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Freitag, 11. Januar 2013 – Esau-Jakob-Verhältnis

Hello, Freunde Frankreichs,

vor den Augen ihrer Mitschüler ist in Frankreich ein fünfjähriges Mädchen von der Polizei abgeführt worden. Die Eltern hatten das Geld für das Schulessen nicht beglichen.

Haben die Polizisten dem Mädchen wegen Fluchtgefahr Handschellen angelegt? Waren die Polizisten selbst Väter? Was haben sie sich gedacht, als sie den Befehl erhielten, eine Fünfjährige abzuführen? Wer hat den Befehl erteilt? Die Eltern des Kindes ließen sich nie in der Schule blicken. Klar, dass dann Sippenhaftung eintritt und Kinder für ihre Eltern büßen müssen. Die Kinder eines hier nicht unbekannten Gottes müssen auch für ihren unfähigen Vater büssen.

Der WELT-Artikel stellt keine Fragen und interviewt keine Akteure vor Ort. Solche Artikel bedienen nur das Gefühl: Wie schrecklich. Sie erklären nichts und fordern keine Rechtfertigung von den unmittelbar Beteiligten. Dieser „Panorama-Journalismus“, der sich mit Expressionen begnügt, ist nahezu wertlos.

 

Der durchschnittliche Deutsche verschlingt in seinem Leben 4 Rinder, 46 Schweine und fast 1000 Hühner. Zur Produktion dieser Tiere werden riesige CO2-Wolken ausgestoßen, riesige Mengen Wasser verbraucht. Die Subventionen der EU für „intensive Fleischproduktion“ belaufen sich auf 60 Milliarden – pro Jahr vermutlich.

Deutsche benötigen für ihre Fitness-Muskeln viel Fleisch, denn ihr eigenes Fleisch ist schwach, nur ihr Geist ist willig, eine Lebensleistung zu erbringen, die sich eine Lebensleistungsrente verdient hat. Gemüse dient dem

neugermanischen Lebensleistungswillen weniger.

Die Hälfte aller weltweit produzierten Lebensmittel landen auf dem Müll. Da stampfen sie riesige Chemiewerke aus dem Boden, um Düngemittel zu produzieren, die der Erde den letzten Saft aus der Krume pressen – damit die Produkte der Natur auf direktem Weg auf Müllhalden landen.

In früheren leichtsinnigen Jahren nannte man dies Fortschritt. Heute müsste man von der Lebensleistung der Moderne sprechen: Hurra, riesige Flächen der Erde wieder erfolgreich platt gemacht.

Gibt es nicht Geldbäume, auch Pfennigbäume oder Deutsche Eichen genannt? Findige Evolutionsbiologen sollten eingezäunte Geldbaum-Plantagen einrichten, alle Geldgierigen dort einsperren – damit der Rest der Natur seine Ruhe hat. Über dem Tor zu den Plantagen sollte in Gold eingraviert stehen: Geld kann man doch fressen.

In welchen Kavernen verschwinden die 100 Milliarden Dax-Gewinne? Über alles weiß man in dieser transparenten Gesellschaft Bescheid. Nur nicht, wo die Vermögen versickern. Eins weiß man mit Sicherheit: bei den Vielen landet das Vermögen nicht. Ein Hundertstel der Bevölkerung kassiert ein Drittel des Gesamtvermögens.

Ulrike Herrmann in der TAZ: „Deutschland ist eine extreme Klassengesellschaft, was die Klasse der Arbeitnehmer aber lieber ignoriert.“ Nach dem Soziologen Michael Hartmann stammen fast alle Vorstandsvorsitzenden aus einer kleinen Oberschicht, die nur ganze 3,5 % der Bevölkerung ausmacht. Damit haben wir eine extrem durchlässige und chancengleiche Gesellschaft, vergleichbar der betonierten Brahmanen-Hierarchie im mittelalterlichen Indien.

Dabei wollen die meisten Menschen gar keine völlig egalisierten Gehälter. Ein gerechtes Lohngefälle mit einer Quote von 1 zu 20 oder 1 zu 30 würde von den meisten akzeptiert werden. Momentan beträgt sie 1 zu 200 oder 1 zu 300 und mehr. So unterschiedlich hat Gott die Menschen erschaffen.

Wenn man den Satz: die Kluft zwischen Reich und Arm wird immer größer, für immer ausrotten wollte, müsste man endlich Obergrenzen des Profitemachens festlegen. Alles, was drüber ist, wird dem Staat überwiesen, der aus Menschen besteht wie Du und Ich. In lebendigen Demokratien gibt’s keinen Staat. Profite oberhalb eines festgelegten Limits kommen allen Citoyens zugute und werden in Kitas, Schulen, Durchlüftung der Städte und Renaturierung der Natur angelegt.

Wohlstand ist die Gesamtleistung einer Gesellschaft und darf nicht von hyperaktiven Abräumspezialisten in ihre Luxuskammern abgeleitet werden. Sonst noch Fragen, Kienzle? Wer Eremit sein will, soll sich in Wüstenhöhlen zurückziehen und sich seines asozialen Gottes erfreuen.

 

Netanjahu erhält einen Konkurrenten, der noch rechter steht als er und mit Bibelsprüchen Polit-Propaganda betreibt. Naftali Bennett hat alle Chancen, in der nächsten Wahl bis zu 18 Sitze im 120-köpfigen Parlament zu erringen. Unmissverständlich will er eine zweite Landnahme vom Jordan bis zum Mittelmeer. Vom Westjordanland will er 60% annektieren. (Warum so bescheiden?) Kompromisse werde es mit ihm nicht geben. Unfehlbare und Erleuchtete schließen keine Kompromisse.

 

Die Augstein-Affäre war eigentlich eine SPIEGEL-Affäre und niemand hat‘s bemerkt. Der Angegriffene war nur pars pro toto (Teil, der für das Ganze steht). Schließlich hat er seine Israel-Kommentare allesamt im einst väterlichen Magazin veröffentlicht. Wie lange benötigte das journalistische Flaggschiff, bis es nach feigem Lavieren wusste, wie es reagieren sollte? An der Reaktion des Hamburger Wochenblatts wird deutlich, worum es im deutsch-jüdischen Konflikt geht: um das Zelebrieren eines unausgesprochenen Herr-Knecht-Verhältnisses.

Hegel hat mit seiner berühmten Analyse das Hereinbrechen der männlichen Hochkultur in die matriarchale Gleichheitsgruppe geschildert. Der neue Mann hat sich als Herr erwiesen, weil er, im Kampf mit dem andern Mann, seine Todesangst überwand und die Ängstlichen, die sich seinem Schutz anvertrauten, zu seinen Knechten machte, die ihm durch körperliche Arbeit dienen und ihn als Herren anerkennen mussten.

Der Urknecht war natürlich das Weib, das sich dem neuen Gewaltkurs des Mannes beugen musste. Herr-Knecht war die Kurzbeschreibung des neuen Geschlechterkampfes Mann gegen die Frau.

Die Herr-Knecht-Formel betraf nicht nur das Verhältnis Mann-Frau, sondern auch das Verhältnis Christ-Jude. In seinem Buch „Geschlecht und Charakter“ hatte Otto Weininger den Juden auf die Stufe des Weibes gestellt.

Alexandre Kojeve, aus Russland stammender Philosoph, hat seine Herr-Knecht-Analysen zu einem Gründungsakt der französischen Nachkriegsphilosophie gemacht. Kein Zufall, dass Simone de Beauvoir zu den Schülern Kojeves gehörte, die das Urbuch des modernen Feminismus schreib.

Die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Herr und Knecht führen allmählich zum Verschwinden des Herrn, während der Knecht sich zum Herrn der Natur aufschwingt. Damit kann das Ende der Geschichte eingeläutet werden: eine universelle Zivilgesellschaft, die auf wechselseitiger Anerkennung gleichberechtigter Bürger beruht. Der Knecht wird zum Herrn. Von dem, der ihn knechtete, übernimmt er die Charaktereigenschaften. Knechte und Herren verbünden sich zu gleichberechtigten Herren, um in gemeinsamer Kooperation – die Natur zu kujonieren. Die Letzten beißen die Hunde, die Natur wird zur Magd der ganzen Menschheit.

Wie konnte der Knecht zum Herrn werden? Indem der Herr ihn knechtete, spürte der Knecht die Eigenschaften des Herrn am eigenen Leib, an der eigenen Seele. Was er passiv erlitt, dreht er um in herrenhafte Aggression gegen einen neuen Knecht: gegen die Natur. Der Geknechtete rächt sich an den erlittenen Demütigungen seines Herrn, indem er als Freigelassener den Herrn kopiert und neue Knechte oder Mägde sucht, die er herumkommandieren, beleidigen und demütigen kann.

Der Herr kann den Knecht nicht einfach töten, er braucht ihn zum Überleben. Der Knecht bildet sich und wird zum technischen Experten des Überlebens. Ohne seine Kompetenz würde der nichtsnutzige Herr verhungern.

Warum braucht der Knecht den Herrn? Warum jagt er ihn nicht zum Teufel? Weil er seine Urängste nicht bezwingen kann. Im Zweifelsfall flüchtet er unter das Schild des Herrn, der dem Feind entgegentritt. Auch der Herr hat Angst, hat aber gelernt, sie zu beherrschen.

Beckett hat im „Endspiel“ das Herr-Knecht-Verhältnis punktgenau auf die Bühne gebracht. Der Diener will seinen Herrn verlassen, der ohne seine Handreichungen nicht überleben könnte. Doch er kann nicht. Die letzten Lebensmittel sind im Kühlschrank, dessen Schlüssel der Herr besitzt.

Ein Herr-Knecht-Verhältnis ist ein pervertiertes, aus dem Ruder gelaufenes Liebesverhältnis. Liebende benötigen sich gegenseitig. Ein emanzipiertes Paar liebt sich auf gleichberechtigter Ebene. Dass man den andern als „Überlebensmittel“ benötigt, ohne den man sich lebensuntauglich fühlt, ist so lange kein Problem, solange die Vorzüge der Abhängigkeit die Nachteile derselben überwiegen. Verlieren sich die anfänglichen Vertrauens- und Schmetterlingsgefühle und kommen immer mehr die Ketten bloßer Abhängigkeiten zum Vorschein, erlebt man die abgestürzte Beziehung als demütigende Einbuße des eigenen Selbstbewusstseins. Aus einem Liebesverhältnis ist eine Herr-Magd-Beziehung geworden: in voremanzipatorischen Zeiten die normale Beziehungsart im Patriarchat.

Die hohe Scheidungsrate, die wachsende Zahl der Alleinlebenden beruht auf dem gestiegenen Bedürfnis nach freier Selbstbestimmung des Einzelnen, der lieber auf schnell vorübergehende und unerquickliche Zweisamkeit verzichtet, als seine Autonomie zu gefährden.

Anna Freud, Sigmund Freuds Tochter, hat die psychische Dialektik der Herr-Knecht-Beziehung genauer untersucht und die einprägsame Formel „Identifikation mit dem Angreifer“ oder „Identifikation mit dem Aggressor“ gefunden. Wenn Kinder Angst vor Gespenstern haben, kann man ihnen helfen, indem man ihnen rät, selbst die Rolle von Gespenstern zu spielen.

Die Strenge des Über-Ichs ist die Verinnerlichung der Strenge Gottes. Wer sich selbst richtet, wird nicht gerichtet werden. Alle Selbstgeißler, Selbsthasser und Selbstverurteiler nehmen vorweg, was ihr strafender, geißelnder und züchtigender Gott einst im Jüngsten Gericht mit den Sündern tun wird. Anna Freud beschrieb eine uralte religiöse Selbsterniedrigungsmethode, ohne es zu bemerken.

Die Wissenschaft der Viktimologie (viktim = Opfer) beschäftigt sich mit den spiegelbildlichen Symmetrien bei Opfern und Tätern, die oft mehr miteinander gemein haben, als sie wahrhaben wollen. Die Abhängigkeit von Tätern und Opfern bedeutet nicht, dass Täter „entschuldigt“ und Opfer „beschuldigt“ werden sollen. Wissenschaftliche Erkenntnisse haben keine Strafen auszusprechen. Sie sollen zum Verständnis beitragen, wie zukünftige Verbrechen zu verhindern sind.

Die jüdisch-deutschen Verstrickungen zählen zur höchsten Tabustufe bei Tätern und Opfern. Die Opfer empören sich über den Vorwurf, sie könnten am Völkerverbrechen der Deutschen mitschuldig sein. Die Nazi-Täter wollen eine Rasse für sich sein, die keinerlei psychische Ähnlichkeiten mit ihren Opfern aufweisen.

Selbst wenn ein Mensch einen andern direkt aufforderte, ihn zu töten, wäre derjenige, der dieser Aufforderung nachkäme, uneingeschränkt schuldig. Moralische Schuld – unabhängig von jeder juristischen – bemisst sich allein am Bild einer uneingeschränkt selbstbestimmten Persönlichkeit. Der Mensch wird beurteilt, als ob er eine freie Person sei.

Das könnte ungerecht scheinen gegenüber den meisten Menschen, die keine Chance hatten, sich eine kantische Autonomie zu erwerben. Dieser Ungerechtigkeit kann vor Gericht durch Strafminderung Rechnung getragen werden. Bei der reinen moralischen Bewertung spielen solche Faktoren keine Rolle.

Indem der Mensch beurteilt wird, als ob er ein freier Mensch wäre, erhält der Beurteilte die Chance, sich selbst so zu sehen und zu beurteilen, als ob er ein freier Mensch wäre – zu dem er sich ab jetzt entwickeln kann. Die anfänglich überfordernde Beurteilung kann zur Grundlage einer Entwicklung werden, die den Beurteilten zu einem frei bestimmten Wesen machen kann: das Ziel einer humanen Resozialisierung in Gefängnissen und Sozialtherapeutischen Anstalten. Und natürlich im wirklichen Leben.

Keine psychische Verstrickung der Deutschen mit den Juden kann den ersteren auch nur ein Jota ihrer Schuld nehmen. Sie hätten die Pflicht gehabt, sich zu autonomen Wesen zu entwickeln, die wissen, was sie tun und lassen müssen. Dass sie es nicht taten, gehört zur Gesamtschuld der Nation, die sie ab jetzt zu verstehen hat, um in Zukunft alles zu unternehmen, damit sich ähnliche Gräuel nicht wiederholen.

Wenn Juden und Deutsche ihre vergifteten Verhältnisse beenden wollen, müssen sie ihre neurotischen Verstrickungen wahrnehmen und durcharbeiten, um ihre Verstrickungen aufzulösen und in befreiter Distanz zu entscheiden, wie sie in Zukunft miteinander umgehen wollen.

Der SPIEGEL wollte die Augstein-Affäre mit einem Gespräch zwischen Angreifer und Verteidiger klären. Der folgende Artikel beschreibt, welche absurden Dinge geschahen, als ein Spiegel-Journalist ein Streitgespräch organisieren wollte:

Rabbi Cooper vom SWC stellte die Vorbedingung, Augstein müsse sich zuvor entschuldigen. Das Gespräch wäre dann überflüssig gewesen, der Angegriffene hätte mit einer Entschuldigung alle Vorwürfe bestätigt.

Zudem wollte Cooper mit dem Kontrahenten nicht in einem gemeinsamen Zimmer streiten, ihm auch nicht die Hand reichen. Cooper wollte den Herrn spielen und Augstein zum Knecht erniedrigen. Die genaue Umkehrung des Rollenspiels der Vorkriegszeit, als – nach Gerschom Scholem – die Juden die Knechte der arischen Herren spielen mussten.

Erstaunlich, dass der SPIEGEL diesen arroganten Affront nicht sofort zurückwies. Hier gibt es Demütigungsrituale zwischen Opfern, die zu Herren geworden sind und Herren, die die Opferrolle spielen – um mit Demütigungsstrafen ihre Schuldgefühle zu reduzieren. Das Über-Ich der Deutschen ist noch lange nicht besänftigt und wird noch lange von Selbstbestrafungswünschen dominiert werden.

Diesen Selbstkasteiungswünschen der Deutschen stehen die komplementären Rache- und Bestrafungswünsche der Juden gegenüber, die zwar solche Bedürfnisse bestreiten, allein, die Realität spricht eine andere Sprache. Hier stehen sich verschiedene Einschätzungen der Lage diametral gegenüber, die nur durch Verständigungsdialoge behoben werden könnten.

Ein weiterer Beweis für ein modifiziertes Herr-Knecht-Verhältnis zeigt das FAZ-Interview mit Salomon Korn, der Augstein zwar nicht für einen Antisemiten hält, gleichwohl über ihn spricht, als sei er ein unmündiges Kind, das die Situation vor Ort wahrscheinlich gar nicht kenne.

Stets beruhen deutsche Argumente auf Unkenntnis und Ignoranz. Dass es um moralische Bewertungen geht, wird von jüdischer Seite nicht anerkannt.

Aus dem Spiegel-Kolumnisten spreche eine gut gemeinte Ignoranz, die den psychischen Verzerrungsfaktor der Deutschen nicht als Fehlerquelle in Betracht ziehe. Korn sieht Israel in einer einzigartigen Bedrohungslage. „Man darf nicht vergessen, dass Israel das einzige Land auf der Welt ist, dessen Existenz nicht vorbehaltlos anerkannt wird.“

Das ist Unsinn. Wenn das heilige Land sich friedfertig verhielte, gäbe es kein Land der Welt, das seine Existenzberechtigung in Zweifel zöge. Feindliche Äußerungen vom Iran und Hamas sind Reaktionen auf eine imperiale Supermacht, die bis heute nicht aufrichtig genug ist, ihre Atombombengewalt zu bestätigen. Nein, es ist – nach Avraham Burg – der israelischen Paranoia geschuldet, sich mit der ganzen Gojimwelt anzulegen, damit sie eine Legitimation hat für ihre militaristischen Aggressionen.

Dann kommt der beliebte Konjunktiv: wäre Europa in der Situation Israels, es würde viel heftiger reagieren als Israel.

Selbst wenn es so wäre, jede Nation hat ihrem eigenen Moralkodex zu folgen und kann sich durch potentielle Beispiele nicht entlasten. Wenn mein Bruder Übles tut, muss ich ihm nicht folgen.

Das Hauptargument Korns bezieht sich auf die psychische Ursache der „lustvollen Kritik“ vieler Deutscher an Israel. „Es geht hier um Schulddruckentlastung. Israel wird in diesem Fall zum Tätervolk. Das führt zur Entlastung der Deutschen und der deutschen Geschichte, in der die Deutschen die Täter waren. Hier wird eine Umkehrung vorgenommen. Es scheint mir eine sehr lustvolle Entlastungsstrategie zu sein, die zum Teil in die Geschichte der eigenen Familie hineinreicht.“

Hier geht es um angewandte politische Psychoanalyse. Die Erforschung unserer Motivationen ist ein nützlich Ding, aber keine beweisbare Naturwissenschaft. Wir können nur vermuten und die Vermutung den Vermutungen des anderen entgegenstellen. Korn spielt den jüdischen Analytiker, der das Unbewusste des deutschen Patienten deutet.

Analytiker-Patient ist die nächste Variante der Herr-Knecht-Beziehung. Der Analytiker ist perfekt durchanalysiert und hat keine dunklen, unbekannten Emotionen mehr, die ihn zu einem Fehlurteil verleiten könnten. Jeder Einwand des Patienten, jeder Widerspruch fällt auf ihn selbst zurück und kann als Folge unbearbeiteter Komplexe gedeutet werden. Der Herr hinter der Couch ist so unfehlbar wie der Papst ex cathedra. Der Verzerrungsfaktor liegt immer beim triebgesteuerten Patienten, der sein Unbewusstes nicht unter Kontrolle hat.

In diesem Gefälle zwischen Allwissendem und Nichtswissendem kann kein Dialog auf gleicher Augenhöhe entstehen. Popper hat Freuds Methode als Selbstimmunisierung oder als „doppelt verschanzten Dogmatismus“ entlarvt. „Der Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, dass er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist.“

Ein echter Dialog bestünde darin, dass jeder beginnt, vor der eigenen Haustüre zu kehren und seine eigenen Fehlerquellen zu erforschen. Jeder hat Wahrnehmungsverzerrungen, die ein anderer oft besser sieht als er selbst. Natürlich haben die Deutschen Schuldgefühle, die sie reduzieren wollen. Das ist nicht verwerflich. Ob solche Mechanismen allerdings die sachliche Kritik verzerren oder fragliche Dinge besonders scharf sehen, das lässt sich Motivationen nicht entnehmen.

Sachkritik, sagte Freud, lässt sich durch Seelenanalyse nicht klären. Sache muss durch Sache widerlegt werden und nicht durch vage Vermutungen. Zudem hat auch der Analytiker seine unbewussten Syndrome, die ebenfalls auf die Waage müssten. Auch Korn will sein Über-Ich entlasten, indem er jede Kritik an Israel als übertrieben und unsachlich zurückweist.

Nicht nur Deutsche haben ein Unbewusstes. Wie sieht das Unbewusste des Juden aus? Jeder Jude hat mit hoher Wahrscheinlichkeit das Gefühl des Versagens, wenn er an das Land seiner Väter denkt. Der junge Zionismus wollte den homo novus, ein beispiellos demokratisches und moralisches Land schaffen. Und nun genießt Israel in der ganzen Welt das Image eines inhumanen und fundamentalistischen Gemeinwesens, das mit Hilfe Amerikas seine brachiale Dominanz den Palästinensern aufzwingen will. Es liegt nahe, dass alle mit Israel verbundenen Juden – wenn sie nicht zur radikalen Selbstkritik wie Avnery und Zuckermann fähig sind – nichts unterlassen werden, um das Land vor verbalen Angriffen zu schützen und jeden Kritiker in die Flucht zu schlagen.

Man kann es nur als Scherz betrachten: Korn kann kein Tabu im Land erkennen, das eine authentische Kritik an Israel fast verbiete. Dass die meisten Deutschen die Situation anders sehen, scheint Herrn Korn nicht zu tangieren. Er dekretiert, dass kein Tabu sei, also gibt es kein Tabu: „Die Tabuisierung Israels ist herbeigeredet. Israel wird in den deutschen Medien durchaus sachlich kritisiert. Ich konnte noch nicht feststellen, dass es hier ein Tabu gibt. Im Gegenteil: Dieser Vorwurf wird nur vorgebracht, um dieses Tabu umso lustvoller zu durchbrechen.“

(FAZ-Interview von Thomas Thiel mit Salomon Korn)

Fazit: das deutsch-jüdische Verhältnis hat die Vorkriegsverhältnisse in bestimmten Graden auf den Kopf gestellt und besteht aus einem Herr/Knecht-, Zensor/Zögling- und Analytiker/Patient-Verhältnis. Die Deutschen sind an diesem Verzerrungsgefälle genauso schuldig wie die Juden. Keine der beiden Seiten scheint interessiert, die verfahrene Situation zu untersuchen, um eine gleichberechtigte Gesprächsgrundlage herzustellen.

Jakob hat den erstgeborenen Esau überlistet und sich den Segen des Vaters ergattert. Dann kam der spätgeborene Deutsche und hat Jakob, der zu Esau geworden war, in den Schatten gestellt. Dann kam die Katastrophe.

Zur Strafe muss der Deutsche für immer den Knecht, Patienten, unmündigen Schüler spielen, der den Fall Israel nicht beurteilen kann und sich aus den Angelegenheiten der Erwachsenen raushalten soll. Wer ist der wahre Liebling der Heilsgeschichte?

Der unendliche Bruderkampf zwischen Juden und Deutschen kann fortgesetzt werden.