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Gegner des Sonderwegs

Hello, Gegner des Sonderwegs,

der deutsche Sonderweg war die Abwendung der Deutschen von den universellen Werten der Aufklärung, die in westlichen Staaten zur Entwicklung der Menschenrechte und der Demokratie führten.

Der Sonderweg begann in der Romantik, die sich zur Religion, der uralten Feindin der Aufklärung, zurückwandte und allgemeine Menschen- und Vernunftrechte in gläubiger Emphase zurückwies. Jede Nation bringe ihre eigenen Werte hervor. Werte für alle Menschen seien abstrakte Chimären.

Deutsche Historiker, in gewohntem Scharfsinn, bestreiten den deutschen Sonderweg. Auch die westlichen Staaten, von denen Deutschland sich abgewandt habe, hätten Elemente des Besonderen in ihrer nationalen Entwicklung aufzuweisen.

Der Sonderweg der einen negiert nicht den Sonderweg der anderen. Jede Nation könnte einen Sonderweg einschlagen. Nicht die Distanz zu anderen Völkern ist das entscheidende, sondern die Distanz zur allgemeinen Vernunft, die auch in westlichen Staaten in individueller Politik realisiert wurde.

Der Engländer Locke war Aufklärer und Demokrat, dennoch ein gläubiger Christ, der für alle Menschen Toleranz forderte, nur nicht für Atheisten.

Die französische Form der Aufklärung, die zur Revolution geführt hatte, war radikal religionskritisch. Rottet die Kirche aus, war der Schlachtruf Voltaires gegen eine Seligkeitsmaschinerie, die in keiner Konfession vor Heidenvernichtung, Inquisition, Ketzermorden, Frauenfeindschaft und glühendem Judenhass zurückgeschreckt war.

Gegenwärtig erleben wir eine allgemeine Abwendung von universellen Werten in Ost und West: der Hauptgrund für die steigenden Spannungen zwischen Russland und den NATO-Staaten. Viele sprechen bereits von Kriegsgefahr und

warnen, die Spiralen des Misstrauens und Drohens weiter zu drehen.

Am 10.12.1948 wurden von der UNO – die heute, nicht anders als die OSZE, zur Wirkungslosigkeit verurteilt wurde – einige universelle Werte formuliert:

§ 3 Leben, Freiheit, Sicherheit (Das zu lösende Problem: Tod, Gefangenschaft, Willkür)

§ 4 Sklaverei (Das zu lösende Problem: Zwangsarbeit, Gefangenschaft)

§ 5 Folter (Das zu lösende Problem: zu Unrecht Schmerzen und Erniedrigung erleiden)

§ 6 Rechtsperson (Das zu lösende Problem: Klageverbot)

§ 13 Freizügigkeit (Das zu lösende Problem: der Staat als Gefängnis)

§ 14 Asylgewährung (Das zu lösende Problem: staatliche Willkür)

§ 19 Redefreiheit (Das zu lösende Problem: Fehlerkorrektur an der Regierung)

§ 20 Versammlungsfreiheit (Das zu lösende Problem: politische Mitbestimmung)

§ 23 Recht auf Arbeit (Das zu lösende Problem: Versorgungs- und psychisches Problem)

§ 26 Recht auf Bildung (Das zu lösende Problem: Selbstverwirklichung, Chancengleichheit)“

Der Westen verrät seine Werte, fordert aber von anderen Staaten, die „Werte des Westens“ zu übernehmen.

Vor Kriegen als Vermittlungsmethoden seiner hehren Werte scheut der Westen nicht zurück. Die bloße Befreiung von einem despotischen System ist aber noch keine Gewähr für demokratische Stabilität.

„Nation Building“ ist vergeblich, wenn der Westen seine Werte predigt, aber nicht daran denkt, sie zu befolgen. Die missionierten Völker haben scharfe Augen und sehen den Widerspruch zwischen Wort und Tat, zwischen Wasser predigen und Wein trinken.

Wird es zur ehernen Regel, dass der „moralisch“ motivierte Kriegszug versteckten materiellen Interessen dient, ist es um die Glaubwürdigkeit des Westens geschehen.

Bislang gab es keine „moralischen“ Kriege, die nicht zur Beschönigung von materiellen Beutezügen gedient hätten, sodass „ethisch-gerechte“ Kriege – sofern es sie gibt – heute schlechthin desavouiert sind.

Wäre es tatsächlich notwendig, verbrecherische Banden, die mit politischen Absichten auftreten – wie gegenwärtig die Horden des ISIS-Kalifats – mit einer gemeinsamen UNO-Truppe zu stoppen, können die verschiedenen Machtblöcke sich nicht mehr zu einer gemeinsamen internationalen Polizeiaktion verständigen.

Wer ständig Moral bemüht, um seine nationalen Egoismen zu bemänteln, dem „glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht“.

Die permanente Bigotterie des Westens hat viele aufrechte Menschen dazu geführt, jedwede Vermittlung von universellen Werten als unzulässige Bevormundung und Zwangsbeglückung zu verurteilen. Nehmen wir die Stellungnahme eines deutschen Präsidenten des Roten Kreuzes (DRK):

„Wir sollten aber gegenüber asiatischen Kulturnationen nicht der Gefahr erliegen, ihnen unser eigenes Menschenbild aufzuoktroyieren und damit unter dem Vorzeichen der Menschenrechte Kulturimperialismus zu betreiben.“ (Rudolf Seiters, CDU)

Für den Christdemokraten ist jede Vermittlungsabsicht identisch mit imperialem Zwang. Die unausweichliche Forderung: Demokratie und Menschenrechte sind westliche Sonderwegrechte und dürfen anderen Ländern nicht vermittelt werden, denn jede Vermittlung gilt als Zwang.

Unter westlichen Eliten, die sich für „ehrlich“ und selbstkritisch halten, ist die Meinung weit verbreitet: Hände weg vom „Export“ westlicher Werte, universelle Werte gibt es nicht.

Ex-Kanzler Helmut Schmidt, Herausgeber der ZEIT, gehört zu den eifrigen Befürwortern dieser moralischen Sonderweg-Ideologie. In einem Vorwort zum Buch des chinesischen Politikers Xi Jinping, erklärt Schmidt seine Kritik – am Westen: „Dabei wird der Westen der Welt immer wieder der Versuchung ausgesetzt sein, China und seine Führung zu belehren – und häufig genug wird aus einer unerwünschten Belehrung Arroganz. Es wäre gut, wenn der Westen an die Stelle der Arroganz den fairen Wettbewerb setzen würde.“

Die beiden Artikelschreiber, Johnny Ehrling und Alan Posener, formulieren ihr Fazit des Schmidt’schen „Wertepluralismus“: „Am 4. Juli 1989 fanden zwei historische Ereignisse statt: In Polen fanden die ersten halbwegs freien Wahlen statt, und in Peking ließ Deng Xiaoping die Armee auf die Demonstranten schießen, die auf dem Platz des Himmlischen Friedens für Demokratie demonstrierten. Zwei Modelle der postkommunistischen Gesellschaft stehen seitdem zur Wahl: demokratischer oder autoritärer Kapitalismus. Man gewinnt manchmal den Eindruck, Helmut Schmidt werde den Polen nie verzeihen, dass sie die Demokratie gewählt haben. Bei den Chinesen scheint er optimistischer zu sein.“ (DIE WELT)

Schließen universelle Werte und Wertepluralismus sich gegenseitig aus – oder ist Pluralismus selbst ein universeller Wert?

Sofern es um Grundwerte geht, schließen sie sich aus. Wer Folter für inhuman hält, kann niemandem einräumen, Foltern und Quälen könnten auch human sein. Hier gilt der Satz des strikten Widerspruchs.

Geht es aber um Lebensentwürfe, die diese humanen Grundregeln nicht berühren, soll jeder nach seiner Facon selig werden. Welche ästhetischen, sexuellen, religiösen Vorlieben jemand hat, ist allein seine Sache – solange sie nicht gegen Grundwerte anderer verstoßen. In der persönlichen Lebensgestaltung gilt der unbegrenzte Pluralismus.

Universelle Werte sind nicht nur für alle Menschen, sondern auch von allen Menschen, denn sie werden von der universellen Vernunft in jedem Menschen erarbeitet. Wenn der Mensch sich diesen universellen Werten unterwirft, unterwirft er sich selbst – und keinem Gott, der unmöglich der Urheber der Werte sein kann: sonst wäre der Mensch nicht autonom.

Die Sonderrechte der Kirchen verletzen gewaltig die Grundrechte ihrer Mitglieder – somit die aller BürgerInnen, die diese feudalen Privilegien für verfassungswidrig halten – und müssten von Karlsruhe ohne Wenn und Aber verboten werden. Auch das jüdische und muslimische Beschneidungsverbot darf kein religiöses Sonderrecht sein und muss sich allgemeinen Rechten der Menschheit beugen.

Deutschland ist eine amputierte Demokratie, die vor Sonderrechten mächtiger religiöser Lobbyisten mit Freuden kapituliert. Was ein Papst, ein Abraham zu sagen haben, ist hierzulande wichtiger als der Respekt vor dem demokratischen Gesetz, vor dem alle gleich sind.

Es ist unsinnig, den Widerstand gegen die Beschneidung als antisemitisch zu dämonisieren. Der Jude ist nicht identisch mit dem religiösen Juden. Religionsfreiheit besteht nicht darin, die Grundrechte anderer zu beschädigen. Religiöse Karikaturen sind keine Attacke gegen Religionsfreiheit. In einer Demokratie gilt jenes Recht, das Harald Schmidt so formulierte: jeder hat das gleiche Recht, verarscht zu werden. Er selber nutzte nicht das Recht der Verspottung des Heiligen. Grund: er ist lebenslang Ministrant geblieben.  

Vermittlung ist nicht Vermittlung. Werte sind philosophische Meinungen, mit denen jeder hausieren gehen kann. Eine Demokratie lebt vom edlen Wettstreit um die Wahrheit. (Nicht von der Beschädigungskonkurrenz im Militärischen und Wirtschaftlichen).

Jedermann kann auf dem öffentlichen Marktplatz seine Meinung kundtun – als Angebot, das er mit guten Argumenten begründen kann. Ob sein Angebot vom freien Publikum angenommen wird, entscheidet das Publikum und nicht der Anbieter.

Was ist der Unterschied zwischen der sokratischen Methode und der seines Schülers Platon? Sokrates vertraute allein der Stichhaltigkeit seiner Rede und seiner dialogischen Hebammenkunst. Nach dem Tode seines geliebten Lehrers hatte Platon das Vertrauen in die Demokratie verloren und entwarf einen perfekten Staat, in dem die Weisen ihre Weisheit mit staatlicher Gewalt den unteren Ständen aufzwingen konnten.

Das war der Übergang von der intakten Demokratie – allerdings im Zustand progressiver Selbstauflösung – in den Urfaschismus, der Andersdenkende nach Belieben zwangsbeglücken konnte. (Siehe dazu Poppers grundlegendes Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“)

Unfasslich, aber wahr: der Unterschied zwischen sokratischer Freiwilligkeit und platonischer Zwangsbeglückung ist heute niemandem mehr bekannt. Poppers Werk wurde, was Deutschland betrifft, vergeblich geschrieben.

Belehrungen sind bei uns automatisch Nötigungen und geistige Gewaltakte. Doch Belehrungen müssen Angebote sein und keine Zwänge.

Ein Land, das zwischen Freiwilligkeit und Nötigung nicht unterscheiden kann – welche humanen Schulen und Universitäten kann dieses Land haben? Keine. Es zwingt seine Kinder und wissbegierigen Studenten zu den Erkenntnissen ihrer Eliten, die mit Karriere belohnen und mit Erfolglosigkeit bestrafen.

(In einer Talkshow beantwortete BILD-Schreiber Müller-Vogg die Frage, woher die ISIS-Kandidaten in Deutschland kämen, mit Verachtung in der Stimme: unter jenen seien viele Loser. Wie junge Menschen zu Versagern werden, weiß BILD genau. BILD-Schreiber Franz Josef Wagner: „Es ist die Geschichte Böse gegen Gut. Ich denke, es gibt böse und gute Menschen – egal woher sie kommen.“

Der christliche Dualismus, der die amerikanische Politik beherrscht, hat Deutschland erreicht. Die NATO kann zur militia christi ausgebaut werden.

Demokratien können für Menschenrechte nur werben, wenn sie diese Rechte vorbildlich praktizieren. Es ist nicht anders als in einer sinnvollen Erziehung. Es gibt keine bessere Erziehung als die vorbildliche Selbsterziehung. Kinder beobachten nur das Tun der Eltern und nicht ihr Geschwafel. Das Tun nehmen sie an, das Geschwafel prallt an ihnen ab.

Der Westen praktiziert immer weniger, was er als Werte predigt. Die anschwellende Kluft zwischen Reden und Tun untergräbt die Strahlkraft der universellen Menschenrechte. Es ist arroganter kultureller Rassismus, wenn Helmut Schmidt die Menschenrechte nur dem Westen reserviert. Alle anderen Kulturen seien der Freiheit und Gleichheit nicht wert und nicht würdig.

Deutschland hatte nicht nur von der Romantik bis zum Dritten Reich einen Sonderweg eingeschlagen, noch immer frönt es diesem Sonderweg. Nicht dem Sonderweg einer Nation, sondern dem einer einzigartigen, allen anderen überlegenen Kultur. Huntingtons Zusammenprall der Kulturen beruht auf dem Alleinvertretungsanspruch des Westens auf Demokratie und Menschenrechte.

Ein Chinese scheint unfähig, das Recht der eigenen Meinungsfreiheit zu würdigen. Araber seien demokratie-unfähig, kommentierten deutsche Edelschreiber das Scheitern der Arabellion in Ägypten. Dass in Tunesien der demokratische Aufbruch erfolgreich ist, wird nicht einmal zur Kenntnis genommen.

Allmählich kommt wieder das alte Herrendenken auf, das den Deutschen die Schergenherrschaft der Übermenschen einbracht hatte. Deutschland, das beliebteste Land der Erde, mit der effizientesten Wirtschaft in Europa, mit der mächtigsten Frau der Welt, den erfolgreichsten Kickern, dem besten Fernsehprogramm, der kinderfreundlichsten Gesellschaft der Welt.

Am Samstag war im ZDF eine erstaunliche Sendung mit Kinderfreunden zu sehen. Die Gesichter der VIPs trieften von Öl der Nächstenliebe, berauscht von der Tugendhaftigkeit ihres grenzenlosen Mitleids mit all jenen Kindern, die sie das ganze Jahr als notleidende Flüchtlinge samt ihren Angehörigen an den Grenzen Europas ablehnen und ertrinken lassen.

Es war ein almosengebender Agape-Porno der extraordinären Art. Der Zottelbart eines bekannten Chefredakteurs fiel für viele Piepen der Schere zum Opfer – darunter kam unerwartet ein menschenähnliches Gebilde zum Vorschein. Wenn Bart das Symbol für Penis ist, sah Deutschland eine öffentliche Selbstkastration:

„Das Abschneiden der Haare des Sonnengottes hieß, ihn zu entmannen. Sein abgetrennter Penis wurde häufig „der kleine Blinde“ genannt“. „Im Judentum wie auch bei den anderen orientalischen Völkern gilt der Bart als Inbegriff der Kraft und als ein Symbol der von Gott gegebenen Männlichkeit“. „Kein irgendwie Entmannter darf in die Gemeinde des Herrn eintreten.“ (5.Mose)

Wie Flüchtlingskinder in Deutschland wirklich behandelt werden, zeigt der ZEIT-Artikel von Caterina Lobenstein: „Flüchtlingskinder dürfen erst zum Arzt, wenn sie schlimme Schmerzen haben. Sie bekommen Nahrung, die sie nicht verdauen können, sie leben in Heimen, in denen sie nicht spielen dürfen. All das passiert in München, Berlin oder Würzburg.“ – Davon in der ZDF-Ablasssendung kein Ton.

Ist Belehren ein fluchwürdiger Akt? Nur dann, wenn die Belehrer sich anmaßen, anderen ihre Lehre mit List und Gewalt einzubläuen. Ex-Bundespräsident Wulff lobte dieser Tage die Deutschen über den grünen Klee. Nur eins sollten sie lassen: anderen mit erhobenem Zeigefinger zu begegnen.

Was bedeuten würde, dass Merkel auf Auslandsreise bei unmenschlichen Regimes die Klappe halten müsste und das Einhalten der UNO-Vereinbarungen nicht anmahnen dürfte. Selbst dann nicht, wenn diese Verträge von diesen Regimes unterschrieben wurden.

Vor wenigen Jahren wurden deutsche Politiker im Ausland gescholten, wenn sie lediglich Wirtschaftsinteressen und nicht die Lage der Menschenrechte im Land ansprachen. Heute wird Merkel umgekehrt wegen Einfordern humaner Rechte kritisiert.

Der Westen verfällt und verramscht seine über viele Jahrhunderte erkämpften Grundrechte des mündigen Menschen gegen ökonomische Vorteile.

Der „Petersburger Dialog“, eingerichtet als Forum kritischer Begegnung mit Russland, wurde von Wirtschaftsinteressen überwuchert. Politiker und Mediale, die von philosophischer Analyse nichts halten und nichts verstehen, sind unfähig, mit einem anderen Land die aufkommenden Unterschiede zu ergründen und zu debattieren. Was bringen bloße Appelle, wenn die Streitpartner nicht die geringste Ahnung von ihren Differenzen haben?

Im Aufruf der 60 Persönlichkeiten zur Entspannung und zur vorurteilsfreien Berichterstattung in der Ukraine-Krise findet sich das Angebot eines Dialogs nur in scheuer Unterkühltheit. Doch gute Absichten reichen nicht, um eine Brücke zu Putin und den Russen zu schlagen.

(Auch Gazprom-Marionette und Putin-Freunderl Schröder hielt es für richtig, den Aufruf zu unterschreiben. Mit Analysen des Konflikts und konstruktiven Vorschlägen, wie man diesen beheben könnte, ist er noch nicht aufgefallen. Deutschland hat Politiker, für die man sich vor kurzem geschämt hätte. Mit dem Ende der Scham kam der Anfang der Käuflichkeit.)

Da kein Journalist über den Tellerrand des aktuellen Tages blickt, weiß in Deutschland niemand, dass Putins Sonderweg nichts anderes als ist als der Sonderweg der Deutschen – in russischer Variation.

Die Verachtung der universellen Vernunft und die Rückwendung zur Religion zeichneten die romantischen Dichter und Denker aus. Sie zeichnen auch die russischen Philosophen aus, bei denen sich Putin Rat und Unterstützung holt. Zumeist haben sie in Deutschland studiert und kennen Herder und Hegel besser als hiesige Feuilletonisten, welche Aufklärung – im verhängnisvollen Sinne Adornos – für totalitär halten und die Gegenaufklärung für das Nonplusultra der genialen Persönlichkeit.

Aufklärung ist für Schleiermacher, den führenden Theologen der Romantik, eine „Unterdrückung des unbefangenen Sinns durch die Wut des Verstehens und Erklärens. Alles, was ein Ganzes ist, will sie zerstücken und anatomieren. Sie ist die Gegnerin alles Originellen und Individuellen; eine erbärmliche Allgemeinheit und leere Nüchternheit ist ihr Ideal.“

Vielleicht verstehen wir jetzt, warum niemand mehr etwas verstehen und erklären will. Leere Vernunft will mit Verstehen zerstücken und zerreißen, was zusammengehört – und was man nicht mit dem Verstand, sondern mit dem gläubigen Herzen erfassen kann.

Putin ist zurückgekehrt in den Schoß der russisch-orthodoxen Religion, die sich schon früh vom westlichen Christentum abgewandt hatte. Für sie war Aufklärung die diabolische Frucht des Westens, mit keinem anderen Ziel, als das heilige Russland zu verderben und zur Beute des Westens zu machen.

Solche Ängste versteht kein Westler, obgleich er auch Christ sein will, sich aber den Luxus erlaubt, von seinem Glauben nichts zu verstehen. Religion ist für Deutsche ein ätherisches Gebilde, das mit der Realität nichts zu tun hat. Zur Analyse der politischen Wirklichkeit taugt sie nicht. Ende Gelände, Schluss mit Verstehen und Erklären.

Es darf wieder geholzt werden, dass Russland aus niedrigen Beweggründen sich vom Westen abgewandt hat, weil es den ökonomischen Wettbewerb auf allen Ebenen verliert.

Rückkehr zur dualistischen Religion in Ost und West. Beide Hemisphären machen eine parallele Rückwärts-Volte zu den unheilvollen Schwarz-Weiß-Schemata des christlichen Dogmas. Die beiden Blöcke lehnen sich zunehmend ab, weil sie sich zunehmend ähnlicher werden. Während in Russland die orthodoxe Kirche zur ersten ideologischen Macht geworden ist, verfallen die USA in die religiösen Muster ihrer Menschenrechtsfeindschaft.

Amerika habe ein Rassismus-Problem, sagte der erste schwarze Präsident. Nein, Amerika hat kein Rassismusproblem, sondern ein christliches Erwählungs- und Verfluchungsproblem. Nach biblischer Tradition sind Schwarze die Nachkommen des fluchwürdigen Ham, der seinen Vater Noah nackt sah, anstatt ihn züchtig zu bedecken:

„Nachfahren von Sem, dem ältesten Sohn, wurden als bevorzugte Rasse angesehen – die Semiten, oder Juden und Araber. Jafet, der nächste Sohn, war der Vater anderer weißer und gelber Rassen. Ham, der jüngste und sein Sohn Kanaan gingen Verbindungen mit Afrikanern ein. Die Bibel sagt, da Ham seinen Vater nackt sah, wurden er und seine Nachfahren verflucht die ‚Diener aller Diener‘ zu sein.“

Einer der verhängnisvollsten Gründe des jetzigen Ost-West-Konflikts wurde noch gar nicht erwähnt. Es ist die Klimakatastrophe, die die Menschheit an den Rand ihrer Existenzmöglichkeit bringt, von den Völkern aber in suizidaler Apokalypse-Sehnsucht verdrängt wird.

In der Ökologiefrage gibt es zwischen den USA und Deutschland einen tiefen theologischen Graben. Die Deutschen halten es für schriftgemäß, die „Schöpfung zu bewahren“. In Amerika gilt die ganze Ökologie als Sünde wider den Geist. Sie wolle verhindern, was Gott selbst in seiner Heilsvorsehung bestimmt habe: den Untergang der Welt.

„Allein sein Gott kann das Klima beeinflussen, meint ein US-Politiker und wird aus Anerkennung für seine intellektuellen Höhenflüge zum Vorsitzenden des Umweltausschusses des Senats gemacht. … Seine Qualifikation auf diesem Gebiet demonstrierte er vor zwei Jahren in einem Interview mit einem christlichen Radiosender. In diesem zitiert er aus dem ersten Buch Moses der Bibel (Genesis 8:22): «Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.» Gott sei nimmer noch da oben, und die „Arroganz“, die in der Überzeugung stecke, «dass wir, dass Menschen in der Lage sind zu verändern, was Er mit dem Klima macht, ist unerhört.»“ (heise online)

Bis heute haben die deutschen Grünen, die sich als Beschützer der Natur für elementar christlich halten, nicht den unverträglichen Widerspruch zu ihren amerikanischen Geschwistern bemerkt, die das genaue Gegenteil predigen.

Die Kluft zwischen Amerika und Deutschland, die sich täglich deutlicher zeigt, ist eine theologische Kluft. Das bedeutet, sie ist in Deutschland unsichtbar. Religion habe nichts mit dem Elend der Kultur zu tun, die sie bis ins Mark geprägt habe. Für Deutschland ist christlicher Glaube nur Friede, Freude, Eierkuchen und wenn er das nicht ist, ist er kein Glaube.

Die ungelösten Umweltprobleme dringen den Völkern aus allen Poren. Ihre uferlosen Schuldgefühle können sie nicht wahrnehmen – und exportieren sie ins Lager der Feinde. Es findet eine unhörbare Schuldzuweisung an das andere Lager statt. Selbst will man unschuldig sein, dann bleibt nur, die altvertrauten Feinde zum Sündenbock zu machen. Der Splitter im eigenen Auge erfordert den Balken im Auge des anderen.

Der Streit zwischen Ost und West wiederholt den archaischen Bruderzwist zwischen Kain und Abel. Jeder Machtblock will der auserwählte Abel sein, damit Gott den bösen Kain erschlage. Doch je länger Gott mit der Auslöschung des Rivalen verzieht, je mehr fühlen die Erwählten sich berechtigt, die Verdammten selbst über die Klinge springen zu lassen. Die biblische Rache-Theologie wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung.

„Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl. Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst.“