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Freitag, 06. Juli 2012 – Machina mundi

Hello, Freunde der Wissenschaft,

wissenschaftliche Ergebnisse sind keine Sachen des Glaubens, sie müssen von jedermann nachgeprüft werden können. Am besten im wiederholbaren Experiment mit physikalischen und mathematischen Methoden.

Das ist der große Vorzug der Naturwissenschaften, die Gemeinsamkeit der menschlichen Vernunft zu erweisen und zu bestätigen, unabhängig von Geschlecht, Rasse und Religion. Mit dem Durchbruch dieser nachweisbaren, allgemeinen Vernunft bei Newton, Galilei, Kepler begann die Epoche der europäischen Aufklärung.

Geisteswissenschaften müssen auf solch quantitative Experimente verzichten. Ihnen bleibt als Mittel der Verständigung nur die qualitative Methode der Schlüssigkeit und Folgerichtigkeit. Das setzt voraus, dass alle Teilnehmer des Diskurses sich auf die Methode der Logik einigen.

Einen bestimmten Glauben an die gemeinsame Vernunft muss man bereits mitbringen, um ihre Verlässlichkeit und Tragfähigkeit im Dialog oder Streitgespräch zu beweisen. Mit einem Kirchenglauben hat das nichts zu tun. Es ist eine hypothetische Selbsteinschätzung, die ich benötige, um mich in der Welt zu erproben. Einen Sprung vom Drei-Meter-Brett muss ich mir zutrauen – ich muss an mich glauben –, damit ich mich ins Wasser stürzen kann.

Wer diesen Glauben an die zwingende Konsequenz der Logik verweigert, wie die meisten Verehrer eines absurden Heiligen, der separiert sich in

die deklarierte Überlegenheit einer übermenschlichen Illumination. Eine Verständigung mit ihm per logischer Gesprächsmethode ist nicht möglich.

Das wäre solange belanglos, solange man sich aus dem Weg gehen könnte. Wollen Vernunft und Unvernunft aber zur gleichen Zeit dasselbe Feld der Gesellschaft beackern, ist‘s mit dem Frieden aus. Wer sich nicht verständigen kann, muss zu List und Drohung greifen, um die umstrittene Angelegenheit gewalttätig zu entscheiden. Dialogunfähigkeit ist der elementarste Grund, um Kriege zu entfesseln.

Die Wirtschaftswissenschaften, die sich noch immer als Natur- und nicht als Geisteswissenschaften betrachten, obgleich sie es mit unberechenbaren Menschen und nicht mit gesetzmäßiger Natur zu tun haben, sind gerade dabei, ihren Wissenschaftsstatus an der Garderobe abzugeben und in die Soutanen von Glaubensgemeinschaften zu schlüpfen.

Im Kontext der Euro-Krise entbrennt ein Glaubenskampf zwischen heftigen Kritikern und Befürwortern der Merkel‘schen Wirtschaftspolitik. Jetzt rächt sich die falsche Selbsteinschätzung einer Wissenschaft, die tut, als ob Zinssätze, Konjunkturentwicklung, Armut und Reichtum nichts wären als objektive Berechnungen mit Hilfe des Gravitationsgesetzes.

Die Faszination Newtons hatte eine verhängnisvolle Wirkung auf die Geisteswissenschaftler, die nun ebenfalls glaubten, den unverbrüchlichen Kausalitäten der Gesellschaft auf die Spur zu kommen, die man nach denselben Regeln berechnen könne wie den Flug des Pfeils ins Ziel.

Doch Menschen sind geprägt, sie sind nicht vollständig determiniert. Sie entscheiden sich nach moralischen Kriterien in einer breiten Skala aus bewussten bis unbewussten Motiven.

Die Kluft zwischen Moral und Naturgesetz zeigt sich schon exemplarisch bei Adam Smith, dessen erstes Werk ein moralisches Kompendium und dessen zweites die Beschreibung der nationalökonomischen Gesetze war. Die Bücher rieben sich, Gesetz und Moral bekam er nicht in Einklang.

Bei Marx nicht anders. Er glaubte, die wahren Gesetzmäßigkeiten einer modernen Gesellschaft derart genau auf den Punkt gebracht zu haben, dass er den weiteren Verlauf der Geschichte bis ins Reich der Freiheit lückenlos vorhersagen könnte. Das Räderwerk ginge seinen Gang unabhängig vom menschlichen Wollen und Tun. Lediglich die Räder könne der Mensch ein wenig beschleunigen oder nicht, das war‘s.

Weder bei den kapitalistischen noch bei den sozialistischen Gründungsvätern spielt Moral und Einsichtsfähigkeit des Menschen eine Rolle. Wenn die Gesetze der Geschichte allein entscheiden, ist er von moralischen Entscheidungen entlastet und schuldunfähig geworden. Ist er schuldunfähig, kann er sich auch keine Verdienste erwerben.

Die Naturwissenschaftler und Mathematiker unter den Ökonomen lehnen Eingriffe des Staates und der Politik in objektive Vorgänge ab. Wenn Staaten nicht wirtschaften können, erfolge die Strafe auf dem Fuß, sie ist nur die unvermeidliche Konsequenz aus determinierten Impulsen.

Anders die Interventionisten, die dem Menschen und dem Staat die Rolle zubilligen, Tatsachen nach moralischen Aspekten zu beurteilen und zu beeinflussen.

Der entbrannte Glaubensstreit beweist, dass Ökonomie keine Naturwissenschaft, sondern eine Geisteswissenschaft ist, die sich hartnäckig weigert, eine solche zu sein.

Ratingagenturen können den Ist-Zustand einer Bank oder eines Landes feststellen, aber nicht, was daraus folgen soll. Das Soll ist in dem Ist nicht enthalten. Wer Moral aus Fakten und Naturgesetzen und nicht aus seiner Vernunft ableitet, begeht einen „naturalistischen Fehlschluss“.

Dass Ratingagenturen ihre Testobjekte nach Nietzsches Motto behandeln, was fällt, das soll man auch noch stürzen, ist kein Naturgesetz, sondern eine moralische Entscheidung, die selbst moralisch bewertet werden muss.

Was nützen die Naturwissenschaften der Sinnstiftung des menschlichen Lebens? Sind sie nicht zu unbezahlbaren Glasperlenspielen einer kleinen Physiker-Elite entartet, die hin und wieder mit Sensationsmeldungen die Subvention ihrer exzentrischen Höhlenspielereien rechtfertigen muss? Wie jetzt wieder mit den Schlagzeilen, in Cern seien die lang ersehnten Gottesteilchen gefunden worden? Ist Gott eine Collage aus abgeriebenen Teilchen?

Der Begriff Gottesteilchen verleitet zur Assoziation, nun seien die Zentralmonaden der Natur gefunden worden, mit deren Hilfe man auf die Existenz Gottes schließen könne. Dabei ist der Begriff nur der PR-Gag eines pfiffigen Verlegers, der die Wutäußerung eines Physikers über diese „gottverdammten Teilchen“ als Anregung für die Gottesteilchen nutzte.

Der zwanghafte Sensationismus der Wissenschaftsjournalisten bringt es mit sich, dass notwendige Faktentreue zumeist auf der Strecke bleibt. Das Interview mit dem Physiker Harald Lesch veranschaulicht, wie lange es noch dauern könnte, um wirkliche hieb- und stichfeste Erkenntnisse zu gewinnen.

Ist es überhaupt legitim, nach dem philosophischen Ertrag naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung zu fragen? Harald Lesch meint, die Sache mit den Gottesteilchen könne kein Laie verstehen. Er sollte es gar nicht versuchen, sondern sich praktisch mit den Gefahren der Klimaveränderung beschäftigen.

Mit dem Rat hat er vermutlich Recht. Ob Physiker allerdings verstehen, was sie anderen nicht verständlich machen können, darf bezweifelt werden.

Seit Francis Bacons Devise: Wissen ist Macht, muss Wissenschaft ihre Daseinsberechtigung durch praktischen Nutzen unter Beweis stellen, der der Akkumulation der Macht zu dienen hat. Was nicht dem Machterwerb nützt, ist Geldverschwendung und Tandaradei.

Warum soll ausgerechnet die Erkundung schwarzer Löcher und dunkler Materie im tiefen, tiefen Universum der Erhellung des winzigen Stäubchens homo sapiens auf einem belanglosen kleinen Planeten namens Erde dienen? Ist das nicht hybride Selbstüberschätzung eines Nichts, das noch immer Mittelpunkt einer sogenannten Schöpfung sein will?

Die griechische Philosophie begann in Jonien – der heutigen türkischen Mittelmeerküste – mit Naturphilosophie. Es dauerte etwa 150 Jahre, bis Sokrates die ketzerische Frage stellte: Was weiß ich über mich, wenn ich die äußere Natur kenne? Sagen mir die Planetenbahnen, was für ein Wesen ich bin?

Zu Phaidros spricht er unter einer schattigen Platane in der größten Mittagshitze: „Halt mir‘s zu gut mein Bester. Ich bin eben lernlustig. Die Felder und Bäume nun wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt.“

Das ist die berühmte Rückwendung der Naturphilosophie zur Anthropologie, der Erkenntnis des Menschen.

Sokrates, schrieb Cicero später, habe die Philosophie vom Himmel zur Erde heruntergeholt. Kann es sein, dass wir uns in einer ähnlichen Situation befinden? Kann es sein, dass die Naturwissenschaften bedeutungslose Erkenntnisse anhäufen – auch wenn sie ihr phänomenales Wissen um den Urknall zur Erfindung ganz neuer Teflonpfannen nutzen könnten?

Das Motiv der Bäumeverehrung übernimmt Bertold Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“:

„Was sind das für Zeiten, wo

Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“

Das ist eine heftige Anklage gegen deutsche Naturlyriker im Dritten Reich, die ungerührt ob der Schlächtereien des Nationalsozialismus Gedichte im Ton des Novalis verfassten.

Heute können wir Bäume und Menschen nicht mehr gegeneinander ausspielen. Wer die Natur hasst, respektiert weder Pflanzen, noch tierische oder menschliche Lebewesen.

Die sokratische Wendung war keine Absage an die Naturphilosophie, denn der Mensch war selbst Natur. Sie bedeutete deren Komplettierung. Die Erhellung der menschlichen Natur konnte dem Menschen dienen, seine politischen und menschlichen Angelegenheiten zu verstehen und nach verständigem Maß zu ordnen.

Erst das Christentum trennte den Menschen von der Natur und zerlegte das Sein in zwei unverträgliche Teile: in die unsterbliche Seele des Menschen und die verrottete sündige Natur.

Der griechische Kosmos war eine Einheit, der Mikrokosmos ein Abbild des Makrokosmos. Alles war mit allem verbunden, alles war lebendig und organisch.

Das mechanische Weltbild entstand erst zu Beginn der Neuzeit, als man die Natur in eine Maschine, eine machina mundi verwandelte. Zu einem riesigen Uhrwerk, dessen Bestandteile nur äußerlich miteinander verbunden waren und nach Belieben kaputt gehen und durch mechanische Reparatur wieder hergestellt werden konnten.

Die ökologische Bewegung hat das mechanische Uhren- und Maschinenmodell als Hauptquell der Naturfeindschaft herausgestellt und angeklagt. In der Neuzeit kulminiert das mechanische Modell in den gegenwärtigen Verwüstungen der Natur, die uns als Klimaveränderungen das Leben schwer zu machen beginnen.

Amerika stöhnt unter Gluthitzen, viele Regionen Afrikas werden vermutlich aufgegeben werden müssen, die Ureinwohner fliehen und drängen nach Europa, das sich mit undurchdringlichen Mauern verpanzert und verschließt.

Doch die wenigsten wissen, dass das mechanische Naturmodell in der Neuzeit nicht konkurrenzlos war. Ab Paracelsus gab es in Deutschland das organische Naturmodell, das die Natur als ein lebendiges Wesen ansah und ihre technische und kapitalistische Beschädigung ablehnte. Nicht anders wie jene Indianer, die den Pflug ablehnten mit der Begründung: sollen wir unsrer gemeinsamen Mutter Natur den Bauch aufschlitzen?

Das organische Modell wurde von Hegel und Schelling übernommen und beherrschte noch die Epoche der Romantik, bevor es als nutzlose und spekulative Naturphantasterei zu Beginn der Industrialisierung ad acta gelegt wurde. Eine Naturerkenntnis nur im Kopf? Ohne Messen, Zählen, Rechnen und Experimentieren? Ohne praktisch materiellen Nutzen?

Um 1830 verwarf eine neue Generation von Naturwissenschaftlern das Erbe der deutschen organischen Naturphilosophie und ging mit wehenden Fahnen zur Newton‘schen Form der ausbeutenden Naturwissenschaft über, die nur noch dem biblischen Motto folgte: macht euch die Erde untertan.

Das organische Naturmodell hingegen stand in der Tradition der platonischen Naturphilosophie, niedergeschrieben im Werk Timaios, in welchem Platon die Natur als ein Lebewesen beschrieb.

Vom jungen Schelling übernahm Marx die Ahnung einer Harmonie aus Natur und Mensch und stellte die Materie in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Doch seine Materie war nur eine reduzierte Natur. Der komplette Mensch mit Denken, Fühlen und moralischem Entscheiden wurde aus dem Bereich der Materie ausgeschlossen und einer idealistischen Illusionswelt zugezählt.

Die Erfüllung der harmonisierenden Ahnung verlegte er auf den St. Nimmerleinstag, ins Reich der Freiheit. Solange der Sozialismus noch nicht im Paradies angekommen war, galt ungebrochen die kapitalistische Ausbeutung der Natur, deren Beute nur gerechter verteilt werden sollte.

Die heutige Ökologiebewegung lehnt das mechanische Naturmodell ab und gräbt die untergegangene deutsche Naturphilosophie wieder aus, um der herrschenden Naturfeindschaft ein konkurrierendes Modell entgegenzustellen.

In diesem Dilemma stehen wir heute: auf der einen Seite das berechenbare, rational daherkommende und nützliche Maschinenmodell, das gleichwohl der Natur die Gräten bricht.

Auf der anderen das schwärmerisch klingende, romantische Organismus- oder Ganzheitsmodell der Natur, das gleichwohl die Natur schonen will, die der Körper unserer aller Mutter ist, den wir beschützen und bewahren müssen.

Da stehen wir nun wie Artisten in der Zirkuskuppel – ratlos.