Kategorien
Tagesmail

Glauben und allmächtige Technik

Hello, Freunde des vikariierenden Lebens,

oder des stellvertretenden Lebens. Vikare sind Stellvertreter. Ein Papst ist ein Vicarius Christi. Das Christentum ist eine Religion des stellvertretenden Lebens und Sterbens. Auf Gottes Sohn werden alle Gefühle der Schuld und Hoffnung projiziert. Nicht der Mensch lebt sein Leben, sondern der Erlöser lebt stellvertretend für ihn. Wird ein Mensch gläubig, stirbt sein alter Adam. Nicht mehr er lebt, sondern Christus lebt in ihm. Oder er lebt in Christo.

„Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir. Denn ich bin bei der Taufe durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe.“

Biologen sprechen von Symbiose (= Zusammenleben). Es gibt verschiedene Formen symbiotischen Zusammenlebens:

a) Wenn beide Organismen sich durch Zusammenleben gegenseitig nützen, ohne voneinander abhängig zu sein, wird von Protokooperation gesprochen. (Wiki)

b) Bei Mutualismus gibt es regelmäßige, aber nicht lebensnotwendige Symbionten.

(Bei dem französischen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon muss eine gerechte Wirtschaft mutualistisch sein. In einer sozialistischen Wirtschaft kann es keine zentrale Lenkungsinstanz geben, ganz im Gegensatz zur späteren Plan- und Zwangswirtschaft des Staatssozialismus. Alle gesellschaftlichen Beziehungen regeln sich nach dem Prinzip freiwilliger Gegenseitigkeit. Ein biologischer Mutualismus läge bei Proudhon nur vor, wenn das Prinzip der Gegenseitigkeit nicht überlebensnotwendig wäre, jedes Mitglied der Gesellschaft im Zweifelsfall autark

leben könnte. In diesem Fall wäre gegenseitiger Tausch übernotwendiger Luxus.)

c) Bei der Eubiose oder obligatorischen Symbiose sind beide Partner allein nicht lebensfähig (bei Blattschneiderameisen & Pilzen – oder alten Ehepaaren).

Leben die Partner getrennt voneinander, reden wir von Ektosymbiose (ekto = außerhalb).

Bei der Endosymbiose (endo = innen) wird ein Partner in den Körper des andern aufgenommen (zum Beispiel Enterobakterien im Darm der Menschen).

Biologisch ist das christliche Credo eine Endosymbiose: nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Der verinnerlichte Erlöser trägt den Menschen als tote äußere Puppe, die im Jenseits zu einem neuen Menschen aufersteht, wobei die psychophysische Erneuerung schon im Diesseits beginnt:

„Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm.“ „… bemüht, die Einheit des Geistes durch das Band des Friedens zu bewahren. Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid zu einer Hoffnung vermöge eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater, der über allen und bei allen und in allen ist.“

In der Epheser-Stelle ist die Symbiose super- und ekto- und endosymbiotisch. Im Johannesevangelium ähnelt die dreifache Symbiose aus Vater&Sohn&Mensch einer russischen Matrjoschka. „Und ich habe die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, ihnen gegeben, damit sie eins seien, wie wir eins sind – ich in ihnen und du in mir – damit sie vollkommen eins seien“.

Naiverweise würde man sich die dreieinige Symbiose so vorstellen, dass der Mensch in Christo und Christus in Gott, dem Unermesslichen wäre. Es ist andersrum: die makrologische Unermesslichkeit Gottes versteckt sich im mikrologischen Bereich des menschlichen Innern.

Auch die Beziehung der NS-Deutschen zu ihrem Führer war symbiotisch: „Was ihr seid, seid ihr durch mich, und alles was ich bin, bin ich nur durch euch allein“. Politischer Totalitarismus ist eine perfekte Symbiose aus allen mit allen.

Wer Gott suchen will, darf nicht nach „draußen“, sondern muss nach innen gehen. Objektive Naturerkenntnis wäre jedem Menschen möglich, auch den Ungläubigen. Das darf nicht sein. Die Wahrheit Gottes ist ein Privileg der Frommen und muss von ihnen geglaubt werden.

Folgerecht sagt Augustin, der Gläubige müsse nach innen gehen, um Gott zu erkennen. Wobei Gott erkennen identisch ist mit Glauben an Gott. Augustins berühmter Satz: „Geh nicht nach außen, zu dir selbst kehre zurück; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“

Der augustinische Satz hatte außerordentliche Folgen in der abendländischen Philosophie und mündete in die postmoderne Leugnung aller objektiven Wahrheit. Die göttliche Wahrheit ist nicht draußen, in der objektiven Natur, zu suchen, sondern im subjektiven Innern des Menschen.

Der dogmatische Relativismus der Postmoderne ist ein später Ableger Augustins. Seit Augustins Verlegung der göttlichen Wahrheit ins unsichtbare Innere des Menschen hat das Abendland zwei Wahrheitsbegriffe: den objektiven Wahrheitsbegriff der Griechen – und den subjektiven der Christen. Seitdem rivalisieren beide Wahrheitsbegriffe, vermengen oder überlagern sich und gehen unhaltbare Kompromisse ein.

Beispiel Kant: die objektive, vom Menschen unabhängige Natur, ist ein ungeformtes, verklumptes und unerkennbares Ding an sich. Der Mensch schreibt der Natur mit seinen „apriorischen“ Fähigkeiten vor, welche Strukturen, Gesetze und Wahrheiten sie zu zeigen hat.

Die apriorische Fähigkeit ist subjektiv und objektiv in einem. Subjektiv, indem sie die Wahrheit in der Natur nicht entdeckt, sondern in sie „hineinprojiziert“. Objektiv, indem die Natur sich der Projektion des Menschen fügt und sich tatsächlich so verhält, wie der Mensch es ihr vorschreibt. Das Subjektive des Menschen – nicht des einzelnen Menschen, sondern des Menschen an sich – ist objektiv geworden.

Je mehr christliche Dogmen die Philosophie kontaminieren, je mehr erobern christogene Denker ihre Gottähnlichkeit. Wie Gott die Natur „subjektiv“ aus Nichts erschuf, erschafft der Mensch subjektiv die Natur, indem er sie erkennt und ihr vorschreibt, wie sie zu sein hat. Bei Kant fehlt noch das Erkennen aus dem Nichts. Bei ihm gibt es noch eine äußere, wenn auch unerkennbare Natur, die durch den creativen Menschen erst ihre Struktur erhält.

Fichte, Schüler Kants, macht Schluss mit dieser Zimperlichkeit. Sein ICH erschafft alles quasi aus Nichts. Es setzt alles, wie es will und vernichtet wieder nach Belieben das Gesetzte, um Neues zu setzen: der Urvorgang des Kapitalismus. Der gottgleiche Mensch produziert alles quasi aus Nichts. Die Natur ist für ihn minderwertig und muss durch menschliche Kreativität ersetzt werden. Alles muss wieder im Nichts verschwinden, damit der Produzent sich täglich neu erfinden kann, indem er neue Produkte aus dem Nichts kreiert.

Im kapitalistischen Produktionsprozess ist der Mensch gottähnlich geworden. Die postmoderne Leugnung der objektiven Wahrheit ist die ideologische Voraussetzung des unendlichen kapitalistischen Produktionsprozesses. Noch befindet sich der Kapitalismus in der „kantischen“ Phase: noch benötigt er die Ressourcen der äußeren Natur. Doch sein Ziel ist klar: er will sich von der minderwertigen Natur (Rohstoffe sind rohe Stoffe, die erst durch menschliches Zutun gezähmt und gesittet werden) lösen und eine neue Natur ex nihilo schaffen.

Das wäre die Selbsterfüllung der Prophezeiung Christi: Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Diesen unüberbietbaren triumphalen Satz des Erlösers und Herrschers des Universums (Master of Universe) in die Tat umzusetzen, ist die leitende Devise von Silicon Valley, dem Tempel und Allerheiligsten des Westens.

Die Technik der Moderne mit ihrer amerikanischen Superiorität beruht nicht auf einer allgemeinen Vernunft aller Menschen, sondern ist subjektiver Gottesdienst mit objektiven Instrumenten. Der Allmachtstraum der Digitalisten ist Anbetung des christlichen Gottes in wissenschaftlich-technischer Konkretion.

Die Moderne ist selbsterfüllende Prophezeiung uralter biblischer Verheißungen, die inzwischen die Welt erobert hat. Diesen Prozess haben nicht die Amerikaner erfunden. Er ist schon mehrere hundert Jahre alt und wurde in Grundzügen bereits im europäischen Mittelalter erdacht. (Bei Roger Bacon in England und in der italienischen Frührenaissance).

Die Devise von Francis Bacon: Wissen ist Macht, bedeutet ausgeschrieben: Wissenschaft als selbsterfüllende Prophezeiung des christlichen Glaubens führt unvermeidlich zur Allmacht über das Universum.

Die rationalen Methoden der Wissenschaft haben die gelehrten Mönche von den Griechen übernommen, doch die praktischen Ziele der Natur- und Welteroberung entstammen dem biblischen Auftrag: Macht euch die Erde untertan.

Die „subjektive Wendung“ der abendländischen Philosophie beginnt nicht erst mit Descartes „Ich denke, als bin ich“. Sondern mit Augustins Innenwendung der göttlichen Wahrheit. Objektive Wahrheit ist nicht Erkenntnis der Natur, sondern Erkenntnis des christlichen Gottes.

Der Creator ist nicht identisch mit der Natur. Einerseits hat er zwar die Natur erschaffen – angeblich sehr gut –, gleichzeitig ist Natur nicht sein Reich, sondern das Reich seines Widersachers, des Teufels. Das Teuflische aber ist unerkennbar.

Der gläubige Mensch als Stellvertreter Gottes soll die Natur erlösen, nicht erkennen: „Denn die Sehnsucht des Geschaffenen wartet auf das Offenbarwerden der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass alles Geschaffene insgesamt seufzt und sich schmerzlich ängstigt bis jetzt.“

Würde man die objektive Natur, den Kosmos, erkennen, wäre das der Beweis, dass sie nicht teuflisch und minderwertig ist. Der Christ aber muss durch all sein Wirken beweisen, dass Natur nur dafür da ist, vom Menschen benutzt, abgenutzt, ausrangiert und vernichtet zu werden. Sie muss ausgelöscht werden, damit eine neue geschaffen werden kann.

Im christlichen Sinn ist Erkennen Glauben. Bei den Griechen war Erkennen Denken und Wahrnehmen mit all seinen Sinnen.

Wahrnehmen und Denken können aber alle Menschen, denn alle sind mit Vernunft und Sinnesorganen ausgestattet. Glauben dagegen ist nur die Fähigkeit weniger: ein Fürwahrhalten von etwas, was man erhofft, „eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht“. Das ist eine klare Absage an die Erkenntnistheorie der Griechen, deren theoria Schauen bedeutet.

Bei Paulus ist objektives Erkennen auf Erden nicht möglich: „Denn wir sehen jetzt nur wie mittels eines Spiegels in rätselhafter Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Das menschliche Erkenntnisvermögen ist – wie alle menschlichen Fähigkeiten – durch die Erbsünde getrübt und minderwertig. Ergo kann es auf Erden keine objektive Erkenntnis der Wahrheit geben.

Bei Griechen war Erkennen der Natur ein Akt auf gleicher Augenhöhe: Gleiches erkennt Gleiches. Der Mensch als Geschöpf der Natur erkennt Natur als Mutter aller Dinge. Für Griechen ist Erkennen der Natur keine minderwertige Imitation einer überlegenen Natur.

Doch der Christ sieht seine Gottähnlichkeit in Gefahr, wenn er eine sündig-minderwertige Natur kopieren und imitieren müsste. Von der Natur will er sich nicht vorschreiben lassen, was er erkennen darf. Er will der Natur selber vorschreiben, was sie als Erkenntnis zu offenbaren hat.

Bei den Griechen kam der Mensch im Akt der Erkenntnis heim zur Natur. Erkennen der Wahrheit war Rückkehr zum Ursprung des Menschen.

Bei Christen ist Erkennen der Akt eines Despoten, der sich niemals der Natur unterstellt, sondern sie nach Belieben vor sich herjagt.

Bei dem italienischen Philosophen Vico kann der Mensch nur erkennen, was er selber hergestellt hat. Die Natur hat er nicht hergestellt. Also bleibt ihm nur, der Natur nach Belieben Stücke aus dem Fleisch zu reißen, mit denen er machen kann, was er will. Er erkennt nur seine eigenen Machenschaften, mit denen er die Natur quält und foltert.

Das subjektive Denken der Neuzeit ist von autistischem Selbstvexieren nicht unterscheidbar. Gerade, weil er nicht objektiv erkennt, glaubt er die Lizenz zu haben, der Natur nach Belieben Gewalt anzutun. Man denke an einen männlichen Sadisten, der Frauen zu kennen glaubt, wenn er weiß, mit welchen Methoden er sie am besten demütigen, erniedrigen und verletzen kann.

Die christliche Moderne verhält sich zur Natur wie ein Vergewaltiger zu seinem weiblichen Opfer. Die Omnipotenzphantasien der technischen Jüngelchen sind nichts als Vergewaltigungsphantasien seelisch Impotenter, die nur im Akt der Gewalt ihr wichtigstes Glied in Stellung bringen können. Gefühle der Empathie und Zärtlichkeit zur Natur sind ihnen unbekannt. Ihr neurotisches und naturfeindliches Herz beginnt nur in Wallung zu geraten, wenn sie Herrschaft und Gewalt ausüben.

Wenn Döpfner die Allmacht von Google anprangert und zugibt, dass er Angst vor diesem undemokratischen Monstrum hat, so ist das nur der kleine Anfang eines lebensnotwendigen Widerstands gegen unreife Rowdys, die sich in gottähnlicher Pose den Planeten unter den Nagel reißen.

Der Widerstand wird erst effektiv werden, wenn die Ursachen der religiösen Hybris nicht länger ignoriert werden. Hier hapert’s. Die Religion genießt im christlichen Westen absolute Taburechte. Das Heilige in seinem suizidalen Grauen darf nicht durchschaut werden.

Schirrmacher irrt, wenn er das Phänomen der gigantischen Macht des Menschen über den Menschen als neues und bisher noch nie aufgetretenes Phänomen anstaunt und bejammert. Schon seit Jahrhunderten wird die Allmacht des Gläubigen über die Erde als Auftrag Gottes an den Menschen von allen Kanzeln gepredigt. Schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – seit dem Tode Gottes und fortschreitender Religionskritik – wird von Nachdenklichen auf die apokalyptischen Gefahren einer grenzenlosen Wissenschaft hingewiesen.

Der französische Philosoph Ernest Renan warnt in seinen Werken vor der totalitären Allmacht der Eliten: „Die Perfektion der Rüstungstechnik zerstört in der Tat die Demokratie.“ Als „wahrhaft unfehlbares Papsttum“ gebe diese Elite der geistlichen Macht erst die eigentliche Realität, indem sie statt kraftloser Bannflüche die „sehr reale Hölle“ wissenschaftlicher Waffen entfessele. Die Kräfte der Menschheit würden zum Eigentum einer kleinen Gruppe, die schließlich über den Bestand des Planeten verfügen und die ganze Erde terrorisieren werde. Solche Terror-Allmacht mache diese Elite beinahe zu Göttern. Das verlorene Paradies würde durch die Wissenschaft wieder erstehen.

Die Grundlage der religiösen Selbstzerstörung ist die Symbiose des Menschen mit einem Gott der Allmacht. Der allmächtige Gott kann durch den Frommen im Akt des Glaubens verinnerlicht werden, wodurch sich der Mensch die Omnipotenz des Creators ex nihilo aneignen kann.

Im Abendmahl können sich die Jünger mit ihrem Herrn und Meister zur absoluten unio mystica vereinigen. Wer sich einig fühlt mit seinem Gott, in dem ist das „Selbstgefühl Gottes“, so Hegel. Im Sakrament des Abendmahls erlebt der Mensch das Bewusstsein der „Versöhnung mit Gott, das Einkehren und Innewohnen des Geistes in ihm.“ Das wäre die perfekte Symbiose aus Gott und Mensch.

Wie Gott menschenähnlich, so wird der Mensch gottähnlich. Die Attribute Gottes werden zu technischen, militärischen und wirtschaftlichen Omnipotenz-Werkzeugen des Menschen. Die absolute Symbiose aus Gott & Mensch aber beruht auf der Vernichtung des Natürlichen und Irdischen. Die unio mystica ist nur im „Verzehren und Vernichten des Sinnlichen.“ (Hegel, „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“)

Die christliche Symbiose ist kein Miteinander gleichberechtigter Wesen. Jeder Symbiont versucht den anderen zu verschlingen. Am Ende siegt der Mächtige, der Mensch wird ausgelöscht.

Wer objektive Wahrheit leugnet, kann sich vorgaukeln, auch keine objektive Natur vernichten zu können. Wer nur die Spiegelungen seiner eigenen Hass- und Vernichtungsgefühle erkennt, der kann nicht verifizieren, welche Schäden er in Raum und Zeit überprüfbar anrichtet.

Das Subjektive ist immer mit sich allein. Gegenseitiges Wahrnehmen, Streiten und Argumentieren ist im Bereich des Subjektiven unmöglich. Gibt’s keine unabhängige Natur, wie könnte man sie auslöschen?

Psychotiker und Phantasten haben immer Recht, selbst im Furor des Verschwindens. Nur im Bereich des Objektiven lassen sich subjektive Irrtümer kenntlich machen.

Ein Atomforscher, dem es Angst und Bange wurde angesichts der Möglichkeit, mit atomaren Bomben die Welt zu vernichten, stellte sich am Ende seines Lebens die Frage:

„Erlangten wir Herrschaft über die stärksten Naturkräfte nur, um unserm eigenen Apparat zum Opfer zu fallen und am Ende durch ihn zerstört zu werden?“