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Tagesmail

Freitag, 10. August 2012 – David Grossman

Hello, Freunde des Abiturs,

Impressionen aus deutschen Abiturfeiern:

Alle fühlen sich wahnsinnig befreit.

Eltern werden traurig sein, weil die Tochter mit einem Schnitt von 1,4 enttäuschte.

Die Welt öffnet sich gerade für uns, wir müssen nur mutig sein und etwas wagen.

Ich freue mich, dass ich so eine tolle Schulzeit mit euch verbracht habeauch wenn ich oft des Drucks der Erwachsenenwelt müde geworden bin.

Wir haben ein Recht darauf, Visionen zu haben.

Danke für jede Stunde, in der wir etwas gepaukt haben, was wir sowieso niemals verstehen werden.

Lehrer werden menschlich, Eltern bleiben peinlich.

Danke, wir hatten doch irgendwie eine gute Zeit. (DER SPIEGEL)

 

Impressionen zur Selbstbestimmung der Religion:

Vor Jahren vegetierten 30 Sektierer im russischen Pensa mit ihren Kindern in einem unterirdischen Tunnelsystem. Nun ein ähnlicher Fall im russischen Kasan. Dort haben Sicherheitskräfte eine muslimische Sekte ausgehoben.

Mindestens 27 Minderjährige mussten jahrelang in einem unterirdischen Zellensystem ausharren – ohne natürliches Licht, ausreichende Luftzufuhr und ärztliche Versorgung. Das jüngste Kind war knapp ein Jahr und sieben Monate.

Die Eltern waren der Meinung, ihre Kinder lebten unter normalen Bedingungen. Ein Mitglied der Gruppe

erklärte: „Dies ist unser eigener Staat und wir bestimmen, wer wie lebt.“ Mit der Begründung, der Weltuntergang in Form eines riesigen Erdbebens stünde kurz bevor, hatte sich die religiöse Gruppe ab 2000 von der Welt zurückgezogen. „Wir warten auf den Tag der Abrechnung und wenn er kommt, wird nur unser Gelände heil und unversehrt bleiben, weil wir frei vom Bösen sind.“

Die amerikanische Version der Weltende-Erwarter heißen Prepper. Sie bunkern keine Menschen, sondern Lebensmittel und Gewehre.

Eine mitteleuropäische Version der Weltende-Erwarter waren die Kreuzzügler. Um die Jahrtausendwende herrschte in Erwartung des Messias eine ungeheuere Angst vor ewigen Strafen, die nur durch die gewaltsame Befreiung der heiligen Stätten gemildert werden konnten.

Gläubige Christen empfinden das normale Leben als Strafaufenthalt in einem höhlenartigen Lazarett, denn die wahre Welt beginnt jenseits des Todes: „Denn das Reich, in dem wir Bürger sind, ist in den Himmeln. Denn wir haben hier keine bleibende Polis, sondern wir suchen die Zukünftige.“

(Annette Langer im SPIEGEL über Angst vor dem Weltuntergang in Kasan)

 

Grassiert auch in Israel eine Angst vor dem Weltuntergang? Angst vor der Zerstörung des Landes durch den satanischen Iran, den man durch prophylaktische Apokalypse zerstören muss?

Oder ist es umgekehrt, wie der israelische Schriftsteller David Grossman in der FAZ mutmaßt? Dass die militärische und religiöse israelische Elite nämlich des Glaubens ist: „Wir sind unsterblich, wir sind ein ewiges Volk“? Alle andern Staaten seien bloß vorübergehend und flüchtig? Alle andern, auch Amerika, sorgten sich um Irdisches, um Ölpreise. Die Juden hingegen leben im Reich des ewigen Israel?

Die Israelis verfügten über ein historisches Gedächtnis, das durchzogen sei mit aufblitzenden Wundern und triumphalen Rettungen, die auf Logik und Wirklichkeit keine Rücksicht nähmen. Das Weichei Obama, so denke Natanjahu, sei der Meinung, seine Feinde pflegten dasselbe rationale Denken wie er selbst. „Während wir in den letzten 4000 Jahren in erbittertem Kampf mit den dunkelsten Mächten der Unterwelt und den finstersten Absichten standen und sehr wohl wissen, was nötig ist, um in diesen zwielichtigen Zonen zu überleben.“

Vielleicht würden viele diese Einstellung beängstigend finden, so der Autor, doch der israelische Premier dürfte diese Beschreibung als zutreffend empfinden. Die Zukunft und das Schicksal des israelischen Volkes hingen von Netanjahus extremer, rigider und kompromissloser Weltsicht ab.

Grossman fragt sich, ob die Führungskaste wirklich wisse, was sie allzu sicher zu wissen vorgebe. Sind Israelis wirklich in der Lage, Irans Atomwaffenprogramm nachhaltig zu zerstören oder können sie es nur verzögern und damit contre coeur sogar forcieren? Ist das demonstrierte Machtwissen Netanjahus wirklich rationaler Art oder beruht es auf verdrängten Ängsten, Wunschdenken und Echos früherer Traumata?

Wissen die Mächtigen, dass ein Angriff auf den Iran einer der schwersten Fehler sein könnte, den das junge Land je begangen hat? Ohne die Herkunft des Wortes anzugeben, zitiert Grossman aus Altes Testament > 2. Samuel 2,26 / http://www.way2god.org/de/bibel/2_samuel/2/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/2_samuel/2/“>2.Samuel 2,26: „Das Schwert soll ohne Ende fressen.“ (Im Original in Frageform: Soll denn das Schwert ohne Ende fressen?)

„Israel ist so in dieser Denkungsart befangen, dass es für sie ein himmlisches Gebot oder Naturgesetz zu geben scheint, das Israel fast immer dazu zu verurteilt, bei jedem Dilemma oder Sicherheitsentscheidung nur den einen Weg einzuschlagen: Bombardieren oder Bombardiertwerden, Angreifen oder Angegriffenwerden.“

Sollte Netanjahu tatsächlich religiös denken und fühlen, würde er nicht nach Naturgesetzen, sondern nach Gottes Geboten handeln. Natürlich sei der Iran nicht ungefährlich, so Grossman. Aber Israel sei befallen von altbekannten, beinahe mystischen Kräften, die es nicht unter Kontrolle habe. Kräften, die ausnahmslos all ihre Ängste wahr machten.

Warum wehrt sich die zivile Gesellschaft nicht? Warum stünden all jene Menschen nicht auf, die diese Politik für falsch hielten? Warum sagten sie nicht offen und ehrlich: „Wir teilen diese megalomanische Vision, diese messianisch-katastrophale Weltsicht nicht?“ Und was sei mit dem ganzen israelischen Volk? Warum verstummt es in fatalistischer Resignation?

Was werden eines Tages die Erwachsenen ihren Kindern sagen, wenn jene fragen, warum ihre Eltern still geblieben sind? „Warum sind wir nicht in Massen auf die Straße gegangen, um gegen einen weiteren, von uns begonnenen Krieg zu demonstrieren?“ Sind nicht wir es, die den Preis für diesen Schlag mit unserem Blut und Mark bezahlen werden?

(David Grossman in der FAZ: Steht endlich auf und sprecht es offen aus)

Immer deutlicher zeigt sich das Ausmaß der religiösen Determinierung der gesamten westlichen Politik. Israel bildet keine Ausnahme. Das Hauptelement ist das hereinbrechende Ende der irdischen Zeit, die Apokalypse. Die letzten Dinge stehen bevor, sie sind schon mitten unter uns.

Die Lehre vom Schrecken der begrenzten Zeit ist ein Produkt der Hochkulturen. Schon in den Schöpfungsmythen Assyriens und Babyloniens, im Gilgamesch-Epos gibt’s eschatologische Erzählungen. (Eschatologie = Lehre von den letzten Dingen, Apokalypse = Offenbarung).

Beim persischen Zarathustra gibt’s einen Endkampf zwischen Gut und Böse, von Licht und Finsternis. Von dort dringen die Vorstellungen einer letzten Entscheidung zwischen Gott und Teufel in den Hellenismus und ins Judentum. Die alten Hebräer kannten kein Jenseits, keine unsterbliche Seele und keine spektakulären Endzeitvisisonen. Den Germanen war die Idee eines Weltenende nicht unbekannt.

Kaum hatten die Männer das Kommando in den Hochkulturen übernommen und die Matriarchate überwältigt, war bereits der Wurm drin. Nicht nur als schlangenartiger Verführer des überwundenen und erniedrigten Weibs, der den Fall des Menschengeschlechts aus der Höhe des Paradieses in die Niederungen einer gottverlassenen Natur bewirkte.

Alle Übel der heutigen Zivilisation waren im Nu komplett. Die schmerzliche Schwangerschaft, der Brudermord als Ergebnis von Ungleichheit, Neid und Eifersucht, die ganze Verderbtheit der Menschen, die nur durch eine Generalreinigung gesäubert werden konnte.

Doch Gott als Subjekt der Geschichte versagte auf der ganzen Linie. Auch die Sintflut war nur ein kathartischer Pfusch, das Drama mit der Bestie Mensch ging weiter. Zwar wollte Gott alles auf einen Schlag vernichten, doch er musste einen Rückzieher machen und Reue zeigen: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde um der Menschen willen verfluchen und ich will hinfort nicht mehr schlagen, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Bei den Griechen war die Ewigkeit der Natur – auch durch zyklische Krisen hindurch wie bei der Stoa – eine nie angezweifelte wundersame Tatsache, der Grund der tiefsten „Heimatverbundenheit“ mit der Erde.

In der Genesis ist die „Nachhaltigkeit“ der Natur das Ergebnis eines wankelmütigen Schöpfers, der es nicht schafft, seine Vernichtungswut in die Tat umzusetzen. Vorläufig nicht schafft. Denn am Ende der Zeiten wird er es doch schaffen. Aufgeschoben heißt nicht aufgehoben. Die Ewigkeit der Natur ohne Anfang und Ende wird in eine endliche Strecke mit Schöpfung aus dem Nichts und finaler Vernichtung ins Nichts verwandelt.

(Die modernen religiös indoktrinierten Ökologen trauen sich nicht, den „Ewigkeitsaspekt“ als Ziel ihrer Arbeit anzugeben. Vermutlich spüren sie den verbotenen Kern einer Idolisierung der heidnischen Natur. Sie müssen sich mit der linearen Strecke der Nachhaltigkeit begnügen. Natürlich wird die Menschheit nicht ewig überleben, denn die menschenfreundliche Nische auf Erden ist selbst nicht ewig. Doch diese Endlichkeit ist ein Werk der Natur und nicht die Tat von Menschen, die ihre ökologische Krise selbst herbeiführen.)

Auch die stolzen und kreativen Taten der ersten Menschen unter Gottes Ägide – in der Hochkultur – waren von Vergänglichkeit und Hinfälligkeit bedroht. Mit einem technischen Wunderwerk wollten sie sich „ein Denkmal schaffen“, damit sie sich nicht „über der ganzen Erde zerstreuen“. Für den Schöpfer eine maximale Provokation. „Denn dies ist erst der Anfang ihres Tuns; nunmehr wird ihnen nichts unmöglich sein, was immer sie sich vornehmen.“

Das ist die komplette Umkehrung aller bekannten Glaubenssätze. Der allmächtige Schöpfer fürchtet die beginnende Allmacht seiner nichtsnutzigen Kreaturen. Gott hält den Menschen für derart lernfähig, dass er ihm schlechterdings alles zutraut. Also muss dessen Lernfähigkeit im Keim erstickt werden. „Wohlan, so lasst uns hinabfahren und daselbst ihre Sprache verwirren, dass keiner mehr des andern Sprache verstehe“.

Damit sind alle Instrumente eines kollektiven Lernens vernichtet. Wer den andern nicht versteht, kann sich mit ihm nicht verständigen. Gemeinsame Lernfortschritte sind unmöglich.

Gott ist kein pädagogischer Vater der Erkenntnis, sondern ein arglistiger Dämon der Verwirrung. So spaltete der Herr die Völker, indem er ihre Sprachen verwirrte und sie über die ganze Erde zerstreute.

Alle Schandtaten Gottes werden von seinen Gläubigen mit dem Hinweis verteidigt, sie seien gerechte Strafen für die Verfehlungen des Menschen. Von vorneherein nimmt der Mensch alle Schuld auf sich, um die Absurditäten seiner Autorität zu rechtfertigen. Nicht Gott hat den Menschen, der Mensch hat Gott gerettet und erlöst – auf seine Kosten. Für seine Helfertaten wird der Mensch am Ende der Tage schwer büßen müssen.

Der Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis ist nicht spannend, das Ende steht von Anfang an fest. Auch im dualistischen System des Zarathustra, wo es lange scheint, als seien die Truppen des Bösen so stark wie des Guten, wird sich am Ende das Gute durchsetzen. Das Christentum gibt sich dualistisch, ist aber monistisch – in dualistischer Konkretion.

Umgangssprachlich sagt man, Heilsgeschichte sei die Kampfarena zwischen Gott und Satan, zwei verschiedenen Gentlemen, die sich in frühesten Zeiten sympathisch fanden, aber in fürchterlichen Streit gerieten und sich seitdem irreparabel hassen.

Streng genommen aber ist die Heilsgeschichte ein Kampf Gottes mit sich selbst. Sein satanisches Alter Ego ist Er selbst: in verfremdeter Maske. Gott ist keine ausgereifte, in sich ruhende Persönlichkeit. Kein ausgeklügelt Buch, sondern ein Wesen in seinem Widerspruch. Vermutlich leiden deshalb seine aus Lehm erschaffenen Kreaturen endemisch an angeborenem Selbsthass.

Im Endgericht geschieht, was Gott am Anfang nicht gelang, insofern beruht die gesamte Heilsgeschichte auf „unerledigten Aufgaben“ des zyklothymen Herrn der Heerscharen, der mehrere tausend Jahre (nach der biblischen Zeitrechnung) benötigt, um sich schlüssig zu werden, wie viele seiner Geschöpfe er retten und wie viele er über die Klinge springen lassen will.

Die Stimmung der Heilsgeschichte ist der verborgene Kern der vom Westen initiierten Weltpolitik. Alles läuft einem Ende mit zwei Ausgängen entgegen: einem winzigen Ausgang für selige Gewinner und einem riesigen Ausgang für Verlierer.

Fast Nichts wird getan unter dem Aspekt der dauerhaften Präsenz des Menschen auf Erden. Der Fortschritt besteht in akkumulativer Anhäufung von Problemen, deren Lösung einem zukünftigen Sankt Nimmerleinstag überlassen wird. Alle politischen Notwendigkeiten werden wie „unerledigte Aufgaben“ unerledigt gelassen.

Nicht der Mensch ist Autor seines Geschicks, sondern ein übermächtiger Gott. Da er sich selbst nicht helfen kann, ist er auf seine Geschöpfe angewiesen, die er zum Dank – und um seine Schwächen zu vertuschen – von der Erde vertilgen muss. Mitsamt der Erde selbst. Und weil alles missglückt ist: da capo al fine. Wir warten auf das Neue, das das Alte zur Strecke bringt.

Wenn Grossman Recht hat, gibt es eine spezifisch jüdische Apokalypse. Sie fühlen und definieren sich als unverwundbare ewige Nation, die in mühsamen Erfahrungen gelernt hat, „unsterblich“ zu sein.

„In erbittertem Kampf mit den dunkelsten Mächten der Unterwelt und den finstersten menschlichen Absichten“ hätte Juden gelernt, in „zwielichtigen Zonen zu überleben.“ In der Apokalypse des Daniel wird diese letzthinige Unverletzlichkeit der Kinder Israel bestätigt: „… und die Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen, und sie werden das Reich behalten auf immer und ewig.“ ( Altes Testament > Daniel 7,18 / http://www.way2god.org/de/bibel/daniel/7/“ href=“http://www.way2god.org/de/bibel/daniel/7/“>Dan. 7,18)

Welche profanen Folgerungen müssten wir aus dem religiösen Geist Netanjahus und seiner Gefolgsleute ziehen – immer vorausgesetzt, Grossmans religiöse Analyse ist zutreffend?

Die liegen psycho-logisch auf der Hand: Netanjahu wird keinen militärischen Risiken aus dem Weg gehen, vor den fürchterlichsten Endzeitapokalypsen nicht zurückschrecken – um seinen höllischen Feind im Reich der Ajatollas für immer zu überwinden und die göttliche Verheißung in selbsterfüllender Prophezeiung zu realisieren: dass Israel die ewige Nation sei, die alle anderen Nationen überleben werde.

Der israelische Schriftsteller zieht diese Folgerungen nicht. Fürchtet er die Konsequenzen seiner religionskritischen Thesen? Graut ihm vor dem erwartbaren Vorwurf des Antisemitismus oder eines extrem jüdischen Selbsthasses?

Wären die Protokolle der Weisen von Zion nicht Petitessen gegenüber dem impliziten Vorwurf Grossmans, die Juden, als finale Sieger der Geschichte, könnten mitschuldig werden an einer potentiellen Endkatastrophe der Menschheit? Militäranalytiker befürchten nämlich, dass ein atomarer Konflikt zwischen Israel und dem Iran einen Weltbrand entzünden könnte.

In diesen Thesen steckt Sprengmaterial. Kein Wunder, dass Grossmans Artikel von keinem deutschen Schreiber aufgegriffen wurde. Ausgerechnet aus Israel erhält Günter Grass nachträglich indirekte Unterstützung.

Nach alter Feigheit Sitte lässt man hierzulande brisante jüdische Themen von – Juden abhandeln. Die zum heuchelnden Philosemitismus verpflichteten deutschen Eliten waschen ihre Hände auf ewig in Unschuld.