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Tagesmail

Freitag, 22. Juni 2012 – Schuld und Einsicht

Hello, Freunde der norwegischen Opfer,

„Breivik schrumpft im Scheinwerferlicht“. Wenn Journalisten keine Wahrnehmungen haben, greifen sie zu Bewertungen, die wie Beobachtungen daherkommen. Das Monster schrumpft: wer hat Breivik denn zum Herrenmenschen gebläht? Sollte es einen solchen gegeben haben, müsste er genannt werden.

Zum Beobachten gehört präzises Benennen. Benennen ist nicht Denunzieren, wir leben nicht im Intrigantentstadl. Was einer geredet und getan hat, dafür muss er auf dem Forum grade stehen.

Stattdessen hören wir immer öfter, Namen wollen wir hier keine nennen. Wer nicht weiß, um wen es geht, gehört nicht zu den Eingeweihten. Die Medien vertiefen den Graben zwischen Wissenden und Unwissenden, anstatt ihn zu überbrücken. Der Prozess gegen den Massenmörder sei vorbildlich geführt worden, schreibt Annette Ramelsberger in der SZ.

Der Prozess habe sich nicht damit begnügt, Licht auf „einzelne strafbare Handlungen“ zu werfen. Er sollte die „fließende Ganzheit des Lebens“ erforschen.

In der Tat, das Außerordentliche erklärt nicht das Leben, das Leben erklärt das Außerordentliche. Wenn das so ist, ist die Frage

beantwortet, ob der Täter schuldfähig ist oder psychisch krank: der Antagonismus von Schuld und Krankheit ist falsch.

A) Ist der Täter krank, muss die Gesellschaft kollektiv oder partiell krank gesprochen werden. Denn Krankheiten fallen nicht vom Himmel, sie sind auch nicht angeboren wie die Erbsünde.

Ist die Gesellschaft krank, muss sie die Schuld auf sich nehmen, indem sie den Täter zu ihrem primären Opfer erklärt, der andere Menschen zu weiteren Opfern machen muss. Dies ist der Fluch der kranken Tat, dass sie Krankes fortzeugend muss gebären. Eine kranke – oder „böse“ – Gesellschaft gebiert unaufhörlich Opfer, die Opfer machen müssen, um sich selbst vom Opfersein zu entlasten, indem sie zu Tätern werden.

Indem sie Täter sein wollen, simulieren sie ein Selbstbewusstsein, das sie sich auf „normalem und gesundem“ Wege nicht aneignen konnten. Ist Breivik primäres Opfer, muss auch ihm seine Würde zurückgegeben werden: indem man ihm die verruchte Täteraura nimmt und seine biografisch zu verstehende, aber verhängnisvolle Opferrolle zurückgibt.

Gesellschaftliche Krankheiten sind wie pandemische Viren. Alle werden befallen, die Stärksten überleben, die Schwächsten krepieren, weil sie durch ihre nächste Umgebung, Familie und Schicht nicht hinreichend immunisiert wurden. „Gesunde Familien“ können ihre Mitglieder am besten schützen, „kranke“ Familien sind selbst Opfer der krankmachenden Gesellschaft, oft über Generationen und Jahrhunderte hinweg.

Die Fragen nach Herkunft der gesellschaftlichen Krankheit müssten Historiker, Medizin- und Psychohistoriker erforschen und beantworten. Was sie natürlich nicht tun, denn Begriffe wie Normalität oder Gesundheit, abweichendes Verhalten oder Krankheit, fallen nicht in ihre Disziplin, sagen sie. Das überlassen sie Psychologen und Psychiatern – die solche Fragen auch nicht stellen, denn sie sind keine Historiker.

Sie alle sind Wissenschaftler, und Wissenschaftler sind neutrale und beobachtende Wesen, keine Bewerter und Beurteiler – sagen sie. Selbst die grausamsten Vorgänge der Geschichte entziehen sie immer mehr der Bewertung, was Fachleute Historisieren nennen. Ist es nicht sinnlos und trivial – so fragen sie –, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgungen, Ketzerverbrennungen und den Holocaust nach heutigen Moralvorstellungen zu bewerten? Solche Vorgänge müssten historisch, also aus ihrer Zeit heraus, verstanden werden.

Verstanden werden schon, aber nicht beurteilt werden. Beurteilen und Verstehen sind nicht identisch. Wer Kreuzzüge nicht aus der Perspektive heutiger Menschenrechte beurteilt, hat sie sehr wohl beurteilt: er hat sie abgesegnet. Die wissenschaftlich sein wollende Urteilsenthaltsamkeit ist eine Beurteilung, sie schließt ihren Frieden mit allen Übeln dieser Welt.

Voraussetzung der Gesundung einer Gesellschaft wäre eine allgemeine Verständigung darüber, welche Phänomene als krank und welche als gesund gelten sollen. Eine solche Selbstverständigung herbeizuführen, ist keine westliche Gesellschaft bereit, die deutsche schon gar nicht. Denn Begriffe wie Gesundheit und Krankheit erinnern an das kranke, lebensunwerte Leben, das die Nationalsozialisten im Namen völkischer Gesundheit ausrotten wollten.

Einerseits darf über Gesundheit und Krankheit im politischen Sinn nicht gesprochen werden, andererseits gelten Ausgebrannte und Übergewichtige als Risikofaktoren, weil sie Krankenkassen und Betriebe wegen mangelnder Arbeitsfähigkeit übermäßig belasten. Wer nicht fit ist wie ein Turnschuh, ist Volksschädling, pardon, so sagte man früher, der ist unverantwortlicher Schmarotzer.

Die Strafe als Selektion erfolgt prompt: die Fitten übernehmen das Kommando und kassieren ab, die Ausgebrannten, Ausgepumpten und Arbeitsunfähigen werden aussortiert. Es gibt also sehr wohl eine Kaste der Gesunden und der Kranken, allerdings unter dem Etikett der Erfolgreichen und Loser.

In der NS-Gesellschaft wurde Gesundheit auf körperlich-soldatische Tüchtigkeit  reduziert, der Geist blieb Anhängsel des Leibes: in einem gesunden Körper ist auch ein gesunder Geist.

Heute lautet der Spruch: den Fitten gehört die Welt, sie sollen reich und einflussreich sein. Die Abgehängten sind noch nicht mal krank – Kranke könnten gesund werden, man müsste den Krankheitsursachen auf die Schliche kommen –, sie sind unheilbar faul oder böse. Die Faulen in Hartz4, die Bösen in den Knast.

Wenn man nicht mehr weiter weiß im Erklären gesellschaftlicher Missstände, zieht man die Notbremse und übergibt die Problemfälle dem Gott oder dem Teufel. Dann kann man von gnadenhafter Caritas und gnadenlosem Bösen sprechen.

Gott und der Teufel sind – nach Kant – das Asyl der eigenen Dummheit (asylum ignorantae). Da man nicht sagen will, wir wissen nicht mehr weiter, greift man zu metaphysischen Erklärungen. Die haben den Vorteil, dass sie nicht überprüfbar und nicht korrigierbar sind. Dann bleibt alles beim Alten.

Womit wir wieder bei Breivik gelandet wären. Wird er krank genannt, müsste die Gesellschaft sich selber schuldig sprechen. Macht sie natürlich nicht, denn seit dem aggressiven Neoliberalismus muss jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied sein.

Dass die Gesellschaft an allem schuld sein soll, diese Phrase der 68er kann man heute nicht mehr hören. Ist jemand schuldig geworden, ist er es geworden, weil er es werden wollte. Eine weitere Warumfrage ist nicht mehr gestattet. Man käme dann auf den Satz, er ist böse geworden, weil er böse geworden ist. Böse sein könne man nicht erklären.

Für Fragen, die theoretisch unerklärbar sind, hat man eine praktische Lösung gefunden: man steckt sie in den Knast oder in die Psychiatrie. Warum über das Oder so viel Aufhebens gemacht wird, ist unverständlich, denn beide Institutionen sind dasselbe. Im Knast ist man inkorrigibel böse, in der Psychiatrie inkorrigibel krank. An eine Gesundung im moralischen oder psychischen Sinn glaubt heute niemand mehr.

Die sozialtherapeutischen Anstalten wurden einstmals gegründet, um jugendlichen Straftätern eine Therapie anzubieten und ihnen eine Chance zu geben, ihre kriminellen Taten zu verstehen und geläutert ein neues Leben zu beginnen.

Die Reformpsychiatrie wurde einstmals ins Leben gerufen, um Kranken eine Chance zu geben, sich selbst besser zu verstehen, um in Wohngemeinschaften ein relativ normales Leben zu beginnen.

Beide Vorhaben sind eingestampft. Dafür wurden viele neue Knäste gebaut, zum Teil privatisiert, damit bestimmte Leute daran verdienen. Psychisch Kranke wurden mit Pillen zugeschüttet, damit die Pharmaindustrie nicht am Krückstock geht.

B) Ist der Täter krank, kann er nicht schuldfähig sein. Obgleich man heute für seine Krankheit selbst zuständig sein soll. Es hängt also vom Grad der Krankheit ab, ob man in bestimmter Hinsicht noch Herr seiner selbst ist oder nicht.

Der Begriff schuldfähig ist nur sinnvoll, wenn ich die Freiheit hatte, zwischen Böse und Gut zu entscheiden. Aus welchen Gründen sollte ein normaler Mensch sich für das Böse entscheiden? Es gibt keine Gründe – außer einem: er ist grundlos böse. Womit wir wieder bei der Erbsünde und einer Gesellschaft unter dem Diktat des christlichen Credos wären. Schuldfähig sein, heißt sündfähig sein.

Unser Rechtsdenken steht noch immer unter der Kuratel eines dogmatischen Dualismus. Böse ist, wer unter Einfluss des Teufels steht, gut, wer sich Gott unterwirft. Die Bösen werden schon hienieden bestraft, sie wandern in den Knast, in die Psychiatrien, in milderen Fällen in die Unterschicht. Die Guten werden schon hienieden belohnt, sie werden erfolgreich, klug, mächtig und reich. Im christlichen Westen werden Himmel und Hölle auf Erden vorweggenommen und als unüberbrückbare Gesellschaftsschichten realisiert. 

Wir sind noch nicht am Ende der Verwirrung. Wer menschliche Dinge menschlich behandelt, müsste auf das Böse, auf Schuld und Sühne im theologischen Sinne verzichten und sagen: der Kriminelle ist krank, er ist unser aller Opfer. Wir, die ordentliche, bürgerliche Gesellschaft, müssen uns verändern, um unsere Kinder nicht weiterhin zu unseren Opfern zu machen – um uns zu entlasten.

Wir sind stark, weil wir unsere Kinder schwach machen. Die bürgerliche Gesellschaft ist deshalb so stark, weil sie Unterschichten, Kriminelle und Kranke produziert, die sie ausschließt und abschiebt, um ihre eigenen Schwächen und Krankheitskeime zu verleugnen und sie von jenen ausbrüten zu lassen. Sie organisiert sich als Klasse der Gesunden und Tüchtigen, weil sie die Macht hat, eine Klasse aus Kranken und Versagern zu produzieren.

Man kann nicht folgenlos jahrhundertelang an Gute und Böse glauben, ohne Gute und Böse zu produzieren. Das ist das ursprüngliche Zweiklassenmodell jeder christlichen Gesellschaft: die Guten, die auch die Erfolgreichen sind, denn Gottes wohlwollendes Auge ruht auf ihnen – und die Bösen, die die Schwachen sind, denn sie müssen auch das Böse der Guten mittragen, das die Guten verleugnen, denn sie wollen perfekte Gute sein.

Breivik gehört zu den Schwachen, die dem Angriff der kranken Gesellschaftsviren am meisten ausgesetzt waren und am wenigsten die Chance hatten, sich gegen sie zu schützen. Warum gerade er? Diese Frage könnten wir nur beantworten, wenn wir seine biografische Situation kennen würden.

Nun kommen die Experten und erklären ihn für krank. Ist das nicht sinnvoll? Das wäre sinnvoll, wenn die Art der Krankheit kein absurdes Gebilde wäre, das mit der Gesellschaft nichts zu tun hat. Die Krankmeldung ist richtig, die Krankheitsbeschreibung aber ein Konstrukt, das nicht von dieser Welt ist. Das wäre, als erklärte man normalen Husten mit der Invasion unsichtbarer Aliens.

Genau genommen ist die Gattung psychiatrischer Krankheiten eine pseudotheologische: man erfindet Kunstwörter und erklärt nichts mit ihnen. Erklärt man nichts, bleibt das Übel – das unverstandene Böse. Womit wir erneut auf der Kanzel wären. Psychiater sind Kanzelprediger mit verquaster quasimedizinischer Terminologie.

Kranksein müsste als Produkt der Gesellschaft kenntlich gemacht werden. Die Frucht kann nicht anders sein als der Baum, an dem sie gewachsen ist. Hier hat unser Herr und Heiland ausnahmsweise Recht: ein guter Baum bringt gute Früchte, ein fauler schlechte. Mit seiner Naturmetapher aber widerspricht er seiner sonstigen Ideologie: Bäume mit angeborener Erbsünde sind normalen Gärtnern unbekannt.

Breivik ist krank, also schuldunfähig: das war das erste Gutachten der norwegischen Psychiater. Ab in die Psychiatrie. Kommt das zweite Gutachten: Breivik ist nicht krank, also schuldfähig – ab in den Knast.

Warum schuldfähig? Weil seine Taten nur erklärbar seien, wenn man sie aus den bekannten Ideologien der europäischen Gesellschaft ableitet: dem Neonazitum, der Fremdenfeindlichkeit, dem Hass auf Muslime. Ist letzteres nicht sinnvoll? Das wäre  sinnvoll, wenn mit der Ableitung nicht die falsche Folgerung verbunden wäre: der Täter ist nicht krank, also schuldfähig.

Hier wird ein Begriff von Willensfreiheit unterlegt, der nur den Fieberträumen Augustins entstammen kann. Kein Jugendlicher ist so frei, dass er nach Belieben die Prägungen seiner Familie, Schule, Gesellschaft wegstecken und ein ganz anderer Mensch sein könnte.

Je rigider oder unglücklicher die Umstände des Heranwachsens, je unfreier wird der Mensch, sodass er selbst als Erwachsener fast keine Chance mehr hat, sich von den Faktoren seiner frühkindlichen Prägungen zu lösen.

Auch hier gilt: wer frei erzogen wurde, hat die meisten Chancen, sich frei für seine Prägungen zu entscheiden oder nicht. Ist er tatsächlich frei, muss er sich gegen seine erlebte Freiheit gar nicht entscheiden. Wer hier privilegiert aufwuchs, wird privilegiert bleiben. Wer hingegen als Kind das Vorrecht der Freiheit nicht erlebte, wird als Erwachsener Schwierigkeiten haben, seine Freiheit zu erobern.

Wer hat, dem wird gegeben. Dieses fürchterliche Gesetz kann nur durchbrochen werden durch unermüdliche Aufklärung und psychische Bildung aller Schichten.

Breivik ist ein Produkt der Gesellschaft. Doch nicht freiwillig. Er wuchs auf einem Baum, der ihn mit Giften infiltrierte und ihn zwang, zur vergifteten Frucht zu werden.

Resümee. Die ersten Gutachter zogen die richtige Schlussfolgerung aus falschen Inhalten. Die zweiten zogen aus richtigen Inhalten eine falsche Schlussfolgerung.

Der Karren ist völlig verfahren, weil die ganze Rechtsterminologie mit einer absurden theologischen Willensfreiheit kontaminiert ist, die ursprünglich nur eingeführt wurde, um Gott, den allmächtigen Schöpfer zu entlasten und die ohnmächtige Kreatur für ihr Geschaffensein irreparabel zu belasten. Damit sollte ein für alle Mal die Frage nach dem Ursprung des Bösen beantwortet werden. Das Böse entstand, weil das Geschöpf just for fun das Böse erfand, um Gott zu ärgern und zu provozieren.

Übersetzen wir die Theologensprache in die juristische Sprache der Gegenwart, so erhalten wir: die Eltern, Lehrer, Vorgesetzten, Eliten sind immer unschuldig, die Kleinen und Abhängigen immer schuldig. Die Autoritäten geben ihre Fehler und Schwächen nie zu und entlasten sich, indem sie ihre verdrängten Defizite an ihren Nachwuchs weitergeben.

Das heilige Kind soll die Erwachsenen erlösen. Wenn es unter der Last zusammenbricht, gehört ihm nichts Besseres als eine kriminelle und psychotische Laufbahn in Knast und Psychiatrie. Ob wir das Ganze krank nennen oder nicht, ist unwesentlich geworden.

Breivik ist ein typisch überfordertes heiliges Kind, das die Erlösung der Gesellschaft als ihre Zerstörung inszenieren musste. Er ist alles andere als ein Idiot. Vermutlich ist er brillanter, feinfühliger und hilfswilliger als viele seiner Generation. Er entwickelte das unwiderstehliche Bedürfnis, der Gesellschaft zu helfen, indem er ihr einen fürchterlichen Spiegel vor Augen hielt. Seht, so seid ihr, wie ich euch zeigen muss: ihr verratet eure eigenen Prinzipien, ihr heuchelt, dass sich die Balken biegen.

Angeblich seid ihr für das Gute und gegen das Böse. Wie könnt ihr dann die Bösen zulassen und ihnen schmeicheln, wenn sie euch hinterrücks zerstören wollen? Da ihr zu schwach seid, eure Prinzipien  zu vertreten, muss ich für euch die Fremden und Bösartigen vertilgen.

Ihr habt mir beigebracht, das Gute zu tun, indem man das Böse vernichtet. Genau das tat ich. Anstatt dankbar zu sein, verflucht ihr mich. Ununterbrochen hörte ich euch beten, dass ihr einen Erlöser braucht, allein könntet ihr eure Probleme nicht lösen. Nichts anderes tat ich, als euerm Erlöser nachzueifern. Wer die Welt liebt und sie erlösen will, muss sie zerstören.

Ist Breivik nur eine determinierte Maschine? Nein, doch seine Schuldfähigkeit muss er erst noch lernen. Hätte eine Gesellschaft humane Gefängnisse und Psychiatrien, wäre es gleichgültig, wo er es lernte. So ist es gleichgültig, wo er es nicht lernen wird.

 

Zum Breivik-Gesamt-Kommentar siehe: Kontroversen – Der Fall Breivik