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Gefährdete Demokratie

Hello, Freunde Binneys und Drakes,

zwei ehemaligen Mitarbeitern der NSA, die vor dem Bundestag die Machenschaften ihrer früheren Arbeitgeber offenlegten.

William Binney war 37 Jahre bei der Späh-Behörde, als er aus Protest gegen grundlegende Rechtsverletzungen der NSA seinen Job hinwarf. Vor dem NSA-Untersuchungsausschuss erklärte er schonungslos: «Die NSA will alle Informationen haben, die sie bekommen kann, und das global», sagt der 71-Jährige. «Die NSA verfolgt einen totalitären Ansatz, den wir sonst nur aus Diktaturen kennen.»“

Sein früherer Kollege Thomas Drake bestätigte die Aussagen Binneys: „Es ist ein sehr hässlicher Weg, auf den sich die NSA begeben hat.“ Der Dienst agiere „ohne Einschränkung, ohne Respekt vor den Gesetzen„. Die Überwachung sei „die größte Bedrohung für unsere Demokratie„. (Konrad Litschko in der TAZ)

Halten wir fest: die Bundesregierung ist verbündet mit einer totalitären Macht, die nicht aus dem Osten kommt. Im Gegensatz zu Putin, der noch ordinäre Panzer auffahren lässt, um imperial tätig zu werden, bevorzugt die erste Demokratie der Welt unsichtbare Methoden, um die Welt in ihren Herrschaftsbereich zu zwingen. Andere Instrumente, dieselben Herrschaftsziele.

Die Bundesregierung wehrt sich nicht gegen diese totalitäre Macht, ja sie kooperiert auf allen Ebenen mit ihr. Nicht zuletzt ist der eigene Bundesnachrichtendienst (BND) einer der engsten Mitarbeiter der amerikanischen Gesetzesbrecher, obgleich – oder weil? – Deutschland das am meisten begehrte Objekt der

transatlantischen Begierde ist.

Somit hat sich die deutsche Regierung selbst in eine totalitäre Behörde verwandelt, die nicht mehr das demokratische Wohl ihrer Wähler verfolgt, sondern sich an der faschistischen Unterdrückung des Volkes beteiligt. Diese Regierung ist zur größten Feindin unserer Verfassung geworden.

In Artikel 20, Absatz 4 des GG ist das Recht und die Pflicht zum Widerstand des Volkes niedergelegt, wenn unsere freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet ist:

„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Jede Abhilfe kann nichts anderes als Widerstand sein, denn es gibt nicht den leisesten Hinweis, als wolle die Regierung ihre totalitäre Verbrüderung a) vor der Öffentlichkeit zugeben und b) mit allen Mitteln revidieren. Im Gegenteil, die erste Empörung über ein abgehörtes Handy ist längst der untertänigen Staatsraison gewichen, den übermächtigen Großen Bruder nicht länger zu reizen. Somit sind alle Voraussetzungen für einen Widerstand auf nationaler Ebene gegeben:

„Voraussetzung ist, dass ein staatliches Organ oder auch ein Privater es unternimmt, die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG verankerte verfassungsrechtliche Ordnung zu beseitigen. Dazu gehören die Grundelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie insbesondere der Katalog der Menschen- und Grundrechte (vor allem der Menschenwürde und damit eng verbunden die persönlichen Freiheitsrechte sowie das Gleichheitsprinzip), das Rechtsstaatsprinzip, das Demokratieprinzip, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verfassungs- und Gesetzesbindung von Legislative, Exekutive und Judikative, das Bundesstaatsprinzip, das Republikprinzip und das Sozialstaatsprinzip.“ (Wiki)

Inzwischen hat die NSA schon in den nächsten Turbogang geschaltet. Wer sich gegen ihre Freiheitsberaubung wehrt, indem er seine Netzaktivitäten verschlüsselt, wird besonders genau unter die Lupe genommen. Widerstand wird bestraft. So geschehen mit dem deutschen Informatik-Studenten Sebastian Hahn, der es wagt, sich mit dem Verschlüsselungsprogramm TOR gegen das permanente Schnüffeln zur Wehr zu setzen. (Ole Reißmann in SPIEGEL Online)

Die NSA geht dazu über, ihre Kritiker als Feinde einzustufen, die einer Sonderbehandlung zugeführt werden. Noch werden in befreundeten Staaten keine Spezialdrohnen zur Ausschaltung hinterlistiger Widerständler eingesetzt. Es kann nicht mehr lange dauern.

Ohnehin geht auf allen nationalen und internationalen Ebenen der Trend zur Aushöhlung der verfassungsrechtlichen Grundlagen unserer Demokratie:

a) Die Freiheitsrechte werden durch internationale Spähorganisationen unterminiert.

b) Das Demokratieprinzip wird ausgehöhlt durch Freihandelsabkommen, die ohne öffentliche Kontrolle ausgemauschelt werden. Anonyme Schiedsgerichte sollen den Streit zwischen Firmengiganten und Staaten abseits aller demokratischen Rechtswege schlichten. Das betrifft nicht nur TTIP, dem überflüssigen Vertrag zwischen Deutschland und Amerika, sondern auch TISA, den Vertrag zwischen Kanada und Deutschland.

Ulrike Herrmann in der TAZ hat das Nötige gesagt:

„Die Geheimniskrämerei passt nicht zur offiziellen Ideologie. Der Freihandel wird stets als die Inkarnation einer Win-win-Situation verkauft. Alle Beteiligen werden profitieren, lautet das Versprechen. Doch wenn nur Segnungen zu erwarten sind – warum muss man dann über sie schweigen? Es passt nicht zu einer Demokratie, dass Verhandlungen vertraulich sind. Der Bundestag schafft sich selbst ab, wenn er diese Geheimniskrämerei weiter zulässt.“

c) Das Prinzip der Volkssouveränität wird durch wachsende Sonderrechte der Industrie und der Kirchen, durch verstärkte Geheimhaltung wichtiger Vorgänge, durch eine mit den Machteliten innig verflochtene Presse, zunehmend ausgehöhlt.

d) Das Prinzip der Gewaltenteilung wird durch globale Allmacht der Wirtschaft, die alles in eigener despotischer Regie entscheiden will, zur Farce verurteilt.

e) Das Sozialstaatsprinzip wird durch ungebremste Kluftenbildung zwischen Reich und Arm, durch unwürdige Sozialsätze und eine patriarchalische Moralüberwachung der Hartz4-Empfänger zur bigotten Symbolpolitik erniedrigt.

Der unheilvolle Einfluss der Kirchen, die von „abstrakten“ staatlichen Gesetzen nichts halten, stattdessen gnadenhaftes, willkürliches Almosengeben und appellative Symbolrituale bevorzugen, verstärkt den Einfluss jener, die den Staat immer mehr aus dem sozialen Bereich abdrängen wollen. (Sloterdijk)

Indem die Demokratie zum Staat dämonisiert wird, glaubt man sich im augustinischen Deutschland berechtigt, ihn als „Räuberhorde“ und aus dem Abyssus aufgestiegene „Höllenmaschine“ diffamieren zu dürfen. (Ex-Bischof Huber: „Was, der Staat fühlt sich befugt, unsere Kinder zu erziehen?“)

Man zielt auf den Staat – und meint die Demokratie. Wirtschaft und Kirchen handeln Hand in Hand, um dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist: Saures.

Nicht nur die ökonomischen und klerikalen Eliten werden zusehends allergisch gegen Demokratie, ihre servilen Diener aus der Wissenschaft – Soziologen, Politologen und Philosophen – faseln immer mehr von der Notwendigkeit, Demokratie Demokratie sein zu lassen und zu post-demokratischen Verhältnissen überzugehen.

Postdemokratisch ist ein Verschleierungswort für demokratie-feindlich. Begründet wird die wachsende Abneigung gegen Demokratie mit dem Hinweis auf wirtschaftlich potente Staaten wie China, die dem Westen bald die Alphaposition abjagen könnten.

Die Macht globalisierter Eliten soll die Selbstbestimmung der Völker offiziell ablösen. Inoffiziell hatten die Völker auch in den besten Demokratien noch nie eine Chance gegen die wie Pech und Schwefel zusammengebackenen Plutokraten.

Auch in den Medien wächst die Neigung, schamlos die Forderung nach Einschränkung der Demokratien zu stellen. In wirtschaftlichen Belangen kann uns das nicht mehr überraschen. Hier ein Leitartikel von Melvyn Kraus in der FTD:

„Es ist schließlich die Demokratie, die schmerzhafte, aber nötige Reformen im Süden der Euro-Zone verhindert. Es liegt auch an der Demokratie, dass es zu einer erheblichen Unterfinanzierung des europäischen Rettungsschirms kommen konnte und dass dringend notwendige Transferzahlungen des Nordens an den Süden auf einem Minimum gehalten werden. So groß die Ironie erscheinen mag, die „Wiege der Demokratie“ braucht jetzt weniger Demokratie und mehr Reformen.“ (Zitiert aus dem bemerkenswerten Artikel „Weniger Demokratie wagen“ von Tomasz Konicz in TELEPOLIS)

Die WELT schwappt über von Artikeln, die dringend weniger Demokratie fordern. Andernfalls wir Gefahr laufen würden, auf der Jakobsleiter der Tüchtigen ganz nach unten abzurutschen.

„Wir sollten lieber weniger Demokratie wagen“ von Henryk M. Broder

„Weniger Demokratie wagen ist das Gebot der Stunde“ von Cora Stephan

Das Buch zum Thema darf nicht fehlen: „Weniger Demokratie wagen: Wie Wirtschaft und Politik wieder handlungsfähig werden“.

Wenn die Mehrheit der „Verantwortungs- und Leistungsträger“ hysterisch einem Götzen hinterläuft, darf DER SPIEGEL nicht abseits stehen:

Das Elend der Schulen sieht Jan Friedmann im allzu großen und wichtigtuerischen Einfluss der Eltern begründet. Ständig fordern überehrgeizige Eltern für ihre überstrebsamen Bälger neue Reformen in der Schule. Da gehe die ruhige Kontinuität des Lernens verloren.

Interessant, dass Eltern in ihrem Beruf sich von niemandem an Karriereeifer übertreffen lassen sollen, doch für ihre Kinder sollen die gegensätzlichen Werte des Laufenlassens gelten. Auch hier ist der Mandeville‘sche Dualismus am Werk: private, kindliche Tugenden gegen erwachsene öffentliche Laster – und vive versa.

Sterile Aufgeregtheit war schon immer die Eigenschaft derer, die noch nichts sind, aber etwas werden wollen. Früher waren das die übererregten Studenten der 68er-Bewegung, heute sind es die Eltern jener Kinder, die mit 21 ihren Doktor haben, mit 23 den zweiten Abschluss in Management und Zocken, mit 25 das erste Startup-Unternehmen, mit 30 das geniale Unternehmen für eine Milliarde an Google verkaufen – und sich mit 35 eine Kugel durch den Kopf jagen.

Eltern, haltet euch raus aus Dingen, von denen ihr nichts versteht. Dazu gehört nicht nur Bildung, sondern letztlich die ganze Demokratie. Hyperaktive Eltern verhindern die notwendige Versachlichung der Debatte:

„Bundesweit wird deutlich, dass die Bildungspolitik viel Kraft damit vergeudet, den Eltern immer neue Optionen und Erleichterungen anzubieten – Kraft, die für andere Aufgaben fehlt. Mama und Papa wollen ihr Kind aufs Gymnasium schicken, auch ohne entsprechende Übergangsempfehlung der Grundschullehrer? Gern. Es fühlt sich dort gestresst? Dann reduzieren wir Stundenzahl und Hausaufgaben. Und darf es bei der Schuldauer ein bisschen mehr sein? Auch das ist möglich.“ (Jan Friedmann in SPIEGEL Online)

Im Bereich des Shitstorms können wir Ähnliches verfolgen. Die etablierten Medien, desorientiert ob der neuen Möglichkeiten des Plebs, fast zeitgleich zu Ereignissen diese im Netz zu kommentieren, würden den Shitstorm am liebsten verbieten. Da dies schlecht geht, werden die Edelschreiber nicht müde, den üblen und verleumderischen Ruch der Meute zu diffamieren.

In der von allen Staaten der Welt schändlich vernachlässigten Ökopolitik kann es noch am wenigsten verwundern, dass ungeduldige Forscher das demokratische Spiel ablehnen und nach autoritären Regierungsformen rufen:

„Führende naturwissenschaftlich orientierte Klimaforscher betonen, die Menschheit stehe an einem Scheideweg. Das ökonomische und politische Weitermachen führe in die Katastrophe. Um eine global nachhaltige Lebensweise zu realisieren, bräuchten wir umgehend eine „große Transformation“, fordert etwa Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung.

„Wir benötigen eine autoritäre Regierungsform, um den Konsens der Wissenschaft zur Treibhausgasemissionen zu implementieren,“ fordern einflussreiche Ökologen.

„Der bekannte Klimaforscher James Hansen fügt ebenso resigniert wie ungenau hinzu, dass im Fall der Klimaveränderung der demokratische Prozess nicht funktioniere.

„In „The Vanishing Face of Gaia“ wiederum schreibt James Lovelock, dass wir die Demokratie aufgeben müssten, um den Herausforderungen der Klimaveränderungen gerecht zu werden. Wir befänden uns in einer Art Kriegszustand. Um die Welt ihrer Lethargie zu entreißen, sei eine auf die globale Erwärmung gemünzte „Nichts als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“-Rede dringend geboten.“ (Aus SPIEGEL Online)

Ein führender Wissenschaftler lehnt inzwischen jeden demokratischen Einfluss auf den Gang der Naturwissenschaften ab:

„Scharfe Kritik an einer „Demokratisierung der Wissenschaft“ hat der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), Günter Stock, geübt. Es gebe sowohl in Deutschland als auch über EU-Gremien in Brüssel die Tendenz, dass „Partikularinteressen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen“ zunehmend die Forschung beeinflussten, sagte Stock am Wochenende.“ Den Einfluss außerwissenschaftlicher Gruppen vergleicht Stock mit der nationalsozialistischen Wissenschaftssteuerung. (Manfred Ronzheimer in der TAZ)

Noch in den 90er-Jahren hatte Francis Fukuyama das Modell Demokratie als das paradigmatische Staatsmodell der Gegenwart gerühmt. Der Siegeszug der Volksherrschaft sei nicht mehr aufzuhalten, Kriege zwischen Demokratien nicht mehr vorstellbar. Das glückliche Ende der Geschichte sei gekommen.

So kann man sich täuschen. In weniger als zwanzig Jahren drehte sich die Hauptachse der globalen Entwicklung, das Ansehen der Demokratie schmolz wie Schnee an der Sonne. Es gehört zum koketten Ton jedes besseren Salons, so nebenbei fallen zu lassen: Demokratie wird leicht überschätzt. Gibt’s nichts Besseres im Angebot?

Bevor jemand den Zeigefinger heben kann, wir sollten aus der Geschichte lernen, wie schnell man eine Demokratie ruinieren könne, stellen sich rechtzeitig Historiker ein, die uns weismachen, dass der Mensch aus der Geschichte nichts lernen kann. Er solle es gar nicht probieren.

Die Demokratie ist weltweit gefährdet. So genannte Sachzwänge und ökonomisches Konkurrenzverhalten sind auf die Dauer unverträglich mit dem Gequassel der Vielzuvielen, mit nicht enden wollenden Entscheidungsprozeduren der Basis oder gewählter Abgeordneter.

Der bislang führende Westen fürchtet um seine Spitzenstellung im ökonomischen Wettbewerb mit nichtdemokratischen Staaten, bei denen es heißt: der Parteitag sprach, es werde Licht, und also ward Licht.

Mit solch diktatorischen Geschwindigkeiten können selbstbewusste Demokratien nicht mithalten. Also weg mit ihnen, entsorgt sie auf dem Müll gescheiterter evolutionärer Entwürfe. War gut gemeint, doch nichts Schlimmeres als das Gutgemeinte.

In der Tat, was gut gemeint ist, kann leicht ins Gegenteil kippen. Doch was schlecht gemeint ist, wird mit Sicherheit schlecht.

Wenn Demokratie gefährdet ist, heißt es Widerstand leisten. Schon einmal haben Deutsche die Demokratie vermasselt.

Haben wir aus der Geschichte gelernt, meine Geschwister?

Natürlich haben wir aus der Geschichte gelernt. Auf die Straßen!

Ah! ça ira, ça ira, ça ira,

Die Wirtschaftstyrannei wird ihren Geist aushauchen

Die Freiheit wird triumphieren,
Ah, wir werden es schaffen,
Es gibt weder Tycoons noch Priester mehr,
Ah, wir werden es schaffen,
Die Gleichheit wird überall herrschen.