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Feierbiester

Hello, Freunde der Feierbiester,

gestern muss in Deutschland etwas Ungeheures geschehen sein. Das Land taumelte ins Reich der Freiheit, in den Garten Eden der Liebe und des Glücks. Dieselben Germanen, die eben noch jede Utopie verhöhnten, hörten Schalmeien des Himmels. Neutrale Beobachter aus anderen Ländern zogen biblische Vergleiche: sie sind voll süßen Weines. Was war geschehen?

Deutschland hat sich als Volk gefunden, vereint im Glück. Vereint in der Liebe. Unglaublich, stammelte glückstrunken ein weiser alter Mann in BILD. (Franz-Josef Wagner in BILD)

Wenn ein Volk sich in Glück und Liebe gefunden hat, hat es das Ende der Geschichte erreicht. Weitere Steigerungen sind ausgeschlossen. Zufrieden darf ein Volk nicht sein, selbst-zufrieden schon gar nicht. Aber von sich selbst berauscht sein, das darf es. Das muss es, das ist patriotische Pflicht.

Ich bin kein Idiot, ich bin ein Fußball-Patriot, schrieb Schöngeist Helmuth Karasek in BILD und verfasste einen hintersinnigen Essay: Warum Deutschland von Franz Kafka zu Franz Beckenbauer und Yogi Löw übergehen muss? Kafka war kein Siegertyp.

Ein Ex-Pressechef Schröders sprach von Mut und Erfolg. Ein ganzes Volk habe gewonnen. „Ehrgeizig und emotional, selbstbewusst und im größten Triumph doch bescheiden. Neue deutsche Tugenden.“ (Béla Anda in BILD)

Nicht ein Gottessohn wurde in Berlin geboren, sondern ein neugeborenes Götter- und Gigantenvolk mit ganz neuen Tugenden, von denen man hierzulande noch nie gehört hatte: Ehrgeizig! Emotional! Das hat es in Deutschland

noch nie gegeben. Bescheiden im größten Triumph! Dann war es wohl nur eine paradoxe Intervention, als ein Ballett kraftstrotzender Männerbeine die Argentinier zu gebückten Rinderhirten, die Brasilianer zu lächerlichen Angeberbubis degradierte.

Die argentinische Sportzeitung kommentierte: „Die Deutschen denken, sie schauen von oben herab. Sie halten sich für eine andere Rasse.“ (SPIEGEL Online)

Die besiegten Ghanaesen wurden mit geschälten Bananen und lautmalerisch gelungenem Uh, Uh, Uh bedacht. Halt, diese Nummer wurde von Spaßbremsen – warum denn nur? – im letzten Augenblick verboten.

Nur germanische Herrenmenschen gehen aufrecht und mit breiter Brust. Das Rassistenballett wurde von Mietlingen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, wie gewohnt, in professioneller Distanz moderiert und dem in Trunkenheit vereinten Volk auf mehreren Kanälen präsentiert.

Noch immer wissen wir nicht, worum es ging. Jetzt lüftet sich langsam der Schleier, die Kameras erfassen die Hintergrundkulissen des Trampelballetts. Es muss um eine Siegesfeier gehen.

Burschi, ich hab‘s: Daimler hat seine Werbe-Ikonen einfliegen lassen, die den Ruhm der deutschen Tüchtigkeit in postpubertienender Rüpel-Ästhetik verkündigen. Es geht um die besten Autos der Welt. Und: die deutsche Malocher- und Leisternation feiert ihren neoliberalen Sieg über Schwellenland Brasilien, über Bankrottland Argentinien, wo amerikanische Gerichtsvollzieher demnächst die letzten Pampagroschen eintreiben werden, um zwei Hedgefond-Milliardäre auszuzahlen, die es nicht ertrugen, dass ihr 50-Sterne-Land nichts von Fußball versteht.

„Ihr habt den Papst“, riefen die deutschen Feierbiester, die ganz vergessen hatten, dass sie auf den armen Franziskus standen. Der deutsche Fußballpapst Benedikt war ihnen plötzlich lieber. Der hatte das Gebetsduell gegen seinen argentinischen Nachfolger in der Verlängerung knapp gewonnen.

Dürfen deutsche Christen um den Fußballsieg beten, hatte Frau Käßmann eine Frage in der BILD gestellt, auf die niemand gekommen wäre und die unerwartete Antwort erteilt: Natürlich. Nicht nur die Deutschen, auch die Argentinier dürfen, das ist wahre spirituelle Toleranz. Und also sind die Deutschen gegen die argentinischen Gouchos angetreten. Gott war auf der Seite der Tüchtigen.

Sind die Deutschen wieder Rassisten? Nein, sie sind Erfolgsrassisten. Wer Erfolg hat, gehört zu einer eigenen Klasse. Da kann er schwarz oder gelb sein. Deutschlands alter Gott ist der Erfolg. (Das Match „Gott gegen Teufel“ hat Gott – mit unfairer Hilfe seines nach der Halbzeit eingewechselten Sohnes – klar für sich entschieden, die finale Siegesfeier steht noch aus.)

Nicht nur für Sarrazin – gelobt von allen Helmut Schmidts der Schröderpartei – bürgt Intelligenz und Erfolg für eine gehobene Rasse. Auch Merkel nimmt stets Partei für israelische Sieger und gegen palästinensische Loser. Die Täter- und die Opfernation haben sich verbunden, um gemeinsam auf einer Verlierernation herumzutrampeln.

Wer sich mit Losern verbindet, gehört selbst zu ihnen. Nachdem die Deutschen zwei Weltkriege gelosert haben, schworen sie sich, nie mehr zu den Verlierern zu gehören. Sie haben Wort gehalten. In allen Dingen sind sie inzwischen Weltmeister, sagte SWR2. Vom BIP über Bach und Beethoven bis zur Viererkette.

Probleme? Haben wir keine mehr. Zwar sind wir die Blinddarmfortsätze der USA und werden von der NSA abgeschöpft – doch das ist alles künstliche Hysterie. Haben wir denn etwas zu verbergen? Sollen wir all unsere Trophäen im Keller verstecken?

Merkel ist ein Glückskind, pardon, der Segen des Himmels ruht auf der Magd Gottes. Sie muss einen besonderen Draht nach Oben haben. Anders wäre ihr Erfolgsweg aus dem protestantischen Pfarrhaus inmitten gottloser Feinde hin zur mächtigsten, ach was, zur mächtigsten und beliebtesten Politikerin der Welt ein ordinärer Zufall. Das kann im Lande Luthers nicht sein.

Angela vereint Maria und Martha in einer Person. Martha wuselt und macht sich viel zu schaffen mit der Bedienung, doch Maria setzt sich zu Füßen des heiligen Mannes. Als Martha sich beschwert, Maria tue nichts, sagt der Herr: „Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um viele Dinge. Weniges aber ist not. Maria nämlich hat das gute Teil erwählt und das soll nicht von ihr genommen werden.“

Seitdem tut Merkel nur, als ob sie täte. In Wirklichkeit sitzt sie den ganzen Tag vor den Füßen des Herrn, lässt ihre Leute wursteln und – hat Erfolg. Schon hört man aus gut informierten Kreisen, Merkel plane ihren Abgang über Nacht. Wie im „Wunder des Malachias“ werde sie im Nu aus dem irdischen Sündenpfuhl auf die Insel der Seligen verpflanzt.

Wunder kommen nicht über Nacht. Sie müssen erarbeitet werden. Jetzt sind wir noch in der Zeit der Vorwunder.

Die Großen unseres Landes haben es schon immer gewusst. Wie lange mussten sie für diesen nationalen Triumph arbeiten, unter neidischem Protest der Öffentlichkeit ihre riesigen Boni einstecken, die sich im Nachhinein als gerecht erwiesen haben.

BILD hat die Granden der Wirtschaft versammelt und siehe, für sie ist es kein Rätsel, warum ihre Werbeträger gewonnen haben:

Lufthansa-Chef Spohr spricht – völlig gefasst – von Disziplin, Zusammenhalt, Leidenschaft und dem unbedingten Willen, zu siegen. Am Ende stehe der verdiente Erfolg. In der Tat, alles unbekannte deutsche Tugenden.

Dann kommen die Fußball- und Erfolgsexperten VW-Chef Martin Winterkorn, Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller (damit auch eine Frau dabei ist). Als Frau betont sie Vernetzung, Zusammenhalt und Teamgeist, damit nicht nur die unterschiedlichen Führungsqualitäten der Frauen deutlich werden, sondern der allgemeine Geist unseres Volkes ins rechte Licht gerückt wird. Bei uns gibt’s kein Auseinanderfallen der Gesellschaft, keine Klassenkämpfe (Verzeihung, Münte, wie recht Du hattest), keine Schwachen und Abgehängten. Bei uns gibt’s nur Solidarität im Geiste der katholischen Soziallehre.

Wenn gefeiert wird, tanzen Zetsche und Hartz4-Faulenzer vernetzt auf dem Tisch, dass der Bär steppt. Auch der Intellektuelle vom Dienst muss aus seinem griesgrämigen deutschen Herzen keine Mördergrube machen. SPD-Haushistoriker Prof. Heinrich August Winkler nimmt endlich das neue Losungswort in den Mund: Das Wir-Gefühl.

Der Liberalismus mit seinen egozentrischen Ichs: vorbei! Jetzt kommt das völkische Wir. Ein Volk, ein Fußball, ein Wir. Von der Maas bis an die Memel. „Ein deutscher Patriotismus der Freiheit richtet sich gegen niemanden, schließt niemanden aus, ist weltoffen“, sagte der Professor. Da muss er die Verhöhnung der südamerikanischen Viehhirten noch nicht gesehen haben.

Und Commerzbank-Chef Blessing weiß mit Sicherheit, dass Erfolg Fußball und Wirtschaft mit dem ganzen Leben verbindet. Triumphaler kann der Erfolg des Neoliberalismus nicht sein. Mandeville ist überwunden. Die öffentlichen Laster sind über den kleinen Umweg privater Tugenden zu öffentlichen Tugenden weißgewaschen worden.

Familienministerin Schwesig serviert noch das notwendige Quäntchen Gefühl und spricht von Freude – mit der man Unglaubliches erreichen kann. Womit wir bereits unbemerkt das Reich des Glaubens überschritten, unsere Grenzen gesprengt und den Raum des Wunders betreten haben. Den Rest der Laudatoren ersparen wir uns. (BILD)

Wirtschaft, Politik und Geist: alle sind vereint in deutscher Selbstbewunderung – in Bescheidenheit und Demut, versteht sich.

Deutschland hat die Makel seiner dunklen Biografie endlich hinter sich gebracht. Sie sind nicht nur die Tüchtigsten, sondern auch die Beliebtesten in der Welt. Das sollen ihnen die USA erst mal nachmachen.

Jetzt erkennen wir endlich die List der Vernunft. Vor 1945 machten die Deutschen den entscheidenden Fehler: sie wollten die Ersten sein und sagten es breitmäulig der ganzen Welt. Doch Sünden wider den Geist bestraft der Gott sofort. Die Deutschen haben ihr Neues Testament nicht ernst genommen. „Wer unter euch der Größte sein will, der sei euer aller Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei euer aller Knecht.“

Nach dem Krieg krochen sie – wenn auch ziemlich unfreiwillig – auf dem Zahnfleisch. Und sieh: die Herzen der Völker jauchzten ihnen zu. Bis heute.

Da der Australier Clark ihnen verboten hat, aus ihrer Geschichte zu lernen – um ihnen eine hinterhältige Falle zu stellen –, sind sie seit gestern schon wieder auf dem Kurs ihrer fatalen Vorkriegsfehler. Schon wieder heben sie ab – und werden mit Sicherheit auf der Schnauze landen. Haben sie mit dem 7:1 gegen Brasilien nicht ihre Mondlandung (so die FAZ) vollbracht?

Nein, die Deutschen sind keine Rassisten. Sie machen nur kleinere Unterschiede zwischen den Rassen. Aber nur unter dem Kriterium ihrer Tüchtigkeit.

Familien sind, wenn‘s nach der CDU geht, der unantastbare Kern der abendländischen Gesellschaft. Wenn ein Deutscher aber den Fehler begeht, eine Ausländerin zu heiraten, dann ist die Ehe nicht mehr ganz so heilig.

Die angeheiratete Fremde muss erst noch einen Sprachtest bestehen, bevor sie für den deutschen Staat Kinder gebären darf. Man könnte sich ja im Bett missverstehen, wenn der einheimische Mann Verhütung meint und seine fremde Liebste an süße kleine Babys denkt.

Vor die eheliche Lust hat der deutsche Staat den Sprachtest gesetzt. Aber nicht bei allen Rassen. Bei den hochwertigen wie den Koreanern (die in Pisatests immer am besten abschneiden), Israelis, EU-Bürgern und Nordamerikanern sind Tests überflüssig. Bei Russen, Thailändern und sonstigen sprachbehinderten Rassen hingegen muss das Sprach-Zertifikat bei der Taufurkunde liegen. Keine Taufurkunde? Da hätte ich eben doch glatt gewettet. Selbst die Türken sind vom Zeugniszwang gerade erst befreit worden.

„Will die Union wirklich, dass es im Ausland heißt: Kind, heirate bloß keinen Deutschen!?“ fragt Daniel Bax in der TAZ. Und gibt auch gleich die Antwort: „Der obligatorische Sprachtest jedenfalls ist ein bürokratischer Liebestöter.“

Ausgerechnet die christlichen Liebesparteien setzen Liebestöter ein, um ungeliebte zweitrangige Rassen von ihrem Territorium fernzuhalten.

Womit wir endgültig in den Niederungen der europäischen Politik gelandet wären. Da wurde den Völkern vorgegaukelt, die europäischen Wahlen würden das Duell zweier ehrenwerter Männer um den Spitzenplatz in Brüssel entscheiden. Cameron aber, der Spielverderber, wusste nichts von solchen verfassungswidrigen Grundsätzen und lehnte den „Sieger“ Jean-Claude Juncker als ersten Mann rigoros ab. Aus neu gewonnenem Selbstbewusstsein und aus Trotz gegen Cameron wählte das Europäische Parlament den Luxemburger mit großer Mehrheit.

Doch was müssen wir bei Ulrike Herrmann lesen? Der Gewählte sei ein Steuerdieb, schreibt sie in der TAZ:

„Denn niemand hat Europa mehr geschadet als dieser Luxemburger, der sein Heimatland gezielt zur Steueroase ausgebaut hat. Sein Geschäftsmodell ist ganz einfach: Man bietet Steuerkonditionen auf Ramschniveau – und bastelt sich damit einen internationalen Finanzplatz. Man klaut die Steuergelder seiner Nachbarn, um selbst reich zu werden.“

Aus neoliberalen Gründen hat Cameron Juncker abgelehnt, der sich bei näherem Hinsehen als perfekter Kandidat des neoliberalen Räubersystems erweist. Und dieses Europa will in der Welt ernst genommen werden?

Da höre ich eine sonore Stimme aus dem Hintergrund: Hey, Fußballbanause, du nimmst eine deutsche Sause viel zu ernst. Streich den ganzen Schrott, den du über die deutsche Jubelfeier geschrieben hast. Morgen weiß kein Deutscher mehr, was er im Vollbesitz seiner Selbstvergötzung gebrabbelt hat.

Wenn Deutsche wieder normal geworden sind, sind sie die besten und verträglichsten Touristen der Welt. Und lieben die Menschheit wie sich selbst.