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Faustschlag

Hello, Freunde des Faustschlags,

wer traut sich, dem Heiligen Vater eins mit der Faust zu verpassen? Sollte sein Freund, sagte der oberste Agapeur der Welt – der himmlische Charmeur, der 99% der Menschheit ins Feuer schicken darf –, seine argentinische Mutter beleidigen, kriege er eins mit der Faust in die Fresse. Pardon, Fresse sagte er natürlich nicht, militante Päpste formulieren mit überirdischem Wohlgeruch.

Wenn jedoch die Liebesreligion des Papstes Mensch, Welt und die gesamte Natur nicht nur beleidigt, sondern gnadenlos zerstört – dann, was dann? Dann fordert der Vater aller Christen Anbetung und bedingungslose Unterwerfung.

Die Zerstörung des Irdischen ist Kern seines Glaubens, seinen Zorn auf Ungläubige und seinen Hass auf das Universum, das er zur Schöpfung seines Gottes degradiert, nennt er das Heilige. Wehe, wenn ein Gottloser das Heilige beleidigt – der kriegt eins mit der päpstlichen Faust ins gottebenbildliche Angesicht.

Die päpstliche Faust ist Stellvertreterin der göttlichen; wen der Papst trifft, den trifft Gott. Wenn Gott die in „Sünde gefallene Schöpfung“ in Rauch und Asche verwandelt und alle Glaubenslosen ewig quält und foltert – dann singen die Heiligen Halleluja und bejubeln den Sieg ihrer dreieinigen Götter in Ewigkeit Amen.

„Schrecklich ists, dem lebendigen Gott in die Hände zu fallen. Gott ist ein verzehrend Feuer, ein eifersüchtiger Gott. Die Gottlosen wird er vertilgen, und er wird sie

vor dir niederwerfen, so wirst du sie vertreiben und rasch vernichten, wie dir der Herr verheißen. Unser Gott ist ein vernichtendes Feuer.“

(SPIEGEL Online)

In welchem Maß homo christianus, der Herr der Welt, die Natur bereits vernichtet hat, zeigt ein wissenschaftlicher Bericht, der jetzt mit neuen aktuellen Zahlen veröffentlicht wurde:

„Die menschliche Aktivität sei so dramatisch gestiegen, dass die „relativ stabile Epoche“ der vergangenen 12.000 Jahre „destabilisiert“ werde. In vier von neun Bereichen habe die Menschheit den sicheren Bereich bereits verlassen, der das Fortbestehen stabiler Verhältnisse garantiert, schreibt Will Steffen vom Stockholm Resilience Center. Durch das Überschreiten dieser Grenzen erhöht sich das Risiko, dass der Einfluss des Menschen die Erde weniger lebensfreundlich macht, dass Bemühungen zur Armutsbekämpfung beeinträchtigt werden und dass sich das menschliche Wohlergehen in vielen Teilen der Welt verschlechtern könnte, auch in reichen. Seien bestimmte Schwellen erst überschritten, könnten womöglich auch Gegenmaßnahmen den Verfall des Erdsystems nicht mehr aufhalten. (SPIEGEL Online)

Die christliche Kultur, aufgestiegen zur Despotie über die Welt, fährt fort, ihren apokalyptischen Glauben ohn Erbarmen zu vollstrecken. Himmel und Erde werden vergehen, doch ihre Worte werden nicht vergehen. Wozu benötigt der Mensch den natürlichen Himmel und die materielle Erde? Soll er sich doch von unsterblichen Worten nähren. Die Menschenbrut hat kein irdisch Brot? Soll sie doch Manna und himmlischen Kuchen schlampampen!

Aus professionellen Gründen sollten Werbespezialisten Heilige Schriften studieren. Dann könnten sie lernen, wie man in Vollmacht sein Produkt unter die Menschheit bringt.

a) Das eigene Heilsprodukt ist unschlagbar, denn es ist allmächtig, allwissend und allpräsent.

b) Es ist die persönliche Creation eines einmaligen und unvergleichlichen Creators.

c) Die ganze Weltgeschichte wurde nur um der Lieblinge des Creators willen erschaffen. Sie werden den finalen Wettbewerb gewinnen, über die verdammten Loser richten und urteilen.

d) Die Creation im eschatologischen Flacon Nr. 5 löst alle Probleme – Mitwirken der religiösen Konsumenten überflüssig, ja, schädlich. Beten, Hoffen und ergebenes Ducken genügen.

e) Wer das Produkt kauft, lebt ewig in Herrlichkeit und Freuden.

f) Wer nicht, wird es höllisch bereuen.

g) Die Garantie des Höchsten für das himmlische Manna höret nimmer auf.

h) Noch Fragen, Kienzle?

Ein großmäuligeres Imponiergehabe können nicht mal deutsche Professoren vorweisen, die vom listigen Theologen Scobel – der sich in 3-SAT als Intellektueller ausgeben darf – mit ellenlangen Titeln vorgestellt werden. Nach pompöser Vorstellung fällt niemandem mehr auf, dass drei nichtssagende graue Männlein am Tisch sitzen.

Werbepsychologen, studiert die ecclesia triumphans. Dann braucht ihr keine nackten Weiber mehr, um euren Tand zu verkaufen. Der Allmächtige schlägt alle nackten Weiber.

Alles in der Moderne ist Konstruktion, Erfindung und Erdichtung des Menschen, selbst natura realissima. Natur an sich gäbe es nicht, wenn der Mensch, vor allem der deutsche, sie nicht höchstselbst „konstituieren“ würde.

Was ist die Welt? fragte ein deutscher Tiefdenker und antwortete sich: die Welt ist mein Wille und meine Vorstellung. Gäbe es keine deutschen Denker, die rund um die Uhr konstituieren würden, gäbe es nicht die leiseste Andeutung einer Welt. Undankbare Welt, merk dir das.

Alles in der Welt ist Konstruktion – nur das Heilige nicht. Das Heilige ist objektiv, gottgegeben und muss vor unflätigen Angriffen der Heiden in Schutz genommen werden. Religion ist das Allerheiligste. Wer das Allerheiligste schändet, ist des Todes würdig. Welt dagegen ist unheilig und kann weg.

Die Inquisition war nicht nur die Faust, sondern das Schwert des Papstes. Nicht dass er sich seine heiligen Finger selbst schmutzig gemacht hätte. Als geistliches Schwert benutzte er das weltliche. Im Auftrag des geistlichen Schwerts musste der Staat seine Untertanen höchst selbst massakrieren. Zum Dank für seine minderwertigen Dienste muss der Staat – als civitas diaboli – eines Tages in der Hölle verschwinden. Der Mohr hat seinen Dienst getan, der Mohr kann gehen.

Alle Übel dieser Welt kommen vom Staat, der heillosen Politik der civitas terrena. Dies hat der im Zweifel linke (und ohne Zweifel päpstlich erleuchtete) Irrwisch des SPIEGEL auch schon entdeckt. Mit Religion haben die Probleme der Welt nichts zu tun, dekretiert der flotte Meinungsimpressionist, der bereits nach 2000 Jahren das Niveau des Kirchenvaters Augustin erreicht hat. Die Deutschen sind wie immer ein bisschen hintendran. „Hört mit der Religion auf! Es geht nicht um Religion – es geht um Politik.“ (Jakob Augstein in SPIEGEL Online)

Ist es nicht sonderbar, dass Religion das Wichtigste im Leben der Gläubigen ist, in ihrem konkreten Alltag aber keine Rolle spielen soll? Noch immer funktioniert die uralte biblische Schuldzuweisung. Alles Gute kommt von Gott und seinen Lieblingen, alles Böse von der Welt und ihren Satansbraten. Der Staat bleibt im Neoliberalismus der Hort alles Schlechten und Minderwertigen; Kirche und Wirtschaft hingegen sind exzellente Vertreter der evangelischen Freiheit.

Obgleich der heilige Jakob nicht an die politische Wirkung der Religion glaubt, zitiert er inquisitorische Stellen der Schrift, die das Abendland brandmarkten: „«Wer des HERRN Namen lästert, der soll des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen.» Das steht nicht im Koran, sondern im Levitikus. Und dass die Schwulen nicht in den Himmel kommen, lehrt uns Paulus. Schon richtig, im Westen wird niemand gesteinigt.“

Warum wird im Westen nicht mehr gesteinigt? Bestimmt nicht aus eigener Kraft und Kompetenz. Kann es sein, dass heidnische Aufklärung den Kirchen Humanität und Toleranz mühsam abnötigen und abtrotzen musste?

Religionen, sagt der katholische Grüne Kretschmann, müssen sich selbst regelmäßig reinigen. Womit nur, wenn sie selbst verseucht sind, oh Bruder Kretsch? Mit der Säure der griechischen Vernunft, die identisch ist mit der Vernunft der Menschheit, oh Bruder Jakob.

Hallo, Geschwister in aller Welt, ihr werdet‘s nicht glauben, aber es ist so: die Deutschen wissen nicht mehr, was Aufklärung ist. Sie wissen nicht, dass Hegel und die Romantiker die kantische Aufklärung verflucht haben. Dass die nationalsozialistische Seuche die pestilenzische Frucht dieser Abkehr von menschheitsverbindender Vernunft und Humanität war. SOS an alle Brüder und Schwestern dieser Welt, lasst uns mit diesen Deutschen nicht allein.

Fragt einen CDUler nach dem Abendland und er faselt nur von der „christlich-jüdischen Tradition“, die Europa geprägt habe. Von Athen wissen sie nichts mehr. Dass die moderne Aufklärung die zum Leben erweckte griechische Philosophie war – ist ihnen unbekannt. Wie wär‘s mit Popper, dessen „offene Gesellschaft“ momentan von allen Lammerts und Augsteins zitiert wird, obgleich sie das Buch nie in der Hand hatten?

Oh Welt, Welt, es ist keine Übertreibung: außer Autos bauen und Geld scheffeln können die Deutschen nichts mehr. Der Rest ist Angeberei.

Popper spricht von der Großen Generation Athens, die „einen Wendpunkt in der Geschichte der Menschheit“ bedeutete. Diese Generation habe uns gelehrt, dass die menschliche Geschichte nicht von Göttern, magischen Tabus oder sonstigen übermenschlichen Mächten bewirkt werde, sondern dass sie „vom Menschen geschaffen“ und von ihm allein zu verantworten sei:

„Da war die Schule des Gorgias – Alkidamas, Lykophron und Antisthenes, die die rationalen Grundsätze eines Antinationalismus, die Grundsätze eines universalen Reiches der Menschen entwickelten und der Sklaverei den Kampf ansagten. Und da war Sokrates vielleicht der größte unter ihnen, der lehrte, dass wir der menschlichen Vernunft vertrauen, uns aber vor dem Dogmatismus hüten müssen, dass wir uns von der Misologie, dem Misstrauen an der Vernunft, fernzuhalten haben.“ (Popper, Die Offene Gesellschaft)

Heute wird in deutschen Gazetten – besonders in linken – der Vernunft misstraut. Man solle, schreibt die TAZ, irrationalen Horden nicht mit Vernunft kommen, sondern mit „Symbolpolitik“. Vernunftlose Gefühle sollten mit vernunftlosen Emotionen kuriert werden. Ist das nicht das Rezept des kapitalistischen Konsumterrors, ja aller totalitären Einpeitscher der Massen?

Man solle, schreibt der SPIEGEL, mit solchem Abschaum wie Pegida gar nicht erst reden. Just dies nennt Popper Hass auf die Vernunft. Ohne Vernunft aber keine Demokratie. Sokrates sprach mit allen, die mit ihm sprachen. Wer der Vernunft nicht mehr zutraut, die Unvernunft Fehlgeleiteter zu überwinden – nicht von heute auf morgen –, der hat die Demokratie verraten.

Um ihre Überlegenheit zu demonstrieren, stilisieren sich die deutschen Linken zu platonischen Klugscheißern, die sich mit Abscheu von den Massen abwenden, um diese von oben zu lenken und zu leiten.

Deutschland hat sich zum Pfuhl der Gegenaufklärung entwickelt. Wäre das Land der Täter nicht eingehakt im Reigen seiner Nachbarn, längst wären wir wieder ins Reich der aufpeitschenden Unvernunft und des kollektiven Menschenhasses zurückgefallen.

Dabei machen die Deutschen fromme Gesichter, dass Gott erbarm. Immer vorneweg Madonna Merkel, die es fertig bringt, die fremdenfeindlichen Pegadisten – die meisten von ihnen sind Ex-CDUler – anzugiften, um im selben Moment die Deutschen zu ermahnen, sich selbstbewusst auf ihre christlichen Werte zu besinnen.

Welt, das musst du dir vorstellen. Von religiösen Fanatikern werden in Frankreich Satiriker hingerichtet, die mit ihren Zeichnungen den fanatischen Kern der Erlöser attackierten. Die Deutschen solidarisieren sich mit den Franzosen – und stellen die Sicht der Franzosen auf den Kopf.

Nach BILD kommt das Übel von den Gottlosen. Nach Merkel war das Attentat eine Gotteslästerung. Nein, kein Verbrechen an der Menschheit, kein Angriff auf demokratische Grundgesetze, sondern eine todeswürdige Blasphemie. Wie lange noch, und Merkels Pegidahorden werden Treibjagd auf Nichtgläubige, Atheisten, Agnostiker und Religionskritiker veranstalten?

Sind christliche Werte demokratische Werte? In diesem Land ist der frömmelnde Ungeist derart versteinert, dass Historiker ihren jesuanischen Kinderglauben als Leitstern ihrer wissenschaftlichen Arbeit nutzen. In einem SPIEGEL-Interview behauptet der staatstragende Historiker Heinrich August Winkler, dass die Würde des Menschen „jüdisch-christlichen Ursprungs sei, der Gedanke der Gewaltenteilung auf das Jesuswort zurückginge: gebt dem Kaiser, was des Kaisers, Gott, was Gottes ist“.

Versteht sich von selbst, dass kein SPIEGEL-Interviewer daran denkt, kritisch nach Gründen und Belegen dieser geschichtsfälschenden Meisterleistung zu fragen. Das Jesus-Kartell deutscher Eliten ist hart wie Kruppstahl. Das Trauma ihres Völkerverbrechens ist für die Deutschen zur Kollektivdemenz geworden.

Den Sophisten hatte Sokrates vorgeworfen, sie wüssten nicht, dass sie nichts wissen. Den heutigen Deutschen müsste er exakt dasselbe sagen. Wie kann unter dem Willkürregiment eines rachsüchtigen und eifersüchtigen Gottes, der die Massen seiner Geschöpfe im Pfuhl der Hölle begraben wird, so etwas wie menschliche Würde entstehen? Sündenkrüppel besitzen keine Würde; außer infernalischer Strafe verdienen sie – nichts. Jede Gnade ist unverdient.

Jesu Wort: gebet dem Kaiser … war nicht der Ursprung der Gewaltenteilung – hätte der Pantokrator seine Macht ausgerechnet mit einem heidnischen Kaiser geteilt? –, sondern prophetische Absage an die Welt. Lasst sie noch eine Weile, die stolzen Heiden, bald ist ihr lästerliches Spiel vorbei. Bald werde ich als Herrscher des Universums zurückkehren und ihnen den Hobel ausblasen.

Warum sind Franzosen und Deutsche politische Freunde, emotional und intellektuell aber können sie nichts miteinander anfangen? Weil Franzosen aus Überzeugung religionskritische Laizisten sind und die Deutschen unterwerfungsbereite romantische Frömmler.

Gewiss, einige „entmythologisierende“ Elemente haben sie ihrem Glauben einverleibt. Stolz wissen sie, dass der Schöpfungsbericht kein naturwissenschaftliches Dokument ist – im Gegensatz zu biblizistischen Amerikanern, die sie wegen ihrer Buchstabengläubigkeit gehörig verachten. Und ob das mit der Apokalypse wirklich ernst gemeint ist, da hegen sie ihre Zweifel – wiederum im Gegensatz zu ihren Bible-Belt-Geschwistern, die fest daran glauben, dass sie zu Lebzeiten die Wiederkehr ihres Herrn erleben werden. Weshalb sie überzeugte Anti-Ökologen sind. Natur retten, obgleich der Messias diese am Ende zu Hackfleisch machen wird? Das halten sie für europäische Blasphemie, weshalb die deutschen Grünen für sie Ausgeburten des Teufels sind. Diese wiederum dämmern in seliger Trance dahin, sehen und merken nicht, dass ihr grünes Projekt wegen mangelnder Bibelfestigkeit auf Sand gebaut ist. „Schöpfung bewahren“ ist für sie der Inbegriff eines „aufgeklärten“ Glaubens.

Der tiefste Grund aber der deutschen Geistesabwesenheit ist ihr Glauben an die unbegrenzte Deutungsfähigkeit – sprich Verfälschung – ihrer Schriften. Sie verehren Luther und merken nicht, dass sie sein wichtigstes Prinzip – „das Wort, sie sollen lassen stahn und kein Dank dafür haben“ – längst verraten haben. Und dies seit der Romantik, die das Bibeldeuten der Willkür der Geistbegabten übergab.

Die lutherische Orthodoxie hatte sich noch mit streitbaren Bibelzitaten das Leben schwer gemacht. Wer nicht bibelfest war, konnte über die Reinheit und Richtigkeit des Glaubens nicht mitreden. Der Umschwung begann bei den gefühlsseligen Pietisten, den Vorläufern der Romantik, denen es auf die Ergüsse eines empfindsamen Herzens ankam, nicht auf die Kopfwahrheiten der alles besser wissenden Kanzelredner und Gelehrten.

Durch humanisierende Deutung konnten zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: man konnte sich vom grässlichen Urtext lösen, ohne den Text als unfehlbares Wort Gottes aufzugeben.

Anstatt den eigenen humanisierten Glauben auf eigene Verantwortung und in eigenem Namen zu entwickeln, zwangen die Willkürdeuter kritische Lösung und autoritäre Bindung zur widerspenstigen Einheit. Hegels Dialektik war die philosophische Frucht dieser „Methode des verlorenen Sohns“, einerseits das Weite zu suchen, andererseits doch wieder beim himmlischen Vater unterzuschlupfen. Dieser falsche Kompromiss zwischen Ja und Nein, dieses methodische Jein, vergiftet das Bewusstsein der Gläubigen bis heute.

Der Schweizer Hermann Rorschach entwickelte im letzten Jahrhundert den projektiven Tintenkleckstest, um aus assoziierenden Phantasiebildern der Getesteten auf ihre psychische Verfassung zurückzuschließen. Die hermeneutischen Deutungskünste der Erlöserreligionen sind zu anarchischen Klecksographien der Frommen geworden, die sich von ihren Schriften lösen wollen, ohne sich lösen zu müssen.

Ist der Wortlaut der Schriften das alles entscheidende Übel der Religion – oder die frei projizierende Interpretation, die dem Wort eine humane Deutung unterjubeln soll: das ist hier die Frage.

Um die Illusion der Deutungsfreiheit bei sklavischer Ergebenheit unter das Wort nicht zu verlieren, haben sich Christen und Muslime entschlossen, die Grundlage des rationalen Denkens aufzugeben: dass X immer X und niemals Y sein kann.

Die griechische Philosophie hatte die Suche nach der Wahrheit auf der Eindeutigkeit und Unmissverständlichkeit der Begriffe aufgebaut. Was ist Tugend? Was Glück oder Freundschaft? Wie kann man den Kosmos erkennen? Einen Dialog führen hieß, gemeinsam die biografischen Ursachen der Meinungsverschiedenheiten zu erforschen – um einen möglichen Konsens zu erzielen.

In allen Dingen, die sich auf ästhetischen Geschmack und private Lebensführung bezogen, konnte man unterschiedliche Wahrheiten zulassen. Der Pluralismus aber zeigte dort seine Grenze, wo es um politische Grundprinzipien ging, die das Leben der Gemeinschaft bestimmten. Hier musste man sich einigen – oder die Demokratie spaltete sich und fiel fremden Mächten zum Opfer.

Ein demokratischer Disput beruht auf dem Versuch, die Ursachen des Trennenden zu erforschen, um die Kluft zwischen den Menschen zu überwinden. Philosophische Wahrheitssuche und demokratische Volksabstimmung gehören unlösbar zusammen.  

Die theologische Hermeneutik der Neuzeit zerstörte die Symbiose aus theoretischer Eindeutigkeit und demokratischer Disputationskunst. Kein Zufall, dass mit der Deutungswillkür der Romantik die Deutschen allen Demokratisierungsversuchen eine Absage erteilten. Wie der Schöpfer in unbegrenzter Freiheit über der Welt schwebt, schweben die Theologen haltlos über den trüben Wassern ihrer possierlichen Einfälle. An der wörtlichen Auslegung entscheidet sich alles, wie die muslimische Koranexpertin Lamya Kaddor in BILD richtig bemerkte. (Allerdings hält Kaddor die wörtliche Auslegung für falsch.)

Wer das Wort zu einem beliebigen Tintenklecks, zu einer unbegrenzten Projektion verfälschen kann, unterminiert die Grundlagen einer rationalen, diskursfähigen Gesellschaft. Ein chinesischer Weiser brachte es wunderbar auf den Begriff:

„Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgend etwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.“ (Konfuzius)

Man stelle sich vor, das BGB, das Bürgerliche Gesetzbuch, die Texte der Philosophen, die Sprache der Wissenschaftler, die Kommentare der Gazetten dürften ad libitum gedeutet werden wie die Heiligen Texte – der Kollaps der Moderne wäre noch heute fällig. Warum sollen Religionstexte Sonderrechte genießen? Vor der Vernunft sind alle Texte gleich: X ist X und kein Y.

Es war die Umkehrung aller rationalen Werte, als die biblischen Schriftsteller gegen die logische Gradlinigkeit und Folgerichtigkeit der Griechen den Grundsatz aufstellten: der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.

Wie die Christen in der Moral regellose Antinomie forderten, so forderten sie in der Auslegung der Schrift projektive Unendlichkeit. Gegen die stählerne Logik der Hellenen schien nur ein Kraut gewachsen: das projektive Wort, das sich wie ein Kobold in unendlich viele Wörter verzaubern konnte. Wie Brot und Wein sich wunderbarerweise von materiellen Fesseln lösen und in göttliche Substanzen verwandeln können, sollen eindeutige Buchstaben sich in alle Begriffe dieser Welt umwandeln können. Solche überirdische Deutung ist wie Schöpfung aus dem Nichts – ins Nichts.

Die Sprachenverwirrung der Menschen beim Bau des babylonischen Turms, von Gott zur Beherrschung der Völker listig erdacht, wäre zum unüberwindbaren Schicksal der Menschheit geworden. Die Fähigkeit der Philosophen, durch gemeinsames Nachdenken die Gräben individueller Meinungsverschiedenheiten zu überwinden, wäre für immer zum Scheitern verurteilt. Gottes divide et impera hätte den endgültigen Sieg über die Menschen davongetragen.

In Athen wurde die Wahrheitssuche der Philosophen von rhetorischen Künsten der Sophisten hintertrieben. Diese Rabulisten waren die Vorgänger der heutigen Verfälschungsartisten. „Die schwächere Seite zur stärkeren zu machen“ und vice versa: das war die Methode der Sophisten, um ihre amoralische Redekunst teuer an den Mann zu bringen.

Warum können die Deutschen keine Bücher mehr lesen? Weil man ihnen beibrachte, dass man die Bibel nicht wörtlich nehmen darf. Seitdem sind sie an ihrer Intelligenz irre geworden. Noch immer glauben sie an die höhere Weisheit der Eliten und Popen.

Mit dem Motto: das Wort, sie sollen lassen stahn, wollte Luther die heilige Schrift der Deutungshoheit der Papisten entwinden und dem Verstand der Laien übergeben. Doch dieser Emanzipationsakt wäre nur aussichtsreich gewesen, wenn Luther die Vernunft der Menschen nicht als sündige Hure verfemt hätte.

Kants „sapere aude“ war die gradlinige Fortsetzung der Devise: das Wort, sie sollen lassen stahn. Luther verriet seine reformatorische Intention, als er die menschliche Vernunft als Teufelswerk verdammte. Kant wurde von den Deutschen nie ernst genommen. Hegel nannte sich einen bekennenden Lutheraner.

Luthers Sieg über Kant entschied über die Höllenfahrt der Deutschen im Dritten Reich.