Kategorien
Tagesmail

Freitag, 24. Februar 2012 – Ich und Wir

Hello, Freunde Montis,

der schlichte, sachorientierte Professor Monti rettet Italien. Während sein Vorgänger am Samstag möglicherweise von einem Gericht verurteilt wird, hat Monti effiziente „neutrale“ Experten in seine Übergangsregierung aufgenommen, die binnen dreier Monate das Land auf eine Hoffnungsspur setzten.

Sie scheinen zu schaffen, was den Griechen schwer zu gelingen scheint. Doch Montis Regierung ist nicht gewählt, sie ist vom italienischen Staatspräsidenten Napolitano eingesetzt und ernannt. Noch haben die Parteien die Krallen eingefahren und lassen Monti gewähren.

Doch zu welchem Preis? „Das demokratische Vakuum, in dem sich Monti bewegt, wird täglich größer“, schreibt die BZ/FR. Das Vakuum sollten die desolaten Parteien nutzen, um sich „umfassend zu erneuern“. Doch das Gegenteil geschehe: Italiens Parteien versänken in völliger Bedeutungslosigkeit.

Es fehle an jungen Gesichtern, an überzeugenden Programmen. „La casta“, eine Klasse von Politgreisen, dächte nicht daran, von ihren Privilegien zu lassen und sich zu reformieren. Spätestens

im Frühjahr 2013 müsste neu gewählt werden. Monti will dann nicht länger zur Verfügung stehen.

Bei Bürgermeisterwahlen in Neapel und Mailand hatten unabhängige, integre Kandidaten gezeigt, dass man den Parteien sehr wohl Paroli bieten kann. Italiens zwei Gesichter: der Norden und der Süden.

Die Kaste wird sich nicht erneuern, wenn die Bevölkerung sich nicht erneuert, sich vom Berlusconismus löst und zu neuen Ufern ausbricht: zu demokratischen.

Jedes Volk hat die Regierung und die Parteien, die es verdient. Es hat sich in deutschen Medien das verhängnisvolle patriarchalische Feingefühl herausgebildet, das Volk – den Wähler – stets zu schonen und vor Kritik zu schützen.

Das ist komplette Entmündigung, das Volk wird nicht ernst genommen, von ihm wird nichts erwartet. Aller Augen schauen nach oben, woher uns Hilfe kommen soll.

Deutschland hat Demokratie noch nicht verstanden. Hier herrscht noch keine Bunga-Bunga-Casta – bei Wulff wurden erste Toscana-Elemente in unbeholfenem Schrumpfformat gesichtet –, hier herrscht die „altpreußische“ Aristokratie einer platonischen Weisenkaste, die alles nur von sich selbst erwartet und den Souverän als amorphe und vormoralische Verhandlungsmasse betrachtet. Alles für das Volk, nichts durch das Volk.

Der Alte Fritz, Hand in Hand mit dem Alten Immanuel, dem Alten Johann Wolfgang, dem Alten Friedrich, dem Alten Georg Wilhelm Friedrich, dem jüngeren Friedrich (allein schon diese Überhangmandate all dieser friedensarmen Friedriche und Fritzen!): sie wabern alle noch mit ihrer Volksverachtung durchs deutsche Volk.

Schon gut, wir sind das Volk. Nur, wo bleibt es, das Volk, wenn diejenigen, die sich nicht dazu zählen, ihre altpreußischen Tugenden, die sie nie hatten, an der Garderobe abgeben und plötzlich entdecken, dass sie das Volk schon immer als „populistische Spielmasse“, als zu erziehende Objekte, als verweichlichte, degenerierte, träge Hängemattenbesitzer behandelten? Schon mal die Namen Gerhard Schröder und Wolfgang Clement gehört?

Auch Deutschland hat zwei Gesichter. Da ist Kohl, der kein Wort zu Solingen, Mölln und Rostock aufbrachte, ja den „Mitleidstourismus“ verhöhnte, da ist Merkel, die bei den Opfern der Neonazis um Verzeihung bittet. Wenn auch erst auf Druck und ohne konkrete Folgen.

Durch die Unfähigkeit zu solidarischer Kritik hat man Griechenland vor die Hunde gehen lassen, so lässt man Israel vor die Hunde gehen. Kritik ist für Inländer das Vorspiel zum Kannibalismus. Deswegen verstehen sie nichts von Demokratie, weil sie nichts von Kritik verstehen.

Der Staat habe versagt, der Staat. So klingen, wenn überhaupt, die Reden der – Staatsdiener. Sie sind die ersten Diener des Staates. Sie bedienen uns, dass uns schon schwarz vor Augen wird. Danke, wir sind bedient. Entfernt euch unauffällig, ihr Minister und Ministranten, wir können selber Demokratie. Zumindest auf dem Papier.

Habt ihr schon mal gesehen, wie sie Verantwortung ablegen? Da gibt’s einen Platzregen voller Schuld, Scham, Vergeben und Verzeihen, möglichst in ökumenischer Allparteienweihe. Ergebnis? Gleich Null. Schön, dass wir drüber gesprochen, gar ein Tränchen vergossen haben. Da jauchzt jede Kamera.

Wie selbstkritisch, wie vorbildlich: wie anmaßend. Wenn der Staat versagt hat, hat das Volk versagt, das zugesehen hat, wie ihr Staat versagt hat. Volk, du verdammte Kanaille, werde endlich schuldfähig, werde selbstkritisch. Geht mir weg mit der neuen Ikone der Medien, der pastoralen Tremoloverantwortung. Kennt ihr die Satzbezeichnungen der Beethoven’schen Pastorale? Dann kennt ihr auch den Inhalt der Verantwortung:

1. Satz: Erwachen heiterer, auf jeden Fall echter, am besten authentischer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande und vor dem schmucken Landkirchlein.

2. Szene am Bach, es darf geheult werden.

3. Lustiges Zusammensein der Landleute nach der würdigen Feier beim kalten Büfett der Nachfeier.

4. Sturm und Gewitter. Das neoliberale Leben geht weiter wie bisher. Nichts hat sich verändert.

5. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm: fällt aus wegen Utopieverdacht.

 

Wir müssen wieder streiten lernen. Wir müssen Haftung übernehmen, Rechenschaft ablegen, Rede und Antwort stehen.

Wir bräuchten den neuen Mann in Bellevue, schrieb neulich ein wohl völlig vereinsamter und isolierter Kommentator, weil man mit Ihm so herrlich streiten könne. Da will ich gar nicht wissen, wie es in so genannten Redaktionen zugeht.

Wenn schon eine harmlose Frage auf einer x-beliebigen Party bei einem wildfremden Menschen eine misstrauische Miene hervorruft: was will der von mir?, dann hat man einen kleinen Eindruck von der Ausrottung der Streitkultur in unserer Gesellschaft erhalten, mit freundlicher Unterstützung des Neoliberalismus.

Neoliberalismus ist so ne Art grassierende Vogelgrippe oder Kollektivhysterie des Westens, die sich nur noch durch selbstgeißelndes Malochen, durch Selbstritzen der Seele und des Großhirns das Gefühl geben kann, gerade noch am Leben zu sein.

Im Malocherbusiness wirst du gerufen und angerufen. Von deinem Chef nämlich. Rund um die Uhr musst du anrufbereit sein. Rufbereitschaft gehört selbstverständlich nicht zur Arbeitszeit und wird auch nicht bezahlt. Schließlich ist es eine Ehre, denen anzugehören, die stets angerufen werden dürfen.

Wenn du diesen Scheitelpunkt deiner Karriere erreicht hast, hast du fast alles erreicht. Harret in Geduld, denn niemand weiß die Stunde, wann der Herr anruft oder persönlich vorbeikommt (siehe So, wie ein Christ immer im Dienst ist und auf den Ruf von oben zu warten hat, so der rufbereite Hörsklave des Kapitalismus. Für Deutsche nichts Neues, denn sie hatten noch nie Berufe, sondern himmlische Berufungen.

Natürlich heißt es heute nicht mehr: Jeder bleibe in seinem Stand, in den Gott ihn berufen hat. Das wäre der Tod aller Flexibilisierung und Mobilisierung. Sondern die neue angelsächsische Deutung heißt: Jeder bleibe auf dem Kontostand, auf den ihn Gott berufen hat – mit freier Entwicklung nach oben.

Das ist nämlich der verführerische Kern der westlichen Freiheit: die freie Entwicklung deines Kontostands. Ein Konto ist auch nur ein Mensch, zu dem man gut sein muss. Man muss es hegen und pflegen, für unbegrenzt entwicklungsfähig halten und es schon mal in der Kita für besonders Begabte anmelden. Heute schon mit deinem Konto gesprochen? Kein Wunder, dass es armselig vor sich hin darbt, wenn du es kontopädagogisch derart vernachlässigst.

In Amerika soll es juristisch möglich sein, dass Dinge und Sachen, ein Betrieb zum Beispiel, in bestimmter Hinsicht dieselben Rechte besitzen wie ein Mensch. Auch ich habe das Recht zu existieren, kann eine Fabrik sagen, wenn Umweltschützer frech werden und sie an weiterem Gifteschleudern hindern wollten. Das ist der Höhepunkt missionarischer Infiltration der schnöden materiellen Welt mit christlichem Geist. Ob ein solcher Betrieb mit Seele auch unsterblich ist und in den Himmel kommen kann, hat das oberste neokapitalistisch-theologische Konzil noch nicht entschieden.

Wir müssen lernen, die richtigen Fragen zu stellen und Wert darauf zu legen, die genauen Antworten zu erhalten. Nicht nur von Elitengockeln mit Dauerhandy am Ohr, sondern, richtig, vom Volk, das rein zufällig mit uns verbrüdert, verschwestert und verschwägert ist. Alles klar auf der Andrea Doria?

Wie lautet die Gewerkschaftsdefinition des Kapitalismus? Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert. Vollkommen richtig, aber ungenau. Man müsste von der Ver-Ich-ung der Gewinne und der Ver-Wir-ung der Verluste sprechen. Wer’s lateinisch haben will, von Egoisierung und Nostraisierung (woher bekanntlich cosa nostra kommt, die einzige Brüderschaft der westlichen Welt, die zusammenhält wie Pech und Schwefel).

Das betrifft nicht nur materielle Vorgänge, sondern alles, was man in der Gesellschaft mit Lob und Tadel versehen kann. Solange unser tolles Land prosperiert und es allen gut geht, solange ist dies das Verdienst von Merkel & Ackermann. Kommen aber düstere Zeiten über unsere Gesellschaft, bleiben Merkel – und wir.

Die Ver-wir-ung der Schuld wäre ganz in Ordnung, ja absolut notwendig, wenn Wir nicht nur bei Schuld und Sühne, sondern auch beim gemeinsamen Profit beteiligt wären.

Ich-Stärke ist die Fähigkeit, Ich zu sagen. Das war eine der Hauptbotschaften der 68er. Aus Ich-Stärke ist längst ein Ich-Fluch geworden, denn jeder blonde und blauäugige Bätscheler sagt in RTL beim Massenpoussieren pausenlos ICH. Schuld an der Verwirrung ist aber nicht RTLs Casanova, sondern der ehrwürdige Individualismus des modernen Liberalismus.

Adam Smiths Botschaft könnte man etwa so formulieren: wenn jeder für sein Ich sorgt, ist bereits für alle Wir gesorgt. Das klingt verdächtig nach FDP, womit ich nicht gesagt haben will, dass alle FDP-Mitglieder den Namen Adam Smith gehört haben müssen.

Ganz sicher kann der gelehrte Schotte seiner Sache nicht gewesen sein, sonst hätte er nicht die Unsichtbare Hand aus dem Zylinder gezaubert, eine Art Heiner Geißler, der bei Unstimmigkeiten zwischen den Ichs und dem gesellschaftlichen Wir vermitteln muss.

Die Summe aller Ichs ist noch lange nicht Wir. Das weiß jeder Hohlkopf, sonst gäb’s ja keine Probleme auf dieser Welt. Die Unsichtbare Hand muss nun genau so scheitern wie der tapfere Heiner, der seinen Schiedsspruch trotzig vom Papier las, doch die Bahn drehte ihm bekanntlich eine Nase und macht inzwischen, was sie will. Wo liegt der Haken? Da müssen wir un peu tiefer graben.

Das neuzeitliche Ich war eine Absage an das klerikal verordnete Wir. Adam Smith konnte die angebliche Wir-Liebe – traditionell Nächstenliebe genannt – nicht leiden. Ja, er hasste sie.

Um Gottes willen, Adam: warum denn nur? Ist Nächstenliebe denn nicht das Feinste und Beste auf dem Markt der Moral, pardon, der Ethik, wie der Zukunftsforscher Horx zu sagen pflegt, wenn er seine Moral meint, im Gegensatz zur niederen Moral seiner dauernörgelnden Gegner?

Adam war belesener Historiker und kannte die Praxis der nächstenliebenden Kirche, die er zutiefst verabscheute, sofern ein Gentleman zur Abscheu überhaupt fähig ist. Unter Kirche verstand er nicht die vielen kleinen protestantischen Freikirchen – abschätzig immer Sekten genannt, damit jeder sofort weiß, dass hier eine Ketzerei vorliegt –, sondern vor allem den Papismus.

Unter dem Mantel der Nächstenliebe gelang es dem Vatikan, fast ein Drittel des europäischen Grund und Bodens einzuheimsen und zu einer der reichsten Organisationen im Universum zu werden. (Noch heute gehört die Hälfte Freiburgs dem Katholizismus, weshalb OB Salomon und Erzbischof Zollitsch sich prächtig verstehen. Wer’s nicht glaubt, rufe im Grundbuchamt an.)

Ist das nicht paradox? Müsste man nicht erwarten, dass eine nächstenliebende Organisation uneigennützig alle Reichtümer mit den Armen teilt? Na sagen wir, die Hälfte? Heißt es denn nicht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst? Also mindestens fifty-fifty?

Tja, wer so denkt, denkt logisch, doch Logik mögen die Klerikalen nur, wenn sie zu ihren Gunsten ausfällt. Wenn nicht, müssen listige Deuter (Hermeneutiker oder Exegeten) ans Werk und solange den Buchstaben quälen, bis er allen Widerstand aufgibt.

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, wurde solange gedeutet, bis jeder normale Christ – man mache selbst das Experiment mit seinem Etagennachbarn – darunter versteht: Liebe deinen Nächsten mehr als dich selbst.

Aus dem Gleichgewicht von Ich und DU oder Ich und Wir wurde ein Ungleichgewicht zugunsten des Du oder Wir. Das sündige Ich war kastriert. Das heutige überdimensionale Ich ist die Reaktionsbewegung auf das vom Klerus dauerhaft beschädigte Ich.

Bekanntlich schütten alle Reaktionsbewegungen das Kind mit dem Bade aus. Der untergründige Hass auf die verordnete Nächstenliebe der Kanzlerprediger muss immer noch so groß sein, dass wir heute in einem Ich-Tsunami ersaufen.

Hinzu kommt der Heilsegoismus des Calvinismus, der nur für das eigene Ego-Heil sorgen kann und die Ichs seiner liebsten Familie außen vor lassen muss. Ja, er muss gegen die eigene Mutter und Schwester ankämpfen, damit er einen der wenigen Sessel im Himmelreich für sich ergattern kann (siehe

Der Trick der Papisten lag nun darin, dass sie sich als Nächste in die offene Gleichung einsetzten, wenn sie den Leuten – besonders auf dem Sterbebett – praktische Nächstenliebe verordneten, damit letztere ihr Äckerlein oder ganze Ländereien per Schenkung und Testament an den Bischof vermachten – um selig zu werden. Seligkeit gegen Cash, bekanntlich Ablasshandel genannt.

Was machte die Kirche mit ihrem wachsenden Reichtum? Nein, sie vergaben keine zinsgünstigen Darlehen an Ich-AGs, um der nationalen Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Sie strich alles für sich ein, kaufte die Lebensmittel der Bauern, um riesige Bettlerhorden aus dem Boden zu stampfen und zu ernähren, die ein Leben lang von ihrer Alimentierung abhängig blieben und zu Reservearmeen der Kirchen wurden, die sie nach Belieben dorthin kommandierten, wo sie ihre politischen Interessen durchdrücken wollten.

Mit Hilfe dieser Agape wurde die Kirche zur mächtigsten Institution des Mittelalters, unterdrückte alle Gegner, verbot das freie Denken und wurde zum christlichen Ajatollastaat in Vollendung. Dass der Vatikan sich um das Aufblühen einer freien Wirtschaft nicht die Bohne kümmerte, muss ich nicht mehr erwähnen.

Das war der Grund, warum der englische Liberalismus das Wir als kollektive Despotie verachtete und nur noch auf das Ich setzte.

Da Adam Smith humanistischer Aufklärer war und sehr wohl das Zoon politicon schätzte, machte er einen Kompromiss, betonte zwar das Ich, wollte aber den Ausgleich mit dem Wir. Wenn jeder am besten für sich selbst sorgt, ist auch am besten für die Gemeinschaft gesorgt.

Heute wissen wir, wie dieser Kompromiss sich in der Welt realisierte. Er blieb gut gemeinter Traum, der immer mehr zum Alptraum wird. Denn die Unsichtbare Hand hatte ihren Geist aufgegeben, bevor sie je gesichtet ward.

Gelegentlich sprachen die naiven Aufklärer vom wohlverstandenen Eigennutz, worunter sie den Ausgleich zwischen Ich und Du, Ich und Wir verstanden. Wer rational egoistisch ist, muss rational altruistisch sein, denn sein Wohl hängt von dem der Gesellschaft ab.

Was in dieser Rechnung nicht vorkommt, ist das Element der Macht, die nach oben unbegrenzt ist. Wer reich geworden ist, ist auch mächtig geworden. Er kann zunehmend Einfluss auf die Politik nehmen, um seinen Reichtum per Menschengesetz als Produkt objektiver Naturgesetze auszugeben.

Mit diesem Geniestreich konnte er niemals am fremdem Elend schuldig sein oder hätte wegen seines Reichtums ein schlechtes Gewissen haben müssen. Es gab keine Pflicht mehr, für ständigen Ausgleich zwischen Ich und Wir, Individuum und Gesellschaft, dem Einzelnen und dem Kollektiv zu sorgen.

Die Gesellschaft war ein getreues Abbild der Natur geworden. Wer hätte hier eine Gerechtigkeit contra naturam fordern dürfen?

Die Reichen setzten ihre Macht ein, um den Staat zu ihrer Beute zu machen und die Schere als Göttin Moira im Olymp der Moderne einzusetzen. Seitdem heißt es in unerbittlicher Permanenz: die Schere zwischen reich und arm, mächtig und ohnmächtig wird immer größer. Indeed, die Schere tut den Job, der für sie erfunden wurde.

Doch worauf wollte ich hinaus? Ach so, auf Arno Widmann, der in seinem heutigen Kommentar vorbildlich vom Wir spricht.

Es geht um das kollektive Wir – der Schuld. Na klar, Schuld liegt überm Land. Da soll man nicht kleinlich sein und dem Verfassungsschutz vorwerfen, er habe die Neonazis unterschätzt oder gar nicht richtig verfolgt, weil sie Ramelow und Gysi zu observieren hatten.

Oder war’s die Polizei, die Politik? Nein, es waren nicht die andern, sondern Wir. Das ist kein Pluralis majestaticus, sondern ein Wir der Demut und der Schuld (Pluralis culpae).

Geht das nicht in Ordnung? Auf jeden Fall – wenn nur klare Folgerungen daraus gezogen werden würden. Genau die aber hat Arno so vergessen wie unsere tugendhaft sprechende Mutter Merkel.

Reue ohne Werke ist sinnlose Reue. Brumlik hat Konsequenzen genannt, die jetzt folgen müssten, um dem Fremdenhass wirklich zu begegnen.

Wenn das Wir nur benutzt wird, um konkrete Fehlleistungen zu vernebeln, sind wir kein Jota weiter gekommen. Ein Wir ohne Ich, Du, Er, Sie, Ihr oder Sie ist ein Plural leerer Unzuständigkeit, moralischer Flucht in Anonymität und mangelnder Rechenschaftsfähigkeit.

Wer nur Wir sagt, um nicht Ross und Reiter zu nennen, hat weder Ich noch Wir gesagt. Er hat das aufgeblasene Ich durch das hohle Wir ersetzt.