher, daß hier eine Tiefe und da eine Tiefe brausen; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich.“

Die ARD ist ein selbstreinigendes System. Noch nie gab es eine kritische Debatte über das Programm mit unabhängigen Experten. Der beste Kritiker der Plasberg‘schen Sendung ist – Plasberg Himself. Ein paar kostbare Minuten der Anwesenheit des Chefredakteurs – das muss der Arroganz der Sender genügen.

Noch nie gab es eine Debatte über die narzisstischen Schnellsprech-Monologe, die sich Talkshows nennen und die Aufgabe haben, die Bevölkerung in bewusstseinslose Starre zu schwatzen. Pegida wächst nicht auf sächsischen Bäumen, sondern in supermodernen Studios der TV-Gewaltigen, die schwerelos im Weltraum schweben. Niemand weiß, wo sich das Weltraumschiff befindet, niemand weiß, warum Kleber sich von rechts nach links, Slomka von links nach rechts bewegen soll. Der Mensch, so die Botschaft der futurischen Kulissen, hat die Vierte Dimension erreicht. Journalisten sind Botschafter des Himmels.

Das alles ist befremdlich und ent-fremdet. Heimat aber ist das Nicht-Fremde.

„Da bist du nun Gräflein, da bist du zu Haus,
Das Heimische findest du schlimmer!
Zum Fenster da ziehen die Winde hinaus,
Sie kommen durch alle die Zimmer.“

Was ist das Fremde? Das, was der Mensch zurücklassen muss, wenn er in die wahre Heimat gelangen will. Für das Abendland ist das Fremde – das Heimische. Die irdische Heimat ist das, was der Mensch durcheilen und hinter sich lassen muss. Die Welt ist das Lazarett, die lepröse Transitstrecke. „Denn hier haben wir keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Das ist der göttliche Urbefehl, sich auf Erden nicht wohl zu fühlen.

„Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hin lege.“

Tiere können sich im Irdischen zu Hause fühlen, nicht die Auserwählten des Himmels. Wenn der Mensch seinen Geist beweisen will, muss er sich von der Heimat der Tiere trennen und ein Fremdling auf Erden werden. Mit dem Sündenfall beginnt die Entfremdung des Menschen. Abraham – Archetyp des Glaubens – ward ein Fremdling im Lande.

„Fremd-Sein heißt: von Woanders herstammen, im Hier nicht daheim sein. Dieses Hier ist das Fremde und Unheimliche. Das Leben, welches in diesem Hier weilt, befindet sich so in der Fremde und erleidet das Schicksal des Fremdlings. Das „fremde Leben“, das sich in diesem Hier nicht auskennt, verirrt sich in der Fremde, es irrt in ihr umher. Doch kann es dazu kommen, dass sich das „fremde Leben“ in diesem Hier nur allzu gut auskennt, dann vergisst das fremde Leben wiederum seine eigentliche Fremdheit: es verirrt sich in der Fremde, indem es ihr verfällt. Dann wird „fremde Leben“ in diesem Hier, das ihm eigentlich fremd ist, heimisch – und entfremdet sich seinem eigenen Ursprung. Zur Fremdheit als Leiden kommt die Entfremdung als Schuld. Das Leben ist in der Welt fremd, die Heimat des Lebens ist jenseits der Welt. Immer strenger unterscheidet sich die Welt Gottes von der Welt des Hier, immer mehr tritt die Welt Gottes in Gegensatz zu dieser Welt. Das Leben ist in die Fremde der Welt geworfen, wo es sich selbst entfremdet.“

So beschreibt der Religionsphilosoph Jakob Taubes in seinem Werk „Die jüdische Eschatologie“ das jüdisch-christliche Lebensgefühl. Der Mensch ist ein Fremdling auf Erden, der sein ganzes Leben auf die wahre Heimat im Jenseits ausrichten muss. Heideggers Geworfenheit entstammt der katholischen Kinderbibel: der eigentliche Mensch ist der Gläubige, der seine Geworfenheit erkennt und der wahren Heimat im Drüben zustrebt.

Sich in der irdischen Welt heimisch fühlen, die Fremde als Heimat missverstehen, das ist die größte Sünde. Wer sich in der Natur, der Heimat der Tiere, heimisch fühlt, ist der wahre Entfremdete, denn sein Urgefühl der Entfremdung hat er betäubt. Gläubige sind Gäste und Fremdlinge auf Erden.

Sind die Deutschen ein christliches Volk? Dann können sie keine Heimat auf Erden haben. Haben sie aber eine Heimat, können sie keine Christen sein. Nun wählet, ihr Deutschen, ob ihr euch hienieden einnisten und eure himmlische Berufung verfehlen oder das Irdische als fremde Stadt abschütteln wollt, um in die wahre Heimat, die zukünftige Stadt, zu gelangen.

Der moderne Vorrang des Zukünftigen liegt in der Entfremdung des Menschen, der auf Erden ein Fremdling sein muss. Wer immer nur nach vorne schauen muss, hat hienieden keinen Platz, um sein Haupt hinzulegen. Fände er einen, wäre er für immer verloren. Irdische Welt und himmlische Heimat sind auf ewig unverträglich.

Das heimatliche Pathos der Deutschen beruhte auf einer Selbsttäuschung. Die irdische Heimat definierten sie als Vorschein der himmlischen. Die Suche nach der blauen Blume endete erst im gefühlten Jenseits, wo das Gesicht der Geliebten mit dem der Mutter Gottes verschwamm. Das Volkslied „Nun ade, du mein lieb Heimatland“ hat die Fremdlingschaft des Menschen präzis beschrieben. Um in die wahre Heimat zu gelangen, muss der Mensch von seiner gewohnten Umgebung Abschied nehmen und wandernd der himmlischen Fremde entgegeneilen.

Die Christenheit ist das wandernde Volk Gottes durch Zeiten und Räume, bis es am Ende der Tage die wahre Heimat betreten kann. Die ökologische Entfremdung des Abendländers, seine fluktuierende Unruhe und Hektik, sind Früchte des radikalen Fremdseins auf Erden. In Übereinstimmung mit der Natur zu leben, wäre die größte Sünde. Die Schöpfung bewahren, heißt, sie untertan machen und radikal verbrauchen, bis die sündige Welt zunichte gemacht worden ist, damit das ganz Neue sich zeigen kann.

Das Ziel des seligkeitstrunkenen Menschen muss sein, die irdische Fremdheit auf Erden zu überwinden und Hausgenosse Gottes zu werden: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.“

In seinem Vorwort zu Theodor Lessings Buch „Der jüdische Selbsthass“ behauptet der russisch-jüdische Philosoph Boris Groys, die Deutschen hätten es nie verwunden, dem fremden Glauben der verhassten Juden aufgesessen zu sein. Wie konnte es geschehen, dass die judenfeindlichen Deutschen sich in gleichem Maße als wanderndes Volk Gottes ausgaben wie der „ewig wandernde Jude“?

Durch Erschleichung des Fremden und dessen Verfälschung in Eigenes. Die völkische Bewegung leitete die deutschen Stämme „von den zwölf Stämmen Israels her“. (Nicht anders als die Mormonen und viele amerikanische Fundamentalisten, die die indianische Urbevölkerung als ausgewanderte Juden der Urzeit betrachteten, deren Erwählung auf die weißen Einwanderer übergegangen war.) Eine Phantasmagorie der völkischen Bewegung „schildert die alttestamentliche Paradiesvorstellung als Raub einer germanischen Überlieferung und verlegt das echte Paradies nach Mecklenburg.“ (Armin Mohler, Die konservative Revolution) Nach dieser theologischen Geographie müsste Merkel mitten im Paradies aufgewachsen sein.

Die Deutschen fühlten sich als die echten Auserwählten und stempelten die Juden zu Nachäffern des germanischen Vorbilds. Jesus wurde zum unehelichen Sohn der Maria und eines blonden römischen Legionärs. Doch die Deutschen waren ihrer Konstruktionen so unsicher, dass sie die Urheber ihrer übernommenen Religion vernichten mussten, damit es keine Zeugen ihres Raubs geben konnte.

Die Germanen, ursprünglich in der Natur zu Hause, entfremdeten sich derselben, um sich als wahre Fremdlinge auf Erden und Erben des Himmelreichs zu kennzeichnen. Seit ihrer Christianisierung verleugnen die Deutschen ihre Heimat der Natur und degradieren sie zur Fremde, die am Ende der Tage ausgelöscht werden wird.

Die Natur war die wahre Heimat der Griechen. Als bei Antiphon der Gedanke der allgemeinen Menschengleichheit aufkam, erweiterte sich die beschränkte Heimat der Polis zur kosmischen Polis. Der freie und gleiche Mensch war überall auf Erden jedem Menschen ein freundlich und solidarisch verbundener – Kosmopolit. Euripides war nicht der erste, der sich in die Probleme des Kosmos versenkte und sich „allen Wahrheitssuchern verbunden fühlte, in welchem Lande sie auch weilen mochten. Insofern ist er über die engen Grenzen der Polis hinausgewachsen und ein Vorläufer des Hellenismus geworden.“ (Wilhelm Nestle)

Es wurde gleichgültig, an welchem Ort der Erde ein Mensch wohnte. Solange er seine Identität in der Vernunft suchte, die allen Menschen gegeben war, hatte er seine wahre Heimat gefunden.

Deutsche Leitkultur ist ein fremdenfeindliches Ärgernis. Nur die Leitidee einer gemeinsamen Vernunft macht alle Menschen an allen Orten der Welt zu gleichwertigen Brüdern und Schwestern.