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Gegenaufklärung

Hello, Freunde des pulsierenden Herzens,

in dessen Namen die Deutschen die Moral beseitigt haben. Moral gegen das pulsierende Leben. Wessen Herz leidenschaftlich schlägt, kann sich um Moral nicht kümmern. Moral ist Spaß- und Affektbremse, kalt und lebensfeindlich. Nach unserer – frei erfundenen – Umfrage ist Moral das unbeliebteste Wort der deutschen Sprache. Sind Sie ein Moralapostel?

Ist Ihnen Moralpredigen wichtiger als Lebensfreude? hatten wir in bester demoskopischer Suggestivmethode den einfachen Mann auf der Straße befragt und das erwartbare Ergebnis erhalten: 99, 9 % sagten Nöö. Spaßbremsen? Wir doch nicht. Wir hauen auf den Putz, bis der Bär steppt.

(Warum nur ist deutsche Sprache zur Beschreibung ausgelassenen Frohsinns so hässlich? Es wird doch nicht damit zusammenhängen, dass gröhlende Lebensfreude selbst als hässlich empfunden wird, der man schnell ins bewusstseinslose Delirium entkommen muss?

Der Deutsche, sonst eher ein gehemmtes, linkisches Wesen, muss randalierend seine Innerlichkeit entäußern, bevor er in dumpfen Rausch versinkt. Der Rausch ist der kleine Bruder des urdeutschen Liebestods, wenn die Ekstase aus Lust und Tod dem atomisierten Menschen die Last der Individuation nimmt.

Im Rausch, dem vorweggenommenen Liebestod, versinkt der Deutsche im ozeanischen Schwarm-Glück, wo er nie mehr allein sein muss – oder so ähnlich.

Clemenceau hasste die Deutschen, weil sie in den Tod verliebt seien. Heute begnügen sich die rechtsrheinischen Erbfeinde mit

dem kleinen Liebestod, dem obligaten Weekendrausch. Es gibt echte Fortschritte.)

Wer hat den Unsinn erfunden, die Deutschen seien ein moralisches Volk, wo sie doch seit hunderten von Jahren gesteigerten Wert darauf legen, nichts mehr zu verabscheuen als die Moral? Das könnte man verschärfte Wahrheitshinterziehung nennen, ein Delikt – tausendmal verheerender als Steuerhinterziehung –, das man mit theologischem und medialem Schreibverbot nicht unter zehn Jahren bestrafen müsste.

Faust, Vorbild aller Deutschen, war ein Verbrecher. Welcher Lehrer sagt das seinen Schülern? Bevor sie klassisch wurden, waren Goethe und Schiller Verherrlicher des Bösen.

Nachdem Schiller bei Kant das kategorische Gute erlernt hatte, schwand seine Lebenskraft und er nahm Abschied von seinem großen Freund, der nach dem Tode des sittlich gewordenen Schwaben erneut zum Lobredner des Verruchten wurde. Der alte Faust wurde zum kapitalistischen Verbrecher, der bedenkenlos Menschen ermorden ließ, um seine raumgreifenden Pläne zu realisieren.

Da Faust der vorbildliche Held ist, darf im Deutschunterricht niemand auf die Idee kommen, ihn für den Gottseibeiuns zu halten. Das kurz aufflackernde Gesums vom Edlen und Guten – das nur das unmoralische Image Goethes korrigieren sollte, damit sich seine Werke besser verkauften – wurde unter dem Einfluss der jungen Romantiker schnell wieder eingestellt. Die hatten sich über die biedere Bürgeridylle der Schiller‘schen Glocke lustig gemacht:

„Die Leidenschaft flieht,

die Liebe muß bleiben;

Der Mann muß hinaus

ins feindliche Leben,

muß wirken und streben

und pflanzen und schaffen,

erlisten, erraffen,

muß wetten und wagen,

das Glück zu erjagen.“

In der deutschen Idylle regt sich schon der kapitalistische Wurm. Das Leben ist feindlich, man muss zur List greifen, das Glück muss erjagt werden, bloßes Arbeiten genügt nicht. Selbst Wetten und Zocken sind schon eingenistet. Ohne Raffen geht es nicht. Was heute Markt genannt wird, waren bei Schiller des Geschickes Mächte, die sich aller Kontrolle entzogen:

„Doch mit des Geschickes Mächten

ist kein ew’ger Bund zu flechten,

und das Unglück schreitet schnell.

Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.

Weh denen, die dem Ewigblinden

des Lichtes Himmelsfackel leihn!

Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden, und äschert Städt‘ und Länder ein.“

Wo ist die Idylle? Der Mensch ist kein moralisch Wesen, sondern der schrecklichste der Schrecken. Gegen seinen Wahn kämpfen alle Tugenden vergebens. Das war den nervösen romantischen Jüngelchen zu wenig. Sie rüsteten schon für heilige Kriege, um Europa – mit Gottes Hilfe – unter das deutsche Wesen zu zwingen.

Goethes moralische Epoche dauerte genau so lange, wie er für ein dünnes Gedicht benötigte, das man in gymnasialen Anstalten zur Tugendpredigt verwenden konnte, ohne immerzu die Bibel zu benutzen:

„Edel sei der Mensch,

Hilfreich und gut!

Denn das allein

Unterscheidet ihn

Von allen Wesen,

Die wir kennen.“

Wozu Moral? Um sich in narzisstischer Differenz von der „unfühlenden Natur“ zu unterscheiden.

Den eigentlichen Schrott lesen wir im zweiten Vers, wo man höheren Wesen nacheifern soll, die man gar nicht kennt:

„Heil den unbekannten

Höhern Wesen,

Die wir ahnen!

Ihnen gleiche der Mensch!

Sein Beispiel lehr uns

Jene glauben.“

Wie kann man Wesen nachahmen, von denen wir nicht wissen, was sie den ganzen Tag treiben?

Goethe gilt als großer Spinozafreund und Naturverehrer, was ihn nicht hinderte, die Natur zu einem gefühllosen Ding herunterzuputzen und den Menschen zur Krone der Schöpfung zu erheben.

„Denn unfühlend

Ist die Natur:

Es leuchtet die Sonne

Über Bös und Gute,

Und dem Verbrecher

Glänzen wie dem Besten

Der Mond und die Sterne.“

Wer natürlich sein will – Rousseaus Ruhm hatte sich über Europa verbreitet –, der kann nicht moralisch und mitfühlend sein. In der Bergpredigt lässt Gott über Gerechte und Ungerechte regnen, bei Goethe leuchtet die Sonne über Böse und Gute. Wenigstens das Wetter ist bei Goethe besser.

Zurück zur Natur konnte nur bedeuten: werft die künstlichen Tugenden weg und werdet wieder tierisch-unmoralisch. Alles, was ist, ist Natur, Natur ist das Echte und Authentische, das wir uns erkämpfen müssen wider die Imperative der Kultur, die den Menschen einschnüren und verkümmern lassen.

Die Natur wurde zum neuen Ideal. Der Körper und seine Bedürfnisse wurden entdeckt. Das Herz wurde zum Inbegriff des natürlichen Menschen, der sich den Anmaßungen der künstlichen Vernunft widersetzte.

Moralfreie Natur, wie immer sie ist, wurde zur neuen Göttin, die den Gott der Religion, der die Menschheit künstlich in Erwählte und Verworfene teilte, ersetzen sollte. Natur ist regellos, ungezügelt und herrlich echt. Bedürfnisse waren Natur und dadurch geadelt. Böse Leidenschaften konnte es nicht geben. Was unverfälscht aus der Natur des Menschen drang, war gut und wenn es noch so schrecklich war.

Das Herz war Vorläuferin des heutigen Bauchgefühls, das umso ursprünglicher und unverstellter war, je weniger es sich kopfgesteuertem Grübeln hingab.

An dieser Stelle beginnt die Gegenaufklärung, die deutsche Rebellion gegen die verkopfte, abstrakte französische Aufklärung. Der unmoralische Deutsche, der seine traditionelle Unmoral in kühner Setzung zur neuen Moral erhob: das war das embryonale Deutschland, das kaum zwei Jahrhunderte benötigte, um seine Naturmoral zum Prinzip seiner Politik zu machen, die wie ein Sturm über Europa brausen sollte – auch wenn fremde Völker dabei dran glauben mussten.

Als Urprophet der deutschen Gegenaufklärung gilt der Königsberger Theologe und gelegentliche Freund Kants: Johann Georg Hamann, den Goethe bewunderte und den der dänische Philosoph und Theologe Kierkegaard zu seinem Idol erhob. Heidegger wiederum, katholischer Theologe, verdankt seine Gegenaufklärungs-Philosophie den Anregungen Kierkegaards.

Nach Kants Tod hatte die Aufklärung bei den großen deutschen Denkern bis zum heutigen Tage keine Chance mehr. Auch Habermas propagiert in bester Frankfurter Tradition – „Aufklärung ist totalitär“ (Adorno) – die theologische Fundamentierung der Demokratie. Er übernimmt kritiklos das Böckenförde-Diktum, wonach Demokratie ohne göttliche Moral nicht lebensfähig sein kann.

Hamanns Gegenaufklärung bestimmt noch die intellektuelle Grundstimmung unserer medialen Gegenwart. Keine Buch- oder Filmbesprechung ohne den Satz, dass die Künstler der Moral unserer Spießergesellschaft einen Spiegel vorhalten wollten. Der moralischen Kinderfibel soll die ungeschönte amoralische Realität entgegengesetzt werden. Unklar bleibt stets, ob in der ästhetischen Beschreibung des Ist-Zustands der Soll-Zustand inbegriffen ist.

Natürlich nicht, natürlich doch! Auf jeden Fall will man die angebliche Herrschaft der Moral über die Gesellschaft brechen, denn sie führe zu totalitären Verhältnissen. Wer Moral predige, predige gleichzeitig den despotischen Zwang zur Moral.

Übrigens auch bei Isaiah Berlin, dem großen englischen Politologen, der eine Wahrheit ablehnt und viele pluralistische Wahrheiten bevorzugt, damit die eine Wahrheit sich nicht zur Diktatur dieser Wahrheit entwickle.

Hinter dieser Furcht stecken die Erfahrungen der totalitären Systeme, die ihre monopolistischen Wahrheiten zu despotischen Zwangsbeglückungen missbrauchten. Die Angst ist nachvollziehbar, doch sie übersieht die Kleinigkeit, dass es keinen Automatismus gibt zwischen dem Fürwahrhalten einer Idee und der politischen Zwangsbeglückung mit Hilfe dieser Idee.

Sokrates glaubte an die Wahrheit, wäre aber niemals – wie sein Schüler Platon – auf die Idee gekommen, mit dieser Wahrheit anderen Menschen Gewalt anzutun. Im Gegenteil, seine Devise lautete: Unrecht erleiden ist besser als Unrecht tun. Wahrheit musste sich durch Argumente und Erkenntnisse vermitteln, nicht durch Umerziehungslager wie in Platons idealem Staat. Oder gar durch die Guillotine.

Dass man Moral und Wahrheit durch eigenes Denken und freie Selbstbestimmung erwerben kann, durch Dialog und methodisches Streiten, hält der Zeitgeist für einen Scherz. Gegenaufklärer halten nichts von der Macht des vernünftigen Denkens. Vernunft ist für sie eine lächerliche ohnmächtige Instanz.

Wer heute durch süffisante Bemerkungen die Vernunft als Spottgeburt aus Blutleere und logischem Onanieren darstellt, der ist in jedem Salon willkommen. Typisch die Wir-Sätze in Radiodebatten: „Wir mit unserer aufgeklärten Vernunft, unsrer aufgeklärten Moral, sind immer davon überzeugt, dass …“

Doch wie sieht die Wirklichkeit aus? Kommen die Grünen auf die sinnvolle Idee, die tierfeindliche Fleischesserei durch einen vegetarischen Tag einzudämmen, wittern alle Gegenaufklärer das Heraufkommen eines grünen Faschismus.

Für sie ist Moral identisch geworden mit Zwangsmoral. Der neoliberale Freiheitsbegriff ist hingegen die antinomistische Freiheit von aller Moral. Wie Gott nur frei ist, wenn er sich seiner eigenen Moral nicht beugen muss, so seine Gläubigen. Noch immer ist Freiheit der Wilde Westen, wo es kein intaktes Rechtssystem gibt und jeder selbst für sein Recht sorgen muss – mit dem Schiesseisen.

Neoliberalismus ist Selbstjustiz mit der Waffe des militanten Mammons. Der Satz: der Markt löst alle Probleme, ist die Übersetzung des Wilden Westens ins Finanzielle: der eigene Colt löst alle Probleme.

Als junger Mann war Hamann – der „Magus des Nordens“ – ein Anhänger Kants. Doch schnell war er das blutleere Geschwätz von der Vernunft leid und begann das Leben zu preisen, wie es in seinem Herzen pulsierte. Gefühle, Leidenschaften, Bedürfnisse: das wurden seine neuen Götter.

Man muss wissen, dass die zerstückelten deutschen Provinzen im 30-jährigen Krieg kollektiv beinahe gestorben wären. Nur mit Mühe und Not begannen sie nach dem Westfälischen Frieden den politischen Aufstieg. Die Ängste und Nöte der Verelendung bestimmten ihr kärgliches Dasein, das sich erst langsam zu neuem Wohlstand und politischer Sicherheit erhob.

Deutschland musste wieder leben lernen. Da Vernunft französisch sprach, die Hofsprache der deutschen Fürsten und Despoten – konnte das Leben nur in Gegnerschaft zur Vernunft gewonnen werden. Zudem hatte die protestantische Predigt dafür gesorgt, dass die Menschen ihre körperlichen Bedürfnisse und Leidenschaften als Sünden wider den Geist unterdrückt und verfemt hatten.

Just der Theologe Hamann sorgte nun für eine heilsame Kurskorrektur – die sich leider der Feindschaft wider die Vernunft verschrieb, als sei vernünftiges Leben ein freudloses und sinnenfeindliches Leben.

In diesem Zwiespalt leben wir heute noch. Vernunft muss kalt und lebensfeindlich, das Leben rauschhaft und unvernünftig sein. „Etwas ganz Verrücktes machen“, heißt es in jedem deutschen Film, wenn die Protagonisten aus dem freudlosen Alltag ausbrechen und ihr Glück in der Welt suchen wollen.

Für Hamann waren Leidenschaften das Medium, in dem sich die Wirklichkeit der Dinge zeigte. „Nur in dem Puls unserer eigenen Affekte fühlen wir den Pulsschlag der göttlichen Allwirksamkeit.“ Die Sphäre der Affekte und Sinnlichkeit sollte durch Vernunft nicht eingeengt werden. Freud hätte formuliert: wo christliches Über-Ich war, soll irdisches Es werden. Die Triebe des Menschen sind keine Dämonen, sondern das wahre Kapital menschlicher Vitalität, mit dem er wuchern muss, um seine ungeteilte Persönlichkeit zu erfahren.

Einen philosophischen Höhepunkt der Gegenaufklärung erleben wir bei Pfarrersohn Nietzsche, der das Antivernünftige als das Dionysische und Rauschhafte beschrieb:

„Einst hattest du Leidenschaften und nanntest sie böse. Aber jetzt hast du nur noch deine Tugenden: die wuchsen aus deinen Leidenschaften. Du legtest dein höchstes Ziel diesen Leidenschaften ans Herz: da wurden sie deine Tugenden und Freudenschaften. Und ob du aus dem Geschlecht der Jähzornigen wärst oder aus dem der Wollüstigen oder der Glaubenswütigen oder der Rachsüchtigen: am Ende wurden all deine Leidenschaften zu Tugenden und deine Teufel zu Engeln. Einst hattest du wilde Hunde in deinem Keller: aber am Ende verwandelten sie sich zu Vögeln und lieblichen Sängerinnen. Aus deinem Gift braustest du dir deinen Balsam.“

Was hier stattfand, war ein Aufstand gegen den starren Dualismus des christlichen Dogmas: dass Gott auf der einen und der Satan auf der anderen Seite stand. Luthers Vorstellung, dass Gott und Teufel nur verschiedene Seiten derselben Medaille waren, fand hier seine Fortführung. Gott und Teufel, das Gute und Böse, sind identisch und beliebig vertauschbar. Schon Marquis de Sade hatte den Teufel zu Gott erklärt – um Gott zu rehabilitieren.

Damit war die Frage der Theodicee: wozu das Böse in der besten aller Welten? für immer aufgelöst. Das Böse war nicht das Gegenteil des Guten, sondern seine Schubkraft, seine Motivation. Mephisto war ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Damit war Gottes zwiespältige Schöpfung glänzend gerechtfertigt. Die Deutschen konnten keinen Gott ertragen, der sein Werk verpfuscht hätte. „Das Leben, wie es auch sei, es ist gut.“ Damit hatte Goethe dem Bösen den Stachel gezogen.

Justament die Kritiker des christlichen Glaubens segneten den Gott, mit dem sie in der Kirche nichts mehr anfangen konnten. Sie überwanden den Sündenfall und kehrten in den status integritatis des Gartens Eden zurück: und siehe, es war sehr gut.

Die aufmüpfigen Kinder Gottes ertrugen es nicht, dass ihr himmlischer Vater versagt haben könnte. Sie merkten nicht, dass sie ihrem versagenden Vater heidnische Vorstellungen einer integren Natur unterschoben. Die in Sünde gefallene miserable Schöpfung wurde vom vollkommenen griechischen Kosmos ersetzt.

Doch die blendende Idee musste scheitern. Eine vollkommene Natur kann keine sündige und böse Schöpfung ersetzen. Das Böse der alten Schöpfung wurde zum Guten erklärt – und damit als Böses unerkennbar.

Umetikettieren genügt nicht, der Inhalt muss überprüft und verändert werden. Auch Vernunftmoral kennt Schreckliches und Gutes. Die Deutschen begnügten sich mit Austausch der Etikette, sie hätten die Substanz der Moral verändern müssen.

„Die großen Epochen unseres Lebens liegen dort, wo wir den Mut gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen.“ Nietzsches grandiose Umwertung der christlichen Werte wurde zum schrecklichen Motto der Nationalsozialisten.

Wenn das Böse nur umgetauft, aber nicht als Böses entsorgt und entschärft wird, betritt es als Gutes die politische Weltbühne und verleiht seinen Handlangern das gute Gewissen zum schrecklichen Tun.

Die Deutschen taten das Böse, in festem Glauben, das Beste zu tun. Böseres geschah nie.